Proxima - Roman

von: Stephen Baxter

Heyne, 2014

ISBN: 9783641150815 , 672 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Proxima - Roman


 

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Ich bin wieder auf der Erde.

Das war Yuris allererster Gedanke, als er in einem Bett erwachte: einem harten Bett mit fester Matratze und leichten Laken und Decken, aber dennoch in einem richtigen Bett, nicht in der vierstöckigen Etagenkoje eines Schlafraums in einer Kuppel auf dem Mars.

Er schlug die Augen auf und blinzelte ins helle Licht von Neonröhren an den Wänden. Eine sauber aussehende Decke. Menschen mit grünen Kitteln, Hygienehauben und Mundschutzmasken, das leise Murmeln kompetenter Stimmen, piepsende und zirpende Maschinen. Andere Betten, andere Patienten. Das Ambiente eines typischen Krankenhauses. Er sah das alles am Rand seines Gesichtsfelds; bisher hatte er noch nicht einmal den Kopf gedreht, so schwer fühlte er sich.

Das Letzte, woran er sich erinnerte, war die Nadel, die Friedenshüter Tollemache, dieser Drecksack, ihm in den Hals gerammt hatte. Er hatte keinen blassen Schimmer, wie lange er bewusstlos gewesen war – Monate, wenn man ihn zur Erde zurückgebracht hatte –, und er wusste von seiner Erholungsphase nach den Jahrzehnten im Kälteschlaf, dass es ratsam war, beim Aufwachen Vorsicht walten zu lassen.

Allerdings war ihm klar, dass er sich auf der Erde befand. Er spürte es in den Knochen. Yuri wurde im Jahr 2067, vor fast hundert Jahren, auf der Erde geboren und hatte die heldenhafte Expansion der Menschheit ins Sonnensystem in einem Kryo-Tank verschlafen. Aufgewacht war er in einer Kolonie, die auf dem Mars lag, wie er im Lauf der Zeit herausfand. Doch nun, nach einem weiteren Zwangsschlaf, sah die Sache wieder anders aus. Er wagte es, die Hand zu heben. Die Muskeln in seinem Arm schmerzten schon allein von dieser Bewegung; er spürte, wie Schläuche an ihm zerrten, und die Hand fiel wieder herab und landete mit einem befriedigend schweren Aufschlag. Die herrliche Erdschwerkraft, nicht diese Weder-das-eine-noch-das-andere-Schweberei auf dem Mars. Es konnte nur die Erde sein, seine Heimat.

Eine Million Fragen schwirrten ihm durch den Kopf. Zum Beispiel: Wo auf der Erde? Weshalb hatte man ihn zurückgeschickt, statt ihn auf dem Mars verrotten zu lassen? Und in welcher Einrichtung, was für einem Gefängnis befand er sich diesmal? Es machte ihm jedoch nichts aus, dass er die Antworten nicht kannte. Seit er auf dem Mars erwacht war, hatte er überhaupt nur sehr wenige Antworten bekommen, und außerdem war es ihm nicht wichtig genug gewesen, um Fragen zu stellen. Ganz egal, wie sehr sich hier unten alles verändert hatte, seit er in den Kryo-Tank gestiegen war: Der schlimmste Käfig auf der Erde war besser als die tollste Luxusbude, die es auf dem Mars geben mochte. Denn auf der Erde konnte man jederzeit die Tür aufmachen, die Luft atmen, selbst wenn es eine überhitzte, vergiftete Suppe war, und einfach losmarschieren, weiter und immer weiter …

Er schloss die Augen.

»Hopp, hopp, raus aus den Federn, Schlafmütze.«

Ein Gesicht zeichnete sich über ihm ab, eine schwarze Frau in einem grünen Kittel mit einem Namensschild, das er nicht lesen konnte, das Haar unter einer grünen Stoffhaube verborgen. Sie trug keinen Mundschutz, und sie lächelte ihn an. Sie sah müde aus.

Er versuchte zu sprechen. Sein Mund war trocken, und die Zunge klebte schmerzhaft am Gaumen. »Ich … ich …«

»Hier. Trink einen Schluck Wasser.« Sie hielt ihm ein Nuckelfläschchen hin, wie das eines Babys. Das Wasser war warm und schal. Es schien ihr Mühe zu bereiten, die Flasche in die Höhe zu halten, als wäre sie selber schwach. »Weißt du, wie du heißt?« Sie warf einen Blick aufs Fußende seines Bettes. »Yuri Eden. Das ist alles, was wir über dich haben. Keine näheren Angehörigen. Stimmt das?«

Er zuckte nur die Achseln, eine vorsichtige Bewegung, flach auf dem Rücken liegend.

Sie musterte ihn von oben bis unten, schaute ihm in die Augen, warf einen prüfenden Blick auf einen Monitor neben dem Bett. »Ich bin Dr. Poinar. Ich gehöre zur IRF und habe einen Mannschaftsrang, aber du kannst mich mit ›Doktor‹ anreden. Du hast dir reichlich Zeit gelassen, aus dem künstlichen Koma aufzuwachen, in das die Friedenshüter dich versetzt haben. Na ja, so hat es mit dem Start jedenfalls besser geklappt. Tatsächlich hat mehr als die Hälfte der Crew alles verschlafen. Mal sehen, ob wir uns aufsetzen können. Okay?« Sie drückte auf einen Knopf.

Mit dem Summen von Servomotoren klappte der obere Teil des Bettes langsam hoch, richtete seinen Oberkörper auf, beugte ihn in der Taille. Er fühlte sich schwach, und sein Kopf war wie eine Wanne, in der Flüssigkeit schwappte. Die Station um ihn herum färbte sich grau. Er spürte ein Kribbeln im rechten Arm, irgendeine Flüssigkeit wurde in ihn hineingepumpt.

Dr. Poinar musterte ihn aufmerksam. »Alles in Ordnung? Gut. Dann kommt jetzt die Fünf-Sekunden-Info – später gibt es noch einen richtigen Einführungsprozess, den jeder phasenweise absolviert, zuerst das theoretische Zeug und der Zugriff auf die Datenbanken, während man wieder zu Kräften kommt, dann körperliche Arbeit, einschließlich der anteiligen Wartungsdienste.« Sie warf einen kurzen Blick auf sein Datenblatt. »Mehr davon, wenn du in einem Strafkommando landest, und angesichts deiner Akte dürfte das mehr als wahrscheinlich sein. Aber das Wichtigste ist, dass du erst mal wieder auf die Beine kommst. Dein Körper muss sich neu auf die volle Schwerkraft einstellen. Die Nervenrezeptoren, die deine Haltung und jede Art von Bewegung regeln, sind im Moment total durcheinander. Dein Innenohr weiß nicht, was, zum Teufel, hier los ist. Dein Flüssigkeitshaushalt ist komplett aus den Fugen, und du wirst noch eine Weile unter den Symptomen von niedrigem Blutdruck leiden. Hier, trink das.«

Sie hielt ihm eine weitere Flasche hin, und diesmal nahm er sie. Es war eine salzige Flüssigkeit; er spuckte unwillkürlich aus.

»Du bekommst eine Reihe von Injektionen, um den Kalziumverlust in deinen Knochen auszugleichen, und noch ein paar andere Dinge. Und Physiotherapie zum Aufbau deiner Muskelkraft und Knochenmasse. Die darfst du auf keinen Fall auslassen. Oh, und dein Immunsystem wird gelitten haben. Jedes Virus, das jemand in diesen Zylinder mitgebracht hat, ist wie verrückt umgegangen; damit wirst du noch ein paar Wochen Spaß haben. Später folgen dann weitere medizinische Programme – Voradaptation für Prox, diverse präventive Eingriffe.« In ihrem Grinsen lag ein Hauch von Grausamkeit. »Wie geht’s deinen Zähnen? Aber die kommen erst in einem Jahr oder später dran.«

Prox?

Nicht weit entfernt begann ein Baby zu schreien.

»Irgendwelche Fragen? Ach, bestimmt jede Menge. Benutze einfach deinen gesunden Menschenverstand. Jetzt bleib erst mal so sitzen, bis das Schwindelgefühl abgeklungen ist. Leg dich nicht wieder hin. Ich komme später noch mal vorbei und schaue, ob du schon feste Nahrung zu dir nehmen kannst. Und achte auf den Katheter, die Schwester wird ihn später entfernen. Lass es ruhig angehen, Yuri Eden.« Sie verschwand aus seinem Blickfeld.

Dieses Baby schrie noch immer, ganz in der Nähe zu seiner Linken.

Sehr vorsichtig drehte er den Kopf in diese Richtung; wieder wurde alles grau, und er hörte ein Klingeln in den Ohren, aber er wartete, bis es vorbeiging. Er sah weitere Betten, die sich in einem Raum mit einem Durchmesser von höchstens sieben, acht Metern drängten – kleiner, als er erwartet hatte. Einige der Betten waren von Trennwänden aus Stoffbahnen umgeben. Weiteres Krankenhauspersonal und ein paar Servoroboter glitten durch die schmalen Lücken zwischen den Betten. Von der Decke baumelten Geräte, darunter auch so etwas wie ein ferngesteuertes Operationsbesteck, lauter Manipulatorarme, Laserdüsen und Messer.

In Yuris linkem Nachbarbett lag eine junge Frau, eigentlich eher ein Mädchen, blass, blondes Haar, zerbrechliche Statur. Ausgesprochen hübsch. Sie hielt ein Baby in den Armen, ein Bündel von Decken; während sie es wiegte, ebbte das Schreien allmählich ab. Sie sah, dass Yuri zu ihr herüberschaute. Er wandte den Kopf ab, und wieder drehte sich ihm alles vor Augen. In Eden hatte er sich angewöhnt, Blickkontakt zu vermeiden, den Leuten ihre privaten Rückzugsräume zu lassen.

»Ist schon gut.« Sie hatte einen weichen, vielleicht osteuropäischen Akzent.

Er sah wieder zu ihr hin. »Ich wollte dich nicht anstarren.« Seine Stimme war rau und heiser.

»Ach, der kleine Cole hat geschrien und jeden gestört.« Sie lächelte. »Tut mir leid, wenn er dich aufgeweckt hat.«

Das verwirrte ihn. Dann merkte er, dass sie scherzte. Er versuchte zu lächeln, hatte aber keine Ahnung, was für eine Grimasse sein taubes Gesicht zog.

»Ich heiße Anna Vigil.«

»Ich bin Yuri.«

»Yuri Eden. Hat die Ärztin gesagt.« Der kleine Cole zappelte und gurgelte leise. »Ihm geht’s gut. Ich bin diejenige, die herkommen musste. Ein Schnupfenvirus hat mich umgehauen, ich bin noch schwach vom Stillen. Natürlich sollten wir gar nicht hier sein. Ich war hochschwanger, als die Aushebung stattfand. Irgendwas ist da schiefgelaufen. Cole ist das einzige Kind hier drin.«

»Cole, hm? Hübscher...