Wolfstraum

von: Angeline Bauer

Rosenheimer Verlagshaus, 2014

ISBN: 9783475541797 , 240 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 16,99 EUR

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Wolfstraum


 

1. Kapitel


Es war ein seltsames Licht, das an diesem Aprilmorgen durch die Baumkronen fiel. Ein silbriges Flirren im Walddunst, geperlter Morgentau auf den jungen Halmen der Segge. An schattigen Stellen lag noch Schnee, doch gleich daneben, wo Sonnenstrahlen sich ihren Weg durch das Geäst der Bäume bis auf den Waldboden bahnten, sah man helles Gelb wie hingetupft auf moosgrünen Grund. Und hob man den Kopf und erblickte zwischen den Baumwipfeln ein Stück vom Himmel, erschien er einem eher silbrig als blau.

Doch Annelie, die Tochter des Sägmüllers-Gerstenrieder, schaute nicht in den Himmel. Die Augen fest vor sich auf den Boden gerichtet, um nicht über Äste und Steine zu straucheln, ging sie ihren Weg.

Droben am Setzberg war sie gewesen, bei den Holzfällern, die sich nach dem Winter dort neu eingerichtet hatten, um den Holzschlag vom letzten Jahr aufzupflanzen. Sie hatte ihnen Brot, Schmalz und Eier hinaufgebracht und vom Vater eine Flasche Enzian, als Einstand für ein langes, arbeitsreiches Jahr.

Der Weg auf den Setzberggipfel war beschwerlich. Trotzdem hatte sie ihn gerne auf sich genommen, denn zu Hause in der Holzmühle, im Wald hoch über den Ortschaften Trinis und Oberach, war ihr kein ruhiger Augenblick vergönnt. Nichts als Arbeit den ganzen Tag! Zwei Rösser, eine Kuh, zwei Schafe, ein Schwein, eine Schar Hühner und vier, manchmal auch fünf Männer musste sie versorgen. Und einer von ihnen, ihr jüngerer Bruder Lenz, war deppert dazu und brauchte den ganzen Tag über Aufsicht.

Unterwegs im Wald aber konnte sie ihren Gedanken nachhängen. Manchmal setzte sie sich irgendwo für ein paar Minuten nieder, schloss die Augen und stellte sich vor, jemand ganz anderer zu sein. Ihre Base Magdalena zum Beispiel, die in München lebte, schöne Kleider trug und zwar kunstvolle Bilder malen konnte, aber nicht kochen. Das musste man sich mal vorstellen! Oder sie träumte davon, die Frau von Martin Ebner zu werden. Er war der Sohn eines Schreiners aus Oberach, der hin und wieder zu ihnen in die Mühle heraufkam, um sich nach gutem Holz umzuschauen.

Martin Ebner gefiel ihr, und auch er mochte sie und machte ihr schöne Augen. Er war ein guter Mensch, rechtschaffen und ehrlich gegen jeden, und er war ihre einzige Hoffnung. Denn wenn nicht er sie heiraten und von der Mühle fortbringen würde, wer sollte es dann tun?

Annelie überquerte eine kleine Lichtung, trat auf einen Felsvorsprung hinaus und blickte zuerst hinüber auf den Hirschberg, dann hinunter ins Weissachtal. Von hier oben wirkten die Häuser in den Ortschaften wie Spielzeug, von Kinderhänden nach Lust und Laune hingesetzt. In der Mitte eine Kirche, rundherum ein paar Höfe, Stallungen und Kühe – was kleiner war, sah man nicht mehr.

Kreuth lag linker Hand, rechter Hand der Tegernsee und unter dem Fels, auf dem Annelie stand, noch eine halbe Wegstunde entfernt, die Holzmühle, in die sie vor zweiundzwanzig Jahren als drittes Kind von Lina und Xaver Gerstenrieder hineingeboren worden war.

Den Erstgeborenen, den Hans, hatte vor drei Jahren ein Baum erschlagen. Er war des Vaters Ein und Alles gewesen. Dass er den Franzosenkrieg überlebt, dann aber, kaum wieder zu Hause, im Wald den Tod gefunden hatte, konnte er nicht verwinden.

Vielleicht wäre es ihm leichter gefallen, wenn die Mutter noch gelebt hätte. Sie war die gute Seele im Haus gewesen, ein Vorbild für jeden. Mit Sanftmut und Liebe hatte sie alles zusammengehalten – davon hatte sie so viel in sich gehabt, dass es auch für den wortkargen, jähzornigen Vater noch gereicht hatte. Doch nach ihrem Tod war sein Herz ausgetrocknet wie ein verschrumpelter Apfel, der im Keller zwischen die Regale gerutscht und dort vergessen worden war. Für keinen hatte er mehr ein gutes Wort. Nicht für Annelie, die schon seit ihrem dreizehnten Lebensjahr Haus und Hof führen musste. Nicht für Max, der sich im Schatten des toten Bruders dem Hass verschrieben hatte. Erst recht nicht für Lenz, seinen Jüngsten, der mit siebzehn Jahren zwar groß und kräftig war wie ein ausgewachsenes Mannsbild, dabei aber nicht mehr im Kopf hatte als ein kleines Kind.

Annelie, eine Kraxe auf dem Rücken, den Rocksaum aufgeschlagen und in den Bund geschoppt, damit er sich nicht so leicht am Gestrüpp verfing, stand breitbeinig da und lauschte in die Stille – nicht das Krächzen eines Raben, nicht das hell klingende »bija-bija« eines Adlers, nicht das Knacken eines einzigen Zweiges war zu hören.

Bis plötzlich ein Glockengeläut den Berg heraufkroch und Annelie aus ihren Träumen riss. Die Kuh so nah? Das dumme Rindviech musste sich verlaufen haben! Doch dann hörte sie ein irres Lachen. Es war der depperte Bruder, der hirnrissige Lenz, der Käfer küsste und sich auf Eier setzte, um sie auszubrüten, und seltsame Wörter erfand, die niemand außer ihm selbst verstand.

Was hatte er wieder angestellt?

Annelie lief los, sprang über Stock und Stein, rutschte auf Laub dem Abgrund entgegen, fing sich, rannte weiter, sah ihn endlich: wie er den Bergstock gegen die Kuh schwang und lachte und sich freute, dass sie so rennen konnte und so lustig buckelte und sprang.

»Hör auf, Lenz!«, schrie sie. »Guter Gott, Lenz, was machst denn nur wieder!«

Er freute sich, sie zu sehen. »Annele, Annele, i hab dich lieb!« Breitete die Arme aus, fiel ihr um den Hals. »Annele, wo warst so lang? I stielebebele!«

»Bei den Holzknechten droben, das hab ich dir doch gesagt. Aber du darfst die Kuh nicht jagen! Wenn der Vater das sieht, der verprügelt uns wieder.« Sie nahm die Kraxe vom Rücken und gab sie ihm. »Jetzt bleibst hier, bis ich wiederkomm, und sammelst da Fichtenzapfen hinein.«

»Ja, Annele. Aber net zu lang. Tannezapfe einelugen.«

Sie ging der Kuh nach, die ein Stück weiter droben schnaubend stehen geblieben war und ihr entgegenglotzte. Als sie näher kam, duckte sie sich, um wieder loszurennen, doch Annelie lockte sie mit guten Worten, und da kam sie ihr entgegen und ließ sich am Lederriemen fassen, den sie um den Hals trug. Annelie klopfte ihr lobend den Leib, sprach weiter auf sie ein, damit sie ihr folgte. So kam sie wieder an die Stelle, an der Lenz vor der Kraxe hockte, ein Lied sang und Fichtenzapfen hineinfallen ließ.

»Bist brav«, sagte sie ihm. »Jetzt nimmst die Kraxe auf den Buckel und gehst schön mit. Und daheim trocknen wir die Fichtenzapfen fürs Ofenfeuer.«

Der Vater lief ihnen vom Sägewerk entgegen. Der Zorn hatte ihm das Blut in die Schläfenadern getrieben, dass sie blau hervorstanden.

Er schwang die Faust gegen seinen Jüngsten. »Saukopf, verreckter! Dummbartl, elendiger! Was hast denn wieder angestellt? Da wird uns ja die Milch in den Eutern sauer, du Depp!«

Er griff sich einen Stock, der auf dem Weg lag, um den Lenz zu schlagen, aber Annelie sprang dazwischen. »Wenn du ihn schlägst, Vater, dann kommt er doch nimmer her, wenn man ihn ruft, und versteckt sich wieder im Wald, und wir müssen ihn suchen. Ich bitt recht schön, Vater, schlag ihn nicht!«

Die Schläge prasselten statt auf den Lenz nun auf Annelie nieder. Sie hob die Arme über den Kopf, um sich zu schützen.

»Dann pass in Zukunft besser auf den Schwachkopf auf, dummes Luder!«

Der Stock brach und fiel zu Boden, und endlich ließ der Vater ab von ihr, warf auch das andere Ende des Stocks hin und ging davon.

Annelie fuhr sich über die Stirn, die nass war vom Angstschweiß. Tränen hatte sie nicht. Sie weinte schon lange nicht mehr, wenn sie geschlagen wurde. Nur nachts manchmal, alleine in ihrer Kammer unterm Plumeau.

Sie wandte sich nach ihrem Bruder um, dabei brannten ihr Haut und Knochen von den Schlägen. Zitternd kauerte er unter einem Baum, den Kopf zwischen den Armen verborgen, leise wimmernd: »’s Annele net schlagen, ’s Annele net schlagen … i böser Bub! I Sakrapotzi, sakrapotzi …«

Sie ging zu ihm hin. »Du bist nicht bös und auch kein Sakrapotzi.« Sie nahm ihn in die Arme und wiegte ihn. »Bloß a bisserl deppert bist.«

»I deppert«, plapperte er ihr nach, und da musste sie lachen und küsste ihn und hätte doch beinahe noch zu weinen angefangen.

»Vom Wolf mir erzählst?«, bat Lenz.

»Vom Wolf mit den Tränen?«

Er nickte heftig, und Annelie erzählte ihm, was sie selbst als Kind von ihrer Mutter gehört hatte: »Wenn du einen Wolf siehst, der weint, dann ist der Tod nah. Dort wo seine Tränen hinfallen, wächst kein Hälmchen mehr, da ist die Erde verbrannt. Der Wolf ist ein Seelenwächter. Du musst dich in Acht nehmen vor ihm, aber bös ist er trotzdem nicht. Er ist eben, wie er ist. Wir alle sind, wie wir sind; Gottes Geschöpfe, auch der Wolf. – So, und jetzt bringst die Fichtenzapfen in den Schuppen, dann kommst in die Kuchl«, trug sie ihm auf, trieb selbst die Kuh ins untere eingezäunte Waldstück zurück, suchte Eier im Hühnerstall und ging in die Küche, um einen Käseschmarren zuzubereiten.

Es war ein länglicher, dunkler Raum. Die Fenster klein, die Wände schwarz vom Ruß. Ein Regal stand an der einen Wand, ein kleiner Tisch und zwei Stühle in der Ecke hinter der Tür. Allerhand Schöpfer, Pfannen und Töpfe hingen über dem Herd, und auf einem Brett über dem Fenster standen Krüge und Schüsseln.

Annelie stellte zwei Holzschalen auf den Tisch, trennte die Eier und verrührte das Eigelb mit Milch aus einer irdenen Kanne.

»Grüß dich Gott, Annelie«, kam es plötzlich von der Tür her.

Erschrocken fuhr sie herum, doch gleich erhellten sich ihre Züge und ein Lächeln lag auf ihrem Gesicht. »Ach, du bist...