Ich werde immer um Euch kämpfen - Wie mein Exmann mir meine Kinder wegnahm

von: Berit Kessler

Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2014

ISBN: 9783838758527 , 341 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 6,99 EUR

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Ich werde immer um Euch kämpfen - Wie mein Exmann mir meine Kinder wegnahm


 

Kapitel 1


Der Aufbruch


Es war im August 1996, als ich in Jena meinen Rucksack packte. Ich hatte mein Abiturzeugnis frisch in der Tasche und fühlte mich wundervoll frei. Endlich konnte ich das tun, wovon ich immer geträumt hatte: reisen. Und obwohl ich das Flugticket schon im Oktober 1995, also bereits zehn Monate zuvor, gekauft hatte, wusste keine Menschenseele etwas von meinen Plänen.

Dass ich mich dazu entschied, als Volontärin in einem Kibbuz im Süden Israels zu arbeiten, hatte verschiedene Gründe. Es war nicht so, dass Israel auf der Liste meiner Wunschländer ganz oben gestanden hätte. Doch mit meinen achtzehn Jahren war ich für die meisten Auslandsprogramme in fernen Ländern noch zu jung. Und Europa war mir zu eng, zu klein.

Ich war fasziniert von den Bildern, die ich von den Landschaften der Judäischen Wüste und dem Negev gesehen hatte. Ein Gedi hieß die Oase in der Nähe des Toten Meeres, wo es heiße Mineralquellen gab, einen botanischen Garten, bizarre Felsformationen mit unerschlossenen Höhlen und einen spektakulären Wasserfall. Dieser Ort galt damals als Geheimtipp für einen etwas anderen Tourismus in dieser herben und doch reizvollen Landschaft, und ein Kibbuz, der dort eine Hotelanlage betrieb, suchte Volontäre.

Ich wollte unbedingt irgendwo hin, wo es ganz anders aussah als zu Hause in Deutschland. Und das, was ich auf den Prospekten sah, war ungefähr das Gegenteil von Thüringen: dramatische Steinwüsten versus beruhigend grüne Felder. Und so kam es, dass ich mich für Israel entschied. Wie lange ich bleiben wollte, das konnte ich nach den ersten beiden Monaten vor Ort entscheiden. Man würde sehen.

Frei zu sein, das bedeutete mir seit meiner frühesten Kindheit alles. Denn wir waren nicht frei in der Deutschen Demokratischen Republik. Für mich stand schon immer fest, dass ich meinen Ausreiseantrag stellen würde, sobald ich achtzehn wäre. Mir war damals klar, welche Konsequenzen dies für mich haben würde: Dass ich vier Jahre auf die Ausreise würde warten müssen, während derer ich vielen Schikanen ausgesetzt wäre. Ich konnte mir aber nicht vorstellen, mein Leben in einem Land zu verbringen, das ich nicht verlassen durfte.

Einen Ausreiseantrag musste ich nicht mehr stellen, die Wende kam mir glücklicherweise zuvor. Ich werde nie vergessen, wie mir damals am Morgen des 10. November 1989 meine Mutter sagte: »Wir können jetzt überall hinfahren. Heute Nacht ist die Mauer gefallen.«

Ich weiß noch ganz genau, wie ich neben dem Sofa im Wohnzimmer stand, noch im Schlafanzug, und von einem Moment auf den anderen hellwach war.

»Lass uns gleich in den Westen fahren!«, schlug ich vor.

»Jetzt gehst du erst einmal zur Schule«, erwiderte meine Mutter, »vielleicht fahren wir am Wochenende.«

Als ich an diesem Morgen den Klassenraum betrat, hatte unsere Lehrerin das Bild von Erich Honecker bereits abgehängt. Ich beobachtete fasziniert, wie sie alle über Nacht ihre Einstellung zur DDR änderten: Meine Russischlehrerin ließ sich umschulen und unterrichtete fortan Religion. Sogenannte Staatsbürgerrechtler unterrichteten jetzt Gesellschaftskunde. Gleich am ersten Tag nach dem Mauerfall fehlte die Hälfte der Klasse, alle waren sie in den Westen gefahren. Zwei meiner Schulkameraden sah ich nie wieder – sie blieben gleich drüben.

Ich gehörte zu denen, die nicht gegangen waren. Aber nun hatte ich die Schule abgeschlossen. Nichts hielt mich mehr. Ein Jahr wollte ich mir nehmen, ehe ich zu studieren beginnen würde. Ich hatte mich für Fremdenverkehrsgeografie entschieden und in Trier bereits einen Studienplatz erhalten. Auch die Zusage für ein Zimmer in einem Studentenwohnheim war mir für meine Rückkehr sicher. Zuvor aber wollte ich alles hinter mir lassen: Jena, Thüringen, Deutschland, Europa.

Ich schloss meinen Rucksack und zog die Riemen fest. Prüfte noch mal, ob ich alle Dokumente dabeihatte: Pass, Flugticket, die Kontaktadressen. Und für die Arbeit im Kibbuz das Gesundheitszeugnis, die Papiere einer privaten Krankenversicherung. Dann war es Zeit, zu gehen.

Mein Flug ging zunächst von Leipzig nach Frankfurt, denn damals gab es noch keine Direktflüge aus Ostdeutschland nach Israel. In Frankfurt stellte sich heraus, dass mein Weiterflug nach Tel Aviv einige Stunden Verspätung hatte, und mir fielen drei junge Frauen auf, die mit ähnlich großen Rucksäcken, wie ich einen hatte, an meinem Terminal warteten.

»Fliegst du auch nach Tel Aviv?«, sprach mich eine von ihnen an.

Es stellte sich heraus, dass sie dasselbe vorhatten wie ich. Wir schlossen uns einander an, und als wir spät in der Nacht in Tel Aviv landeten, suchten wir uns gemeinsam eine Jugendherberge.

Am nächsten Morgen machten wir uns alle vier auf den Weg zum Büro der Organisation, mit der wir von Deutschland aus Kontakt geknüpft hatten. Diese Organisation vermittelte junge Menschen aus aller Welt als Volontäre an verschiedene Kibbuzim.

Ein Kibbuz ist eine typisch israelische Siedlungsform, eine Art Dorfgemeinschaft, in der jeder Kibbuznik, wie die Bewohner genannt werden, dieselben Rechte und Pflichten besitzt. Oft sind es landwirtschaftliche Kommunen, die in den ersten Jahren nach der Staatsgründung dazu dienten, unfruchtbare Gebiete zu erschließen und nutzbar zu machen. Aber auch handwerkliche oder industrielle Betriebe werden in dieser Form des Gemeinschaftslebens unterhalten. In Ein Gedi dagegen war es eine Hotelanlage, die in Form eines Kibbuz geführt wurde. Ich war gespannt, ob es dort einen Platz für mich gab.

Obwohl es noch früh am Morgen war, schwitzten wir mächtig unter unseren schweren Rucksäcken, als wir uns auf die Suche nach dem Büro machten, das mitten im Zentrum von Tel Aviv lag. Es war heiß und staubig, der Verkehr um diese frühe Stunde höllisch, wir waren direkt in die Rush Hour geraten. Überall wurde gehupt und gedrängelt, die Israeli, so merkte ich rasch, waren offenbar kein besonders geduldiges Volk. Bald lief uns der Schweiß aus allen Poren. Wir fragten mehrmals nach dem Weg, und zu unserer Erleichterung sprachen viele Passanten Englisch. »Where do you want to go?«, begann es, schnell wurde daraus ein längeres Gespräch. ›Ach‹, dachte ich erfreut, ›die Menschen hier scheinen ja wirklich nett zu sein.‹

Als wir die Volontärs-Zentrale endlich fanden, atmeten wir auf. Jede von uns erhielt eine Adresse und Informationen, wie man dorthin gelangen konnte. Ich hatte Glück, in Ein Gedi wurden tatsächlich Volontäre gebraucht. Meine Begleiterinnen hatten jedoch andere Destinationen erhalten. Doch bevor wir uns in alle Winde zerstreuten, gingen wir in einem der zahlreichen Straßencafés gemeinsam frühstücken. Ich staunte nicht schlecht, als es zum Weißbrot Hüttenkäse, Tomaten- und Gurkensalat mit Oliven gab. Und eine bräunliche Paste, die ich vorsichtig probierte. Angewidert verzog ich das Gesicht: Es war Chumus, die israelische Variante des arabischen Hommus, den man aus Kichererbsen, Knoblauch, Zitronensaft und einigen Gewürzen zubereitet. Bis heute ertrage ich kaum den Geruch.

Nach dem Frühstück fuhren wir alle vier zum Zentralen Busbahnhof, tauschten unsere neuen Adressen aus und verabschiedeten uns. Zwei der anderen Mädchen machten sich auf den Weg zum See Genezareth, die andere in die Stadt Eilat ganz im Süden des Landes. Meine Reise führte mich zunächst nach Jerusalem, wo ich umsteigen musste, um ans Tote Meer zu gelangen.

In Tel Aviv waren wir am Eingang zum Busbahnhof wie alle anderen Reisenden akribisch kontrolliert worden. Als ich in Jerusalem auf meinen Anschluss wartete, kam ein Sicherheitsmann des Busbahnhofs und forderte alle Wartenden auf, sowohl das Gebäude als auch den Bereich davor, wo die Busse abfuhren, zu verlassen. Ich verstand zuerst nicht, was los war, denn ich konnte kein Hebräisch. Die anderen Reisenden hatten es auch überhaupt nicht eilig, den Bahnhof zu verlassen, manche mussten mehrfach dazu aufgefordert werden. Als alle draußen waren, wurde der Bahnhof abgesperrt. Auf dem Vorplatz erklärte mir schließlich eine junge Frau, die Englisch sprach, dass es sich »mal wieder« um einen Bombenalarm handele. »Das kommt fast alle Tage vor«, sagte sie und verzog genervt das Gesicht. »Und meistens ist es falscher Alarm.«

»Aber wenn nicht?«, mischte sich ein älterer Herr ein, »erst neulich gab es einen Anschlag auf ein Einkaufszentrum!«

»Und was passiert jetzt?«, fragte ich.

»Die Tasche wird gesprengt«, erklärte mir die junge Frau.

»Gepäckstücke, die herrenlos herumstehen«, ergänzte der Mann. »Darin verbergen sich oft Bomben. Man ist nirgendwo sicher vor diesen Attentätern.«

Eine weitere halbe Stunde verging. Von dem, was sich im Bahnhof abspielte, bekamen wir auf dem Vorplatz nichts mit. Schließlich wurden die Türen wieder geöffnet, und alles ging weiter seinen Gang, als wäre nichts gewesen.

»Falscher Alarm«, sagte die junge Frau, bevor sie an mir vorbeieilte und ihrem Bus zustrebte, »ich hab’s ja gesagt. Ein Soldat hat einfach einen Moment lang seine Tasche stehen lassen, um sich ein Sandwich zu kaufen. Ausgerechnet ein Soldat! Lass bloß nie etwas herumstehen. Die Tasche siehst du nie wieder. Davon abgesehen stiehlst du deinen Mitmenschen ihre kostbare Zeit.« Und fort war sie.

Während der gut einstündigen Fahrt im Bus nach Ein Gedi kam ich mit einem jungen...