Liebe geht durch alle Zeiten - Rubinrot / Saphirblau / Smaragdgrün

von: Kerstin Gier

Arena Verlag, 2013

ISBN: 9783401802725 , 1248 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 29,99 EUR

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Liebe geht durch alle Zeiten - Rubinrot / Saphirblau / Smaragdgrün


 

2.

Leslie nannte unser Haus »einen vornehmen Palast« wegen der vielen Zimmer, Gemälde, Holzvertäfelungen und Antiquitäten. Sie vermutete hinter jeder Wand einen Geheimgang und in jedem Schrank mindestens ein Geheimfach. Als wir noch jünger waren, gingen wir bei jedem ihrer Besuche auf Entdeckungsreise durch das Haus. Dass uns das Herumschnüffeln streng verboten worden war, machte es erst recht spannend. Wir entwickelten immer ausgebufftere Strategien, um uns nicht erwischen zu lassen. Im Laufe der Zeit hatten wir wirklich einige Geheimfächer und sogar eine Geheimtür gefunden. Sie lag im Treppenhaus hinter einem Ölgemälde, auf dem ein dicker Mann mit Bart und gezücktem Degen auf einem Pferd saß und grimmig guckte.

Bei dem grimmigen Mann handelte es sich laut Auskunft von Großtante Maddy um meinen Urururururgroßonkel Hugh und seine Fuchsstute mit Namen Fat Annie. Die Tür hinter dem Bild führte zwar nur ein paar Stufen hinab in ein Badezimmer, aber geheim war sie deshalb irgendwie trotzdem.

»Du bist ja so ein Glückspilz, dass du hier wohnen darfst!«, sagte Leslie immer.

Ich fand eher, dass Leslie ein Glückspilz war. Sie wohnte mit ihrer Mutter, ihrem Vater und einem zotteligen Hund namens Bertie in einem gemütlichen Reihenhaus in North Kensington. Da gab es keine Geheimnisse, keine unheimlichen Diener und keine nervenden Verwandten.

Früher hatten wir auch mal in so einem Haus gewohnt, meine Mum, mein Dad, meine Geschwister und ich, in einem kleinen Haus in Durham, in Nordengland. Aber dann war mein Dad gestorben. Meine Schwester war gerade ein halbes Jahr alt gewesen und Mum war mit uns nach London gezogen, wahrscheinlich weil sie sich einsam gefühlt hatte. Vielleicht war sie auch mit dem Geld nicht hingekommen.

Mum war in diesem Haus hier groß geworden, zusammen mit ihren Geschwistern Glenda und Harry. Onkel Harry lebte als Einziger nicht in London, er wohnte mit seiner Frau in Gloucestershire.

Zuerst war mir das Haus auch wie ein Palast vorgekommen, genau wie Leslie. Aber wenn man einen Palast mit einer großen Familie teilen muss, kommt er einem nach einer gewissen Zeit gar nicht mehr so groß vor. Zumal es jede Menge überflüssige Räume gab, wie den Ballsaal im Erdgeschoss, der sich über die gesamte Hausbreite erstreckte.

Hier hätte man toll skaten können, aber das war verboten. Der Raum war wunderschön mit seinen hohen Fenstern, den Stuckdecken und den Kronleuchtern, aber zu meinen Lebzeiten hatte es hier nicht einen einzigen Ball gegeben, kein großes Fest, keine Party.

Das Einzige, das im Ballsaal stattfand, waren Charlottes Tanzstunden und ihr Fechtunterricht. Die Orchesterempore, die man von der Vorhalle über die Treppe erreichen konnte, war überflüssig wie ein Kropf. Außer vielleicht für Caroline und ihre Freundinnen, die die dunklen Winkel unter den Treppen, die von hier hinauf in den ersten Stock führten, beim Versteckspielen in Beschlag nahmen.

Im ersten Stock gab es das bereits erwähnte Musikzimmer, außerdem Lady Aristas und Großtante Maddys Räume, ein Etagenbad (das mit der Geheimtür) sowie das Esszimmer, in dem sich die Familie jeden Abend um halb acht zum Essen zu versammeln hatte. Zwischen dem Esszimmer und der Küche, die genau darunterlag, gab es einen altmodischen Speisenaufzug, mit dem sich Nick und Caroline manchmal zum Spaß gegenseitig auf- und abkurbelten, obwohl es natürlich streng verboten war. Leslie und ich hatten das früher auch immer gemacht, jetzt passten wir leider nicht mehr hinein.

Im zweiten Stock lagen Mr Bernhards Wohnung, das Arbeitszimmer meines verstorbenen Großvaters – Lord Montrose – und eine riesige Bibliothek. In diesem Stockwerk hatte auch Charlotte ihr Zimmer, es ging über Eck und hatte einen Erker, mit dem Charlotte gerne angab. Ihre Mutter bewohnte einen Salon und ein Schlafzimmer mit Fenstern zur Straße hin.

Von Charlottes Vater war Tante Glenda geschieden, er lebte mit einer neuen Frau irgendwo in Kent. Deshalb gab es außer Mr Bernhard keinen Mann im Haus, es sei denn, man zählte meinen Bruder mit. Haustiere gab es auch nicht, egal wie sehr wir auch darum bettelten. Lady Arista mochte keine Tiere und Tante Glenda war allergisch gegen alles, was Fell hatte.

Meine Mum, meine Geschwister und ich wohnten im dritten Stock, direkt unter dem Dach, wo es viele schräge Wände, aber auch zwei kleine Balkone gab. Wir hatten jeder ein eigenes Zimmer und auf unser großes Bad war Charlotte neidisch, weil das Bad im zweiten Stock keine Fenster hatte, unseres aber gleich zwei. Aber ich mochte es auch deswegen in unserem Stockwerk, weil hier Mum, Nick, Caroline und ich für uns waren, was in diesem Irrenhaus manchmal ein Segen sein konnte.

Nachteil war nur, dass wir verdammt weit weg von der Küche waren, was mir wieder mal unangenehm auffiel, als ich jetzt oben ankam. Ich hätte mir wenigstens einen Apfel mitnehmen sollen. So musste ich mich mit den Butterkeksen aus dem Vorrat zufriedengeben, den meine Mum im Schrank angelegt hatte.

Aus lauter Angst, das Schwindelgefühl könnte zurückkehren, aß ich elf Butterkekse hintereinander. Ich zog meine Schuhe und die Jacke aus, ließ mich auf das Sofa im Nähzimmer plumpsen und streckte mich lang aus.

Heute war irgendwie alles seltsam. Ich meine, noch seltsamer als sonst.

Es war erst zwei Uhr. Bis ich Leslie anrufen und meine Probleme mit ihr erörtern konnte, dauerte es noch mindestens zweieinhalb Stunden. Auch meine Geschwister würden nicht vor vier Uhr aus der Schule kommen und meine Mum machte immer erst gegen fünf bei der Arbeit Schluss. Normalerweise liebte ich es, allein in der Wohnung zu sein. Ich konnte in Ruhe ein Bad nehmen, ohne dass jemand an die Tür klopfte, weil er dringend auf die Toilette musste. Ich konnte die Musik aufdrehen und laut mitsingen, ohne dass jemand lachte. Und ich konnte im Fernsehen anschauen, was ich wollte, ohne dass jemand »aber jetzt kommt gleich Sponge Bob« quengelte.

Aber heute hatte ich zu alldem keine Lust. Nicht mal nach einem Schläfchen war mir zumute. Im Gegenteil, das Sofa – sonst ein Platz unübertroffener Geborgenheit – kam mir vor wie ein wackliges Floß in einem reißenden Fluss. Ich hatte Angst, es könne mit mir davonschwimmen, sobald ich die Augen schließen würde.

Um auf andere Gedanken zu kommen, stand ich auf und fing an, das Nähzimmer ein bisschen aufzuräumen. Es war so etwas wie unser inoffizielles Wohnzimmer, denn glücklicherweise nähten weder die Tanten noch meine Großmutter, weshalb sie höchst selten in den dritten Stock hinaufkamen. Es gab auch keine Nähmaschine hier, dafür eine enge Stiege, die hinauf aufs Dach führte. Die Stiege war nur für den Schornsteinfeger bestimmt, aber Leslie und ich hatten das Dach zu einem unserer Lieblingsplätze erkoren. Man hatte einen wunderbaren Ausblick von da oben und es gab keinen besseren Ort für Mädchengespräche. (Zum Beispiel über Jungs und dass wir keine kannten, in die es sich zu verlieben lohnte.)

Natürlich war es ein bisschen gefährlich, weil es kein Geländer gab, nur eine kniehohe Firstverzierung aus galvanisiertem Eisen. Aber man musste ja da auch nicht gerade Weitsprung üben oder bis an den Abgrund tanzen. Der Schlüssel, der zu der Tür auf dem Dach gehörte, lag in einer Zuckerdose mit Rosenmuster im Schrank. In meiner Familie wusste niemand, dass ich das Versteck kannte, sonst wäre sicher die Hölle los gewesen. Deshalb passte ich immer sehr auf, dass niemand mitbekam, wenn ich mich aufs Dach schlich. Man konnte sich dort auch sonnen, picknicken oder sich einfach nur verstecken, wenn man mal seine Ruhe haben wollte. Was ich wie gesagt oft wollte, nur gerade jetzt nicht.

Ich faltete unsere Wolldecken zusammen, fegte Kekskrümel vom Sofa, klopfte Kissen in Form und räumte herumfliegende Schachfiguren zurück in ihre Schachtel. Ich goss sogar die Azalee, die in einem Topf auf dem Sekretär in der Ecke stand, und wischte mit einem feuchten Tuch über den Couchtisch. Dann sah ich mich unschlüssig in dem nun tadellos aufgeräumten Zimmer um. Es waren gerade mal zehn Minuten vergangen und ich sehnte mich noch mehr nach Gesellschaft als vorher.

Ob Charlotte unten im Musikzimmer wieder schwindelig war? Was passierte eigentlich, wenn man vom ersten Stock eines Hauses im Mayfair des 21. Jahrhunderts ins Mayfair des, sagen wir mal, 15. Jahrhunderts sprang, als es an diesem Ort noch gar keine oder nur wenige Häuser gegeben hatte? Landete man dann in der Luft und plumpste sieben Meter tief auf die Erde? In einen Ameisenhaufen vielleicht? Arme Charlotte. Aber vielleicht lehrte man sie ja in ihrem mysteriösen Mysterienunterricht das Fliegen.

Apropos Mysterien: Mit einem Mal fiel mir etwas ein, womit ich mich ablenken konnte. Ich ging in Mums Zimmer und schaute hinunter auf die Straße. Im Hauseingang von Nummer 18 stand immer noch der schwarze Mann. Ich konnte seine Beine und einen Teil seines Trenchcoats sehen. So tief wie heute waren mir die drei Stockwerke noch nie vorgekommen. Spaßeshalber rechnete ich aus, wie weit es von hier oben bis zum Erdboden war.

Konnte man einen Sturz aus vierzehn Metern Höhe überhaupt überleben? Na, vielleicht, wenn man Glück hatte und in sumpfigem Marschland landete. Angeblich war ganz London mal sumpfiges Marschland gewesen, sagte...