Wild Cards - Das Spiel der Spiele - Roman

von: George R.R. Martin

Penhaligon, 2014

ISBN: 9783641124687 , 544 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 8,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Wild Cards - Das Spiel der Spiele - Roman


 

Die dunkle Seite des Mondes

Melinda M. Snodgrass

Irgendwo rechts von ihr fielen Schüsse.

Überall sonst auf der Welt hätten die Leute bei diesem Geräusch die Flucht ergriffen, aber hier in Bagdad war es nur eine von vielen Stimmen in der Symphonie der Festlichkeiten. Das Rattern eines Maschinengewehrs bildete einen schrillen Kontrapunkt zum dröhnenden Bass der Raketen. Goldene Funken wurden an den Nachthimmel gesprüht und umgaben die nadelspitzen Minarette wie Heiligenscheine. Wie in Zeitlupe schienen sie herabzuschweben. Kurz beschienen die Lichter des Feuerwerks die Gesichter in der Menschenmenge. Männer wirbelten tanzend umher, glitzernde Tränen auf den Wangen. Mit weit aufgerissenen Mündern sangen sie zum Ruhm ihres Kalifen.

Kamal Faraq Aziz, der neue ägyptische Präsident, war nach Bagdad gekommen, um sich dem Kalifen zu unterwerfen und sein Land mit den Nationen Syriens, Palästinas, Iraks, Jordaniens und Saudi-Arabiens zum wiedererstandenen Kalifat zu vereinigen. In Kairo, Bagdad, Damaskus, Ostjerusalem und Mekka feierten die Massen. In Libanon, Katar und Kuwait erzitterten die Führer der wenigen verbliebenen souveränen Einzelstaaten Arabiens.

Lilith zog ihren Shemag über Nase und Mund. Zum einen, um die Tatsache zu verschleiern, dass sie eine Frau war, aber auch zum Schutz gegen den von tausend trampelnden Füßen aufgewirbelten Staub, der sie zu ersticken drohte. Nur im Irak konnte man den feuchten, stechenden Geruch von Wasser und Schilf in der Nase haben, dabei auf Sand beißen und nächtliche Temperaturen von über fünfunddreißig Grad erleiden. Das Gewand klebte ihr am Leib, und sie spürte, wie ihr der Schweiß unangenehm die Wirbelsäule hinunterlief. Als Saddam noch im Palast lebte, hatten sich die Felder um das Gebäude in üppige Gärten verwandelt. Doch der Kalif hatte beschlossen, den irakischen Bauern kein Wasser wegzunehmen, und ließ die Gärten verdorren.

Von ihrem Aussichtspunkt nahe der Gartenmauer hatte Lilith einen guten Blick auf das massige Palastgebäude. Das Feuerwerk tauchte die weißen Marmormauern in ein Kaleidoskop aus Farben. Ein Mann in weißem Gewand und einer Kufiya auf dem Kopf trat auf einen Balkon im dritten Stock. Er ging hin und her, legte die Hand auf die gemeißelte Balustrade, sah in die Menschenmenge hinunter, ging erneut hin und her und verschwand schließlich wieder im Haus.

Idiot, dachte Lilith. So erwischt dich noch ein Querschläger.

Sie wartete, bis besonders spektakuläre Feuerwerkskörper den Nachthimmel erleuchteten und alle mit täppischem Staunen die Köpfe in den Nacken warfen. Dann schlang sie die Falten ihrer Dishdasha und Dschallabija um sich und spürte dieses seltsame innerliche Reißen, während sich der Staub und Beton unter ihren Sandalen in weniger Staub auf poliertem Marmor verwandelte.

Prinz Siraj starrte sie mit offenem Mund an. Er sah gut aus, doch das glatte runde Gesicht und der Bauch, der sich unter dem Gewand wölbte, zeigten, dass ein reichliches Nahrungsangebot für einen Beduinen auch gewisse Risiken barg. Und da half es nicht, dass die königliche Familie Jordaniens schon seit vier Generationen nicht mehr in der Wüste lebte. Zweitausend Jahre spärliche Kost steckten ihnen tief in den Knochen, und bei jeder Mahlzeit flüsterte ihnen eine Stimme ins Ohr, dass dies auf lange, lange Zeit der letzte Bissen sein könnte.

»Hat …« Er hustete und fing noch einmal von vorn an. »Hat Noel Sie geschickt?«

»Ja, zum Glück für Sie.« Lilith trat ins Zimmer. Eine Brise vom Tigris bauschte den weißen Stoff des Moskitonetzes über dem Bett. Der Boden war mit einem aufwendigen Mosaik aus vielen bunten Steinen bedeckt. Es zeigte König Nebukadnezar beim Jagen von Wasservögeln im Schilf. Klar, Saddam war ja auch ein weltlicher Herrscher gewesen. Lilith fragte sich, wie lange es noch dauern würde, bis die islamistischen Tugendwächter des Kalifen dieses Kunstwerk zerstörten.

»Ich habe Kleider für Sie.« Siraj griff nach dem schwarzen Stoff, der auf dem Bett lag, und drückte ihr Abaya und Burka in die Hand.

Sie zog den Shemag vom Kopf, und ihr hüftlanges schwarzes Haar fiel herab. Siraj starrte sie an. Mit ihren knapp eins achtzig überragte Lilith den Prinzen um einige Zentimeter. Sorgen machte sie sich nur wegen ihrer silbernen Augen, dem Vermächtnis der Wild Card, doch zum Glück schrieb der Islam den Frauen ja vor, stets züchtig den Blick zu senken.

»Noel sagte, Sie seien zusammen in die Schule gegangen?«, fragte sie, während sie das zeltartige Kleidungsstück über ihren Körper stülpte. Mit einer ihrer Klingen schnitt sie unauffällige Öffnungen in den Stoff, durch die sie hindurchgreifen konnte.

»Ja. In Cambridge. Wir waren dicke Freunde. Er liebt unsere Kultur.« Die Sätze brachen wie hektische kleine Geräuschexplosionen aus ihm hervor.

»Würde ein Freund Sie in eine solche Situation bringen?«, fragte Lilith. Es irritierte sie, durch das Stoffgitter schauen zu müssen, und der Schleier engte ihr Sichtfeld ein. Unter den Kleiderschichten fühlte sie sich dennoch nackt.

»Ich kann eine Brücke sein«, sagte der Prinz, während er im Zimmer auf und ab ging. Ständig verschränkte er die Hände und löste sie wieder. »Zwischen unseren beiden Welten.«

»Es gibt nur eine Welt«, sagte Lilith und fügte dann hinzu: »Haben Sie die Karte?«

»Ja.« Er reichte ihr ein Stück Papier, und als sich ihre Finger berührten, zog er hastig die Hand zurück.

Das wunderte Lilith nun doch. Er war in England ausgebildet worden und hatte lange im Westen gelebt. Vielleicht war er nur deshalb so nervös, weil er sich in der Nähe des Kalifen befand. Sie sah auf das Blatt Papier hinab. Darauf war so etwas wie ein Wabenmuster abgebildet. »Ein Tipp wäre ganz hilfreich. Sie wissen ja«, sagte Lilith mit übermäßig betontem britischen Akzent, »dass hier lauter durchgeknallte religiöse Spinner schlafen.«

Siraj errötete. »Er wechselt das Zimmer … ziemlich oft.«

»Tja, das ist … ärgerlich.«

»Er leidet zunehmend an Verfolgungswahn.«

»Verständlich. Wenn man bedenkt, dass seine eigene Schwester ihn fast ermordet hätte.« Sie grinste ihn breit an, bevor ihr bewusst wurde, dass er ihr Gesicht nicht sehen konnte. Was für eine alberne Kultur.

Als hätte sie kein Wort gesagt, fuhr Siraj fort: »Obwohl ich seinem Beraterstab angehöre, habe ich den Eindruck, dass er … nun ja, ich glaube, dass er kein Vertrauen mehr zu mir hat. Angefangen hat es, als der Rechtschaffene Dschinn auftauchte. Der Dschinn hat etwas gegen westliche Erziehung. Er glaubt, dass sie uns befleckt.« Er rieb sich immer hektischer die Hände. »Sie dürfen nicht versagen.«

»Beruhigen Sie sich. Heute haben Sie es mit einem Profi zu tun.«

Der Prinz sah sich um, als erwartete er, dass die Zimmerwände einstürzen und ihn begraben würden. »Es ist vielleicht nicht so einfach, wie Sie glauben. Der Dschinn begleitet den Kalifen überallhin. Er ist unheimlich stark und kann sich in einen Riesen verwandeln.«

»Dann trifft es sich ja gut, dass die Räume hier klein sind.«

Ihre flapsige Antwort gefiel Siraj nicht im Mindesten. »Da der Dschinn Sie nicht zu beeindrucken scheint, sollten Sie daran denken, dass da auch noch Bahir ist.«

»Über Bahir bin ich mir durchaus im Klaren.«

Doch auch diese Erwiderung brachte seinen nervösen Redefluss nicht zum Stocken. »Bahir kann teleportieren. Manch einer seiner Feinde hat das zu seinem Leidwesen festgestellt, als Bahir plötzlich mit seinem Krummsäbel hinter ihm stand. Doch dann ist es schon zu spät, um den Kopf noch zu retten.«

»Ein bisschen theatralisch, finden Sie nicht? Eine Knarre wäre leichter zu handhaben und sicherer.« Deutlich spürte sie die Pistole, die sie an der Innenseite ihres Schenkels festgeschnallt hatte.

»Na schön, ja, das ist ein Klischee, aber es ist auch symbolisch. Die einfachen Leute finden so etwas großartig.«

»Dieser ganze Symbolismus ist der Grund, weshalb die Araber verachtet und nicht ernst genommen werden.« Lilith blickte noch einmal auf die Karte. »Ich kann nicht einfach in irgendwelche Zimmer teleportieren und hoffen, den Kalifen dort zu finden. Haben Sie eine Ahnung, wo er sein könnte?«

»Im Moment ist er beim Bankett«, erwiderte der Prinz. »Mit den Ägyptern. Mit Aziz.«

Kamal Faraq Aziz. Ägyptens neuer Mann fürs Grobe war an die Macht gekommen, weil die Amerikaner durch ihre Einmischungen eine freie Wahl erzwungen hatten. Bei dieser Wahl wurden die Säkularen aus der Regierung gefegt, und die Fundamentalisten des Ichlas al-Din kamen an die Macht. »Ist es ein Problem, dass Sie da nicht anwesend sind?«

Siraj schüttelte den Kopf. »Ich habe Brechwurzelsirup genommen. Niemand bezweifelt, dass mir übel ist.«

»Ah, Brechwurzelsirup. Sehr beliebt bei britischen Schulknaben.« Lilith ging ein paar Schritte hin und her. »Nun, ich kann ja nicht mitten in die Party reinplatzen.« Die Falten ihrer Burka wanden sich um ihre Beine. »Ist der Kalif ein typischer Mann? Wird er bis zum Morgengrauen bei den Jungs bleiben?«

»Er ist ein seriöser Mensch, der sich nichts aus Frivolitäten macht.« Siraj hielt inne.

Lilith entging sein nachdenklicher Gesichtsausdruck nicht. »Was?«

»Er hängt sehr an seiner ersten Frau, Nashwa. Oft feiert er seine Erfolge mit ihr.«

»Wie gut, dass ich ein Mädchen bin.«

»Was wollen Sie damit sagen?«

»Dass ich schon immer mal einen Harem von innen sehen...