Tod auf dem Weingut Beauclaire - Ein Provence-Krimi

von: Mary L. Longworth

Aufbau Verlag, 2014

ISBN: 9783841207494 , 368 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: frei

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Preis: 8,99 EUR

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Tod auf dem Weingut Beauclaire - Ein Provence-Krimi


 

1. Kapitel
Für die Engel


Olivier Bonnard saß auf der untersten Stufe der Steintreppe zu seinem Weinkeller, den Kopf in den Händen vergraben, als plagte ihn eine Migräne. Mit seinen schwieligen Fingern fuhr er sich durch das dichte, leicht ergraute Haar und stöhnte. Als sein Blick auf die versteinerte Jakobsmuschel in der Kalksteinmauer fiel, lehnte er sich nach vorn und berührte sie sacht. Das war sein heimliches Ritual, das er, seit er denken konnte, stets vollzog, wenn er den Keller betrat. Das Fossil erinnerte ihn daran, dass vor Millionen Jahren ein großer Teil Südfrankreichs unter dem Meer gelegen und Salzwasser die Hänge umspült hatte, wo heute Weinstöcke wuchsen. Auch seine Winzerkollegen bis hinauf zum Luberon und zum Rhônetal hatten solche Stücke in ihren Mauern, aber diese kleine, perfekt geformte Muschel fand er am schönsten. Wieder wühlte er in seinem Haar, bemüht, die Tränen zurückzuhalten. Das letzte Mal geweint hatte er vor acht Jahren, als man seine Mutter zu Grabe trug.

Mit einem Seufzer zwang er sich, zu den Regalen mit den Weinflaschen hinzusehen, zog mit einer müden Bewegung Papier und Bleistift aus der Tasche seiner Steppjacke – im Keller herrschten konstant sechzehn Grad, weshalb er sich auch Anfang September warm anziehen musste – und machte sich ans Notieren. Auf die Liste setzte er zwei Eineinhalb-Liter-Magnumflaschen seines 1989er Roten, eine des 2005er Weißen, drei Flaschen Rotwein des Jahrgangs 1954 (den er selbst am meisten schätzte), zwei Flaschen Weißen von 1978 (der für einen Weißwein eigentlich zu alt und wahrscheinlich bereits umgeschlagen war), drei Flaschen 1946er Roten (von der ersten Lese nach sechs Jahren Krieg, der Lieblingswein seines alten Vaters) und schließlich eine Magnum von 1929, die allerletzte des ersten Jahrgangs, den sein Großvater abgefüllt hatte.

Nach ein paar Minuten ließ er den Stift sinken und hielt inne. Es fehlten noch mehr Flaschen, aber er brauchte eine Pause. Obwohl es sich um Weine seiner Familie handelte, tat sich Bonnard schwer, den Wert des 1929ers oder 1946ers zu schätzen. Diese Flaschen waren inzwischen zu reinen Sammlerstücken geworden. Sein Versicherungsvertreter in Aix würde ihm dabei helfen; er hatte die Kataloge der Weinauktionen von Sotheby’s und Christie’s in seinem Büro. Paul war ein alter Schulfreund und würde Olivier nicht übers Ohr hauen.

Durch den Verlust dieser Weine, die zu einem großen Teil noch sein Vater und Großvater gekeltert hatten, war der Winzer am Boden zerstört. Doch die Tränen trieb ihm der Gedanke in die Augen, dass der Dieb jemand sein musste, der ihm sehr nahestand. Der Weinkeller war stets verschlossen, aber alle Familienmitglieder wussten, wo sich der Schlüssel befand. Seit Olivier ein kleiner Junge war, hing er immer rechts neben der Küchentür. Wer sonst konnte davon Kenntnis haben? Gesichter zogen vor seinem inneren Auge vorüber, und obwohl seine Hände und Füße von der Kälte fast steif waren, lief er vor Zorn rot an. Freunde, Nachbarn oder Bekannte – er litt regelrecht darunter, sie sich als Verdächtige vorzustellen. Da war der Briefträger Rémy, der mit seinem uralten Moped oder außer Dienst mit seinem klapprigen Lieferwagen stets bis vor die Küchentür rollte. Da war Hélène, die Verwalterin des Weingutes und seine Kellermeisterin. Da ihr Mann bei der Polizei arbeitete, schied sie für ihn sofort aus dem Kreis der Verdächtigen aus. Da war Cyril, sein zweiter Festangestellter, jahraus, jahrein seine zuverlässige Stütze. Schließlich Sandrine, eine Studentin aus Aix, die an Wochenenden und Feiertagen Weinverkostungen durchführte. Wenn er ehrlich war, hatte er sie vor allem wegen ihrer Schönheit, nicht ihrer Weinkenntnis oder ihres exakten Kassierens eingestellt. Dazu kam eine Schar Nordafrikaner, die jedes Jahr bei der Lese half. Aber sie gelangten kaum in die Nähe des Hauses, und er kam sich wie ein Rassist vor, wenn er ihnen den Diebstahl zutraute. Sie waren so sehr auf die Erntearbeit angewiesen, einen Knochenjob, den Olivier als Student gern auf sich genommen hatte, zu dem sich aber heutzutage nur wenige junge Franzosen bereitfanden.

Jetzt kam die Familie an die Reihe. Nur sah sie Olivier nicht als Reihe von Verdächtigen bei einer Gegenüberstellung im Justizpalast, sondern beim Abendessen. Nicht in ihrem eleganten Speisezimmer, wo seine Frau so gern aß, sondern an dem langen hölzernen Küchentisch vor einem lodernden Herdfeuer. Eine beruhigende Vorstellung, bei der gewöhnlich ein Lächeln auf seinem Gesicht erschien. Heute aber bereitete sie ihm nur Magenschmerzen. Es gab keinen Grund, weshalb Elise, mit der er seit zwanzig Jahren verheiratet war, sich an den Weinen vergriffen haben sollte. Sie stand voll hinter seinem Geschäft, auch wenn sie selbst nur Tee trank. Viel mehr als Syrah, Grenache oder Mourvèdre interessierte sie die Boutique, die sie zusammen mit einer Freundin in Aix betrieb. Auch konnte er sich nicht vorstellen, weshalb sein achtzehnjähriger Sohn Victor, den Erde und Weinreben faszinierten, seit er laufen konnte, die kostbaren Flaschen gestohlen haben sollte. Schon gar nicht die dreizehnjährige Clara, sein ganzer Stolz und seine Freude, die ihre Nase nur in Bücher steckte und seit dem Kindergarten überall die Beste war. Außerdem lebte in einem Seitenflügel von Oliviers Haus aus dem 18. Jahrhundert sein Vater. Albert Bonnard war für seine 83 Jahre noch rüstig, ermüdete neuerdings aber rasch, und sein Gedächtnis ließ nach. Erst letzte Woche hatte Olivier ihn beobachtet, wie er die Reihen der Weinstöcke entlangging, mit ihnen sprach und ihnen für die reiche Ernte dieses Jahres dankte.

Olivier stand auf und streckte die verkrampften Beine. Nahezu eine Stunde lang hatte er, vor sich hinbrütend, dagesessen. Als er auf der Treppe Schritte hörte, fuhr er zusammen. Fast glaubte er, sogleich dem Dieb ins Auge zu schauen, der vielleicht wiederkam, um auch noch ein paar Flaschen aus den 1960ern mitgehen zu lassen, die er oder sie – Olivier wollte kein Sexist sein – bisher verschont hatte.

»Ich habe Licht im Keller gesehen. Suchst du schon den Wein für morgen Abend aus?«, fragte Elise Bonnard ihren Mann. »Oje«, fuhr sie fort. »So fassungslos, wie du mich anstarrst, hast du das Abendessen mit den Poyers bestimmt vergessen.«

Auch nach zwanzig Jahren Ehe freute sich Olivier immer, wenn er seine Frau sah, und an diesem Nachmittag umso mehr. Zwar trank sie keinen Alkohol, war aber eine gute Verkosterin und reiste gern mit ihm und seinen Weinen durch Frankreich oder ins Ausland. Letztes Jahr waren sie in Argentinien gewesen, wo südamerikanische und französische Weinbauern Erfahrungen ausgetauscht hatten. Als Elise jetzt vor ihm stand, wurde Olivier überdeutlich, was für ein glücklicher Mann er war und wie sehr er sie brauchte. Wieder stiegen ihm die Tränen in die Augen, er ließ die Schultern sinken und schluchzte tief auf. Elise Bonnard starrte ihren sonst so ausgeglichenen Mann erschrocken an, ihr Lächeln war wie weggewischt, sie lief die letzten Stufen herab und nahm ihn in die Arme.

»Was hast du, mein Lieber?«

Das raubte dem fast zwei Meter großen Kerl nun völlig die Beherrschung. Seine Tränenflut wurde nur noch von heftigen Schluchzern unterbrochen. Elise Bonnard zog ein paar Kleenex-Tücher aus ihrer Tasche und reichte sie ihm. Olivier flüsterte einen Dank, schnäuzte sich einige Male lautstark und seufzte tief auf. Mehrere Male atmete er kräftig durch, um sich zu beruhigen, so wie sie es ihren Kindern beigebracht hatten, wenn die sich bei einem Sturz weh taten oder sehr erregt waren. Schließlich drehte Olivier sich um, und nun konnte sie die großen Lücken in den Weinregalen sehen.

»Was ist denn das?« Elise stockte der Atem. Sie trat näher an die Gestelle heran, als traute sie ihren Augen nicht. Vier Generationen von Bonnards bauten auf diesem Gut bei Rognes, zwanzig Autominuten nördlich von Aix-en-Provence, nun schon Wein an, seit Oliviers Urgroßvater dieses Stück Land und die verfallenen Gebäude am Ende des 19. Jahrhunderts gekauft, vollständig wiederaufgebaut und den auf einer langen Geschichte beruhenden Ruf des Weingutes wiederhergestellt hatte. Viele ihrer frühen Weine hatten von berühmten Kritikern höchstes Lob erhalten. Mr. Colter aus den USA kam jedes Jahr herüber, um Bonnards Weine zu kosten und zu bewerten. An den weltberühmten Weinexperten musste Elise jetzt denken, der so viel Einfluss besaß, wie Olivier ihr immer wieder erklärte, und doch so bescheiden und einfach im Umgang war, dazu an allem leidenschaftlich interessiert, was ihre Region betraf. Einmal hatte er sie sogar nach dem Rezept für ihre Gougères, die kleinen mit Käse gefüllten Windbeutel, gefragt.

»Wie viele Flaschen fehlen?«, fragte Elise. Sie schloss für einen Moment die Augen und sandte ein stilles Stoßgebet gen Himmel. Als sie ihren Mann hatte weinen sehen, hatte sie fast geglaubt, er hätte Krebs oder sie seien ruiniert. Freilich war der Wein unersetzlich, aber sie würden neuen anbauen und auch wieder Spitzenernten erleben. Erschreckend war allerdings die Tatsache, dass jemand hier unbemerkt eingedrungen war.

»Bei 23 habe ich zu zählen aufgehört. Auch ein paar Magnum-Flaschen sind darunter. Wenn ich mich etwas beruhigt habe, muss ich weitermachen. Das Schlimme ist, dass mir die Lücken so wahllos vorkommen: Hier fehlt eine Flasche, da zwei.«

»Ob jemand den Keller offen gelassen hat?«, warf Elise ein.

»Die Tür war verschlossen, als ich vor einer Stunde gekommen bin, und den Schlüssel habe ich in der Küche vom Haken genommen. Würde ein Dieb daran denken, die Tür wieder zu verschließen und den Schlüssel an seinen Platz zu hängen? Außerdem habe ich den ganzen Vormittag auf dem Hof gearbeitet, weil...