Nacht der Einsamen - Oberbayern-Krimi

von: Julie Fellmann

Rosenheimer Verlagshaus, 2014

ISBN: 9783475541803 , 320 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 13,99 EUR

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Nacht der Einsamen - Oberbayern-Krimi


 

Freitag Abend


Greta schlief. Wie mädchenhaft sie aussah, wovon sie wohl gerade träumte? Was wusste ein Vater schon von den Träumen seiner vierzehnjährigen Tochter, vor allem ein Vater wie er, ein Wochenendvater! Schlimmer noch, ein Alle-vierzehn-Tage-Wochenendvater. Ihre rosigen Wangen, der leicht geöffnete Mund, ein rundliches Bein, das unter der Decke hervorragte. Greta meinte, sie sei pummelig, und versuchte sich ständig in neuen Diäten. Dabei würde sie sicher einmal so eine Bohnenstange wie ihre Mutter werden. Aber das Wort Babyspeck wollte Greta nicht hören. Dafür war sie stolz auf ihre langen weizenblonden Haare.

Garcia fuhr sich durch sein dichtes schwarzes Haar, und dabei durchzuckte ihn wieder dieser Gedanke, den er so ungern zuließ. Aber er war da, ganz plötzlich. Seine Tochter Greta, die nichts von ihm hatte, äußerlich betrachtet zumindest. War das wirklich seine Tochter?

Seit 14 Jahren zahlte er Alimente. Seit 14 Jahren verbrachte er – wie die meisten Trennungsväter – jedes zweite Wochenende mit ihr. Und doch – wusste er, mit wem Lydia damals noch zugange gewesen war? Lydia, eine von vielen, Lydia, mit der er nie eine ernsthafte Beziehung gehabt hatte, Lydia, die Zufallsbekanntschaft. Mit seinen 29 Jahren war er damals meilenweit davon entfernt gewesen, Familienplanungen machen zu wollen. Er schmiedete an seiner Karriere und genoss das Leben und seine Freiheit in vollen Zügen. Und dann war Greta gekommen, einfach so, ungeplant, und er sollte plötzlich Vater sein. Garcia liebte Greta, kein Zweifel. Außerdem wäre Lydia doch nicht so dumm gewesen, ausgerechnet ihm, einem Polizeibeamten, damals noch nicht einmal Hauptkommissar, ein Kind anzuhängen, wenn sie sich nicht sicher gewesen wäre. Sonst hätte sie doch wohl besser daran getan, einem Millionär oder zumindest einem Anwalt oder Notar die Vaterschaft unterzujubeln. Und dennoch …

Einmal war Garcia nah dran gewesen, einen heimlichen Vaterschaftstest durchzuführen. Er saß ja sozusagen an der Quelle. Eines dieser langen weizenblonden Haare hatte er bereits sorgsam in einen durchsichtigen Plastikbeutel gepackt und war damit ins rechtsmedizinische Institut marschiert, wo Professor Bernauer, einer seiner ältesten Freunde, als Pathologe arbeitete. Und dann? Noch ehe er die Türe erreicht hatte, hatte er dieses »und dann« zu Ende gedacht und in letzter Sekunde kehrtgemacht. Greta war seine Tochter, und wenn er auch nicht all zuviel von ihr wusste, und wenn er auch mit Lydia schon lange nichts mehr gemein hatte, so war er doch der Vater dieses Kindes, der leibliche vermutlich, der gefühlte sicher. Und dabei beließ er es vorerst.

Garcia schüttelte den Kopf, verjagte den subversiven Gedanken und schloss ganz leise wieder die Tür. Er würde Greta einen Zettel auf den Küchentisch legen, falls sie nachts aufwachte. Bis morgen früh wäre er sicher zurück.

Birk, wo war das überhaupt? Irgend so eine kleine Gemeinde vor den südlichen Toren Münchens. Jetzt fiel es ihm wieder ein: Er hatte das Ortsschild schon einige Male passiert, im Sommer, wenn Stau auf der Garmischer Autobahn war und er über Landwege zum Starnberger See gefahren war. Gehalten hatte er in Birk nie, aber er glaubte, sich an den typischen kupfergrünen Zwiebelturm der Dorfkirche erinnern zu können.

Leise schlich er aus seiner Wohnung und ging die zwei Stockwerke zu Fuß hinunter. Der Innenhof war menschenleer, aber in einigen Fenstern der umliegenden Wohnungen brannte Licht. Auf einem Balkon glomm trotz der Kälte einsam die Zigarette eines nächtlichen Rauchers. Garcia, der höchstens mal auf einer Party eine Zigarette schnorrte, mehr um ins Gespräch zu kommen als aus Lust, blickte mitleidig zum Balkon hinauf. »Wahrscheinlich verbietet ihm seine Frau, in der Wohnung zu rauchen«, schoss es ihm durch den Kopf. Dann setzte er sich ans Steuer seines schwarzen BMW, startete den Motor und fuhr los, ohne sich die Zeit zu nehmen, das Navigationssystem zu programmieren. Er steuerte den Wagen an mehreren Gruppen feiernder Jugendlicher vorbei, die rauchend und mit Bierflaschen bewaffnet der Kälte trotzend den Gärtnerplatz bevölkerten. Auf ihrem alten Mofa kam ihm Mama Afrika entgegen, die hier mittlerweile eine feste Institution war. Sie war ein bayerisches Urgestein mit wirrem gefärbtem Haar und Hippieklamotten, aber auch eine gewiefte Geschäftsfrau, die Bier an die Jugendlichen verkaufte, das sie auf einem Anhänger mit ihrem Mofa hinter sich her zog.

»Wieder mal auf freiem Fuß?«, rief Garcia ihr zu.

Mama Afrika winkte fröhlich. Sie wurde regelmäßig von der Polizei aufgegriffen, weil sie kein Gewerbe angemeldet hatte. Dass Garcia auch von der Polizei war, ahnte sie nicht, hatte er doch selbst auch schon das ein oder andere Bier bei ihr gekauft.

Er fuhr weiter und versuchte dabei, das Navigationssystem durch Sprachsteuerung einzustellen. Den Zielort »Birk« verstand das Navi schon beim zweiten Versuch, für die Straße jedoch machte es mehrfach abenteuerliche Vorschläge, die mit dem Wort »Goyastraße« definitiv nichts zu tun hatten. Als das Navi auch nach Anschreien den Vorschlag »Anton-Fingerle-Straße« machte, ging Garcia kopfschüttelnd dazu über, an der nächsten roten Ampel den Straßennamen per Hand einzutippen.

Trotz der vorgerückten Stunde – ein Blick auf die digitale Anzeige verriet ihm, dass es 22.55 Uhr war – waren auf Münchens Straßen viele Autos unterwegs, die meisten voll besetzt mit jungen Leuten auf Feiertour. Das Navi leitete Garcia die Isar entlang stadtauswärts, vorbei an der Großmarkthalle, vor der wie üblich einige Autos mit rosa Leuchtsignal parkten. Im Sommer standen die Bordsteinschwalben, die hier ihre Dienste anboten, an ihre Wagen gelehnt, aber jetzt war es noch zu kalt, und so lockten allein die pinkfarbenen Neonlichtröhren hinter den Frontscheiben. Über mangelnde Kundschaft brauchten sie sich keine Sorgen zu machen, schließlich war die Münchner Großmarkthalle der drittgrößte Umschlagort für Obst und Gemüse in Europa, gleich nach Paris und Mailand.

Garcia kannte nur einen Teil des über 300 000 Quadratmeter großen Areals, den Blumengroßmarkt, auf dem einst sein Freund Christoph als Blumenhändler angefangen hatte. Die Blumen hatte Garcia bei ihm zum Einkaufspreis bekommen, und so war es gewissermaßen Christoph zu verdanken, dass Garcia, damals Anfang zwanzig, wildromantisch und chronisch pleite, einst seine große Liebe mit hundert roten Rosen hatte erobern können. Was mochte wohl aus Melanie geworden sein?

»Mit der Romantik ist es seither stetig bergab gegangen«, dachte sich Garcia. »Aber den Christoph könnt ich mal wieder anrufen.«

Auf Höhe des Tierparks, der auf der anderen Isarseite lag, bog Garcia rechts ab und fuhr die Steigung hinauf, die ihn auf die Wolfratshauser Straße leitete, eine der Hauptverkehrsadern Münchens. Sie führte ziemlich schnurgerade aus der Stadt hinaus, immer nach Süden, bis nach Wolfratshausen. Der Verkehr am südlichen Münchner Stadtrand hatte sich gelichtet, und bald passierte Garcia das Schild, das ihm signalisierte, dass er nun die Landeshauptstadt verließ. Tatsächlich wurde die Landschaft fast schlagartig ländlich. Zur Rechten der Forstenrieder Park mit seinen hohen Nadelbäumen, zur Linken die Häuser in immer größeren Abständen. Bald folgten zu beiden Seiten nur noch kahle Felder, dunkel starrende Flächen, die zu dieser nächtlichen Stunde auf Garcia irgendwie trostlos wirkten. Dann, von Weitem sichtbar angeleuchtet auf einer Anhöhe, der Zwiebelturm von Birk, genau wie Garcia ihn in Erinnerung hatte. Kurz nach dem Ortschild von Birk erblickte er den weißblauen Maibaum, stolz gen Himmel ragend, Zierde eines jeden oberbayerischen Dorfes, das etwas auf sich hält.

Garcia folgte den Anweisungen seines Navis: Noch zweimal abbiegen, dann den kleinen Hügel hinauf, und schon stand er vor dem besagten Haus.

Es war etwas abgelegen in einer reinen Anliegerstraße, die in einer Sackgasse endete, die Nachbarhäuser mit ihren großen Gärten in angenehmer Entfernung. Der Vorgarten war sehr gepflegt, der mit Klinkersteinen gepflasterte Weg zur Haustür von sorgfältig zugeschnittenen Buchsbäumen gesäumt. Dennoch wirkte dieses Haus wenig einladend. Das Walmdach gab ihm etwas Gedrungenes, und die vergitterten Fenster verstärkten noch den abweisenden Eindruck.

Doch heute war in der Goyastraße 13 einiges los. Der Tatort glich einem Rummelplatz: Polizisten, Spurensicherer, Sanitäter, die sich hinter dem rot-weißen Absperrband tummelten, das den Hauseingang und das Garagentor vor Eindringlingen schützen sollte. Davor drängten sich schaulustige Nachbarn, hastig in Mäntel gehüllt, einer trug sogar noch Pantoffeln an den Füßen.

Alexander Garcia schlüpfte unter dem Absperrband hindurch und betrat das Einfamilienhaus durch die massive Eingangstüre aus dunklem Holz. In der engen, sauberen Diele roch es nach Putzmittel. Die Garderobe aus gezwirbelten Holzhaken vermittelte gediegenen Landhausschick, auf dem gefliesten Boden lag ein wohl maßgeschneiderter lodengrüner Läufer.

»Danke.« Garcia nahm von einem der Spurensicherer im weißen Astronautenlook ein Paar Plastiküberschuhe entgegen und streifte sie über seine Straßenschuhe. Dann folgte er dem lodengrünen Läufer, der direkt ins Wohnzimmer führte.

Unübersehbar auf den Terracottafliesen lag inmitten des großen Raums die Leiche. Sie war noch nicht zugedeckt, und Garcia verschaffte sich einen ersten Eindruck. Ein Mann mittleren Alters, etwa 1,80 Meter groß, eher kräftig, jedenfalls nicht mehr ganz schlank, eitel wohl, denn am Revers seines Trachtenjankers prangte eine Edelweiß-Brosche. Neben der Leiche stand ein...