Hedwig Courths-Mahler - Folge 034 - Im Buchengrund

von: Hedwig Courths-Mahler

Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2014

ISBN: 9783838754376 , 80 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 1,99 EUR

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Hedwig Courths-Mahler - Folge 034 - Im Buchengrund


 

Mein lieber Fredy!

Diesmal kann ich dir nicht helfen, es ist unmöglich, das Geld zu beschaffen. Und Mutter kann auch nicht helfen. Ich wage es gar nicht, ihr deinen Brief zu zeigen. Sie hat vor einigen Tagen wieder einen furchtbaren Anfall gehabt und muss das Bett hüten. Eine große Aufregung war schuld. Denke dir, unsere Schwester Lena ist krank; sie muss auf ärztliche Verordnung sofort nach Deutschland reisen. Es ist ganz plötzlich gekommen. Drei Jahre lebt sie nun mit ihrem Mann in Südostafrika. Wenn das Blockhaus, das sie bewohnen, nicht in ziemlicher Höhe am Kilimandscharo stünde, dann wäre sie wohl schon längst erholungsbedürftig gewesen. Nur ganz gesunde Menschen können das Klima vertragen. Lena war ja so gesund, so kräftig, dass wir sie beruhigt ziehen lassen konnten. Aber seit der Geburt ihres jetzt dreijährigen Töchterchens ist sie nicht mehr so widerstandsfähig.

Du kannst dir Mutters Sorge denken, obwohl ich es ihr so schonend wie möglich beibrachte. Jetzt ist sie wieder ruhiger und freut sich auf Lena, die auch ihr kleines Mädchen mitbringt. Aber es waren aufregende Tage – auch für mich. Georg sandte eine Depesche, darin teilte er uns mit, dass Lena sofort reisen muss, er aber das Reisegeld momentan nicht flüssig machen kann. Nun bat er uns, zu senden, was wir irgend entbehren können. Im August bekommt er Urlaub und wird uns dann das verauslagte Geld zurückerstatten.

Siehst du, lieber Fredy, da mussten wir alles zusammenraffen, bis auf den letzten Groschen. Auch unser Sparpfennig für besondere Fälle ist dahin. Wir ließen das Geld telegrafisch an die Handelsbank in Tanga anweisen. Nun wird sich unsere Lena mit ihrem Kind dieser Tage von Usambara auf den Weg machen.

Das alles lastet schwer auf mir, dazu muss ich noch angestrengt arbeiten, damit wir Geld ins Haus bekommen. Zum Glück habe ich Aufträge. Jetzt vor Weihnachten fertigen die Damen viele Handarbeiten an; dazu sind meist Zeichnungen nötig. Die Firma, für die ich arbeite, zahlt sehr gut. Der Geschäftsinhaber lässt mir auch manchen lohnenden Extraauftrag zukommen. Das ist ein Glück, ich wüsste sonst nicht, wovon wir leben sollten. Mutter muss kräftige Kost haben. Sie ist so hinfällig; meine Angst um sie ist grenzenlos.

Das alles schreibe ich dir nur, lieber Fredy, um dir klar zu machen, dass wir dir nicht helfen können – diesmal nicht. Ach, Fredy, warum machst du uns immer solche Sorgen! Wir haben wahrscheinlich ohnedies genug. Wenn du wüsstest, wie schwer mir das Herz ist! Unser lieber alter Doktor hat mir gestern gesagt, Mutter dürfe keinen so schlimmen Anfall mehr bekommen, sonst stehe er für nichts. Wenn sie wüsste, dass du wieder leichtsinnig warst! Sei doch, um Gottes willen, endlich vernünftig! Du musst mit der Zulage auskommen, die Tante Laura dir gibt. Ich kann dir jetzt nichts mehr von meinem Verdienst schicken. Solange Lena mit dem Kind bei uns ist, kostet der Haushalt mehr. Und vor August ist von Georg keine Hilfe zu erwarten. Vielleicht versuchst du einmal, ob Tante Laura dir diese dreitausend Mark gibt. Es ist mir zwar ein fürchterlicher Gedanke und ich glaube auch kaum, dass sie dir hilft, denn sie hat kategorisch erklärt, mehr als die Zulage gäbe es nicht; aber versuchen kannst du es ja.

Bitte, schreibe mir gleich, wie du dir aus diesem Dilemma hilfst, denn ich sorge mich sehr.

Mit herzlichem Gruß und Kuss

deine Schwester Jutta

Mit müder Bewegung legte Jutta Falkner die Feder aus der Hand und kuvertierte den Brief. Eine Weile starrte sie mit brennenden Augen darauf nieder. Dann erhob sie sich hastig und steckte ihn seufzend in ihre Handtasche.

Sie trat an ihren am Fenster stehenden Arbeitstisch, wo sie ihre Zeichnungen anzufertigen pflegte. Neben dem Tisch stand eine Staffelei mit einem halb vollendeten Bild einer Landschaft in Öl.

Es war Juttas Arbeitszimmer, in dem sie sich befand. Nach dem Tod ihres Vaters hatten die Witwe und Tochter des Geheimrats Falkner die Wohnung bezogen. Sie bestand außer aus Juttas Arbeitszimmer aus dem gemeinsamen Schlafzimmer für Mutter und Tochter, einem kleinen Wohn- und einem noch kleineren Empfangszimmer. Daran schloss sich die Küche mit der Mädchenkammer. Es war die typische kleinbürgerliche Wohnung, in der jeder Zentimeter Raum ängstlich berechnet war.

Jutta versuchte noch zu arbeiten, aber die Dämmerung brach rasch herein. Nun ging das junge Mädchen leise durch das Wohnzimmer nach dem Schlafzimmer, um nach der Mutter zu sehen.

Die alte Dame lag, von Kissen gestützt, im Bett. Sie hatte ein schmales, feines Gesicht. Es sah plötzlich sorglos, fast heiter aus. Die wunderschönen grauen Augen leuchteten voll warmer Liebe zur Mutter hinüber. Als sie sah, dass die Mutter aufwachte, trat sie schnell an das Bett heran.

„Hast du ein Nickerchen gemacht, Mutter?“

Frau Geheimrat Falkner schüttelte lächelnd den Kopf und hob das schmale Gesicht mit dem stillen Leidenszug zur Tochter empor. „Nein, Jutta, ich konnte nicht schlafen. Ich musste an Lena denken – und an mein Enkelchen Wally. Ich habe versucht, sie mir vorzustellen. Die Fotografien, die Georg uns gesandt hat, sind für meine Augen nicht deutlich genug. Wenn du nachher Licht angezündet hast, gibst du mir die Bildchen und Lenas Brief. Ich will sie alle noch einmal ansehen. Heute darf ich ja das Bett noch nicht verlassen.“

„Nein, Mutter, aber morgen darfst du wieder ins Wohnzimmer in deinen Lehnstuhl“, erwiderte Jutta.

„Ob Lena sich schon eingeschifft hat?“, fragte die Mutter.

„Nein, Mutter, erst am Sonnabend wird die ‚Rhenania‘ in See gehen.“

„Ach Gott, die lange Reise! Sie ist für Lena so anstrengend.“

„Bis zum Schiff hat sie ja genügend Beistand, Mutter, und auf dem Schiff hat sie doch auch Bedienung. Du sollst sehen, auf der Seereise wird sich Lena viel wohler fühlen. Wenn sie hier ankommt, ist sie wieder frisch und gesund.“

„Dazu mag Gott helfen. Unser lieber Doktor hat das auch schon gesagt. Er meint, bei Lenas kräftiger Konstitution habe das nicht viel auf sich.“

„Siehst du wohl.“ Jutta strich sanft über das graue Haar der Mutter. „Jetzt hole ich dir Lenas Briefe und die Bilder. Dann will ich ein halbes Stündchen ins Freie. In der Dämmerstunde kann ich ohnedies nicht viel arbeiten“, sagte sie heiter.

Die alte Dame nickte. „Ja, Kind, geh ein wenig an die frische Luft, sonst wirst du mir blass und müde. Du musst ja so viel arbeiten.“

Jutta streckte wie im übermütigen Kraftgefühl die Arme aus und reckte die schlanke, jugendschöne Gestalt in dem schlichten, dunkelblauen Kleid, das sich knapp um die edlen, fein gerundeten Formen schmiegte. In ihr liebes, freundliches Gesicht trat eine leichte Röte.

„Damit hat es keine Not, Mutter! Von Mattigkeit fühle ich keine Spur, und an roten Wangen soll es nicht fehlen, wenn ich wieder heimkomme. Ich glaube, wir bekommen Frost. Es liegt so etwas in der Luft. Also, ich hole dir jetzt die Bilder und Lenas Brief.“

Sie ging ins Wohnzimmer zurück und holte das Gewünschte. Dann zündete sie die über dem Bett befindliche Gaslampe an und stellte eine Klingel bereit.

„So, Mutter, nun weiß ich dich gut versorgt. Hier ist die Klingel für Minna. Brauchst du noch etwas?“

„Nein, Kind, so ist alles recht. Nun gehe ruhig!“

Jutta küsste die Mutter und ging hinaus.

Frau Geheimrat Falkner betrachtete sich nun erst die Fotografien, die ihre älteste Tochter aus Ostafrika geschickt hatte. Da waren Aufnahmen vom Urwald, im Hintergrund der Bergrücken des Kilimandscharo, dann stille Waldwiesen, von tropischer Vegetation umgeben. Am aufmerksamsten betrachtete die alte Dame die Aufnahmen des Heims ihrer Tochter. Da war ein roh gezimmertes Blockhaus mit einer großen überdachten Veranda davor. Auf dem einen Bild saßen um den Tisch einige Herren in Tropenuniform, wie sie dort die Forstbeamten tragen. Der eine war Georg von Haller, ihr Schwiegersohn. Neben ihm saß mit lachendem Gesicht Lena.

Auf einem anderen Bild sah man einen Neger, der die kleine Wally hoch empor hob. Es war ihr Wärter.

Während die Mutter sich andächtig die Bilder anschaute, ging Jutta mit schnellen Schritten zum nahen Postamt, um den Brief an den Bruder aufzugeben. Als er mit seltsam dumpfem Geräusch in den Postkasten fiel, überkam sie ein unbestimmtes, banges Gefühl.

Aber dann schüttelte sie energisch dieses Bangen ab.

„Ich kann ihm nicht helfen, ich kann nicht. Und die Mutter kann es erst recht nicht, es hat keinen Zweck, sie damit zu beunruhigen. Fredy muss sich selbst helfen.“

Ach, was für Opfer hatte sie diesem Bruder schon gebracht, welche Sorgen hatte er ihr schon gemacht! Wie oft hatte sie ihm ihre kleinen Ersparnisse geschickt, wenn er wieder und immer wieder um Geld bat und sie es die Mutter nicht wissen lassen wollte.

Und doch konnte Jutta ihm nicht zürnen. Sie liebte diesen schwachen, leichtsinnigen Bruder unsagbar, der die Freuden des Lebens nicht missen konnte, und sorgte sich wie eine zärtliche Mutter um sein Wohlergehen.

Solange der Vater noch lebte, ging alles gut. Er hielt den Bruder mit Ernst und Strenge im Zaum. Aber als der Vater vor vier Jahren starb, wurde alles anders. Mit seinem Tod erloschen die guten Einkünfte, und nun musste Mutters Pension ausreichen. Nur widerwillig hatte sich Tante Laura, eine Cousine der Mutter bereitfinden lassen, Fredy einen Zuschuss zu gewähren, damit er Offizier bleiben konnte. Lena, Juttas vier Jahre ältere Schwester, war bald nach Vaters...