Die Gezeichneten

von: Georg Unterholzner

Rosenheimer Verlagshaus, 2014

ISBN: 9783475541728 , 304 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 13,99 EUR

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Die Gezeichneten


 

1

Denn die Tage sind vergangen wie im Rauch,

und meine Beine sind verdörrt wie im Feuer.

Mein Herz ist geschlagen und spröde wie Gras,

dass ich sogar vergesse, mein Brot zu essen.

(Psalm 102)

Montag

»Du musst kommen«, hörte ich Elli sagen. »Sofort!«

Ich stand auf dem Gang des Studentenheims, hielt den Telefonhörer in der Hand und hatte überhaupt keine Lust, an diesem kalten, verregneten Herbstabend das Haus zu verlassen.

Außerdem kannte ich Elli kaum. Wir saßen in den Seminaren gelegentlich nebeneinander und hatten zwei, drei Mal einen Kaffee zusammen getrunken. Woher wusste sie überhaupt meine Telefonnummer?

»Nein«, entgegnete ich und versuchte, hart zu klingen.

»Bitte«, flüsterte sie nach einer kleinen Pause. »Bitte, Kaspar, komm vorbei. Es ist etwas Schreckliches passiert.«

»Was denn?«

»Das kann ich dir am Telefon nicht erzählen.«

Ich atmete tief ein und wieder aus. Es war mir immer schon schwergefallen, einer Frau einen Wunsch abzuschlagen. Elli saß noch dazu im Rollstuhl. Doch das Wetter war scheußlich, der kalte Novemberregen schlug gegen die Fensterscheiben, und es war schon nach zehn.

Da fing sie an zu weinen. Aber sie heulte nicht einfach los wie ein Schlosshund. Sie schniefte vielmehr und sagte kein Wort. Ich hörte sie stoßweise atmen und das Wasser in der Nase hochziehen. Aber sie legte nicht auf.

Gibt es etwas Schlimmeres für einen Mann als das Weinen einer Frau? Ich jedenfalls kann es nicht ertragen und habe in meinem Leben schon weiß Gott was unternommen, damit die jeweilige Dame damit wieder aufhörte. So auch diesmal.

»Okay, Elli, ich komme. Wo wohnst du?«

Sie nannte mir eine Adresse in der Kaulbachstraße, bat mich noch einmal, so schnell wie möglich da zu sein, und legte auf.

Ich nahm meine Motorradjacke, lief nach unten und fuhr los. Der Regen schlug mir ins Gesicht, und ich ärgerte mich vom ersten Meter an, dass ich nachgegeben hatte. Außerdem hatte ich keinen Helm aufgesetzt. Hauptsache, ich hatte meine Papiere dabei; Leute in meinem Alter wurden zurzeit ständig kontrolliert, denn in diesem Herbst ging die Angst vor der RAF und ihren Sympathisanten um wie noch nie zuvor.

Es war nur ein Kilometer bis zur Kaulbachstraße, und spätestens in einer Dreiviertelstunde, also um elf, musste ich wieder zurück sein. Dann wurden im Wohnheim die Pforten geschlossen, und ich kannte noch kein Schlupfloch, durch das man nachts ungesehen hineinkam.

Bald erreichte ich die richtige Adresse und wunderte mich über den aufwendig sanierten Altbau, an dessen Eingang eine Rampe angebracht war.

Ich überlegte, wie Elli es sich leisten konnte, hier zu wohnen. In den restaurierten Schwabinger Bürgerhäusern waren Zahnarztpraxen und Anwaltskanzleien untergebracht, keine Buden für schwerbehinderte Studentinnen der Klassischen Philologie.

Ich klingelte bei Guthor und hörte kurz darauf Geräusche in der beleuchteten linken Parterrewohnung. Dann summte der Türöffner, und ich drückte die schwere Pforte auf.

Im Hausgang mit der hohen Stuckdecke brannte Licht. Elli saß in ihrem Rollstuhl in der geöffneten Tür. Blass und mit dunklen Augenschatten sah sie mir entgegen. Sie war wie immer schwarz gekleidet, die dunklen Locken waren durcheinander, und nur der knallrote Lippenstift brachte etwas Farbe in ihr mageres Gesicht.

»Was ist passiert?«, fragte ich und schloss die Haustür hinter mir.

Elli rollte wortlos in die Wohnung, und ich folgte ihr. Die erste Tür links führte in die Küche, wo sie in ihrem Rollstuhl an der Stirnseite des Tisches saß und sich mit zittrigen Fingern eine Zigarette drehte. Die zündete sie wortlos an, nahm einen tiefen Zug und starrte in den überquellenden Aschenbecher.

Sie hatte schöne Hände mit langen, kräftigen Fingern. Das war mir noch nie aufgefallen. An ihren Schläfen und am Unterkiefer auf Höhe der Mundwinkel verliefen dünne blaue Venen direkt unter der Haut.

»Warum hast du mich angerufen?«, fragte ich und gähnte.

Sie deutete mit den beiden Fingern, zwischen denen die Zigarette steckte, auf den Gang. Schräg gegenüber der Küche stand eine Zimmertür halb offen. Aus dem Türspalt drang Licht.

»Und was ist da?« Ich hatte keine Lust zu raten.

»Der Horst«, antwortete sie mit belegter Stimme.

»Und?«

Ich kannte Horst, ihren Zivi. Er kam mit ihr jeden Tag an die Uni. Während der Vorlesungen verschwand er und tauchte wieder auf, wenn Elli in einen anderen Hörsaal, in die Mensa oder nach Hause gebracht werden wollte. Er hatte lange blonde Haare und trug meist einen alten Parka. Obwohl er nichts für sein Äußeres tat, war er ein sehr hübscher Kerl. Die Mädchen im Kurs tuschelten, Horst sehe aus wie David Bowie, bloß besser und mit schöneren Zähnen.

Doch Horst machte sich nichts aus dem Interesse, das die Damenwelt ihm entgegenbrachte. Er bewegte sich langsam und tat zögerlich, was Elli ihm auftrug. Wenn sie sich über seine Trägheit beschwerte, grinste er, als könne er sich dadurch ihre schlechte Stimmung vom Leib halten, und befolgte unaufgeregt ihre Befehle.

»Der Horst liegt da drüben«, wiederholte sie so leise, dass ich sie kaum verstand. »Er rührt sich nicht, und sein Kopf ist voll Blut. Ich glaube, er ist …«

Sie stockte, und ich merkte, wie mir eine eisige Hand in die Magengrube fuhr.

»Ich glaube, er ist tot«, vervollständigte Elli den Satz, drückte die Zigarette in den Aschenbecher und sah mich mit gelben Katzenaugen an. Ihr Gesicht war spitz geworden. Sie kam mir vor wie ein halb verhungertes, scheues Herbstkätzchen, das man in die Enge getrieben hatte, um es zu fangen.

»Und warum rufst du nicht die Polizei an?«, brachte ich gerade noch heraus. Mein Mund war strohtrocken.

Sie blickte auf den Boden vor meinen Füßen. »Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Da bist du mir eingefallen.«

»Warum ich?«

»Ich habe nicht viele Freunde. Und die wenigen sitzen im Rollstuhl.«

»Wie kommst du darauf, dass wir Freunde sind?«

»Ich hatte immer den Eindruck, dass du mich magst.« Sie schaute kurz auf. Jetzt tat sie mir leid.

»Jedenfalls müssen wir die Polizei holen«, meinte ich.

»Willst du nicht nachsehen, ob er wirklich …?«

»Nein!«, sagte ich und schüttelte energisch den Kopf. »Ich kann kein Blut sehen.«

»Vielleicht habe ich mich getäuscht«, flüsterte sie und zündete sich eine weitere Zigarette an.

»Das wird die Polizei feststellen. Ich geh jedenfalls nicht in das Zimmer. Mir graust es vor Toten.« Ich erhob mich und schaute an den Türstock gelehnt in den Gang. »Hast du ein Telefon?«

»Nein.«

»Und wo kann ich anrufen?«

»Fünfzig Meter vom Haus ist eine Telefonzelle.«

Ich kontrollierte meine Hosentaschen. Mist! Ich hatte kein Geld eingesteckt.

»Der Notruf ist frei«, sagte Elli.

Ich verließ die Wohnung und lief zur Telefonzelle. Dort schilderte ich der Dame in der Notrufzentrale in knappen Sätzen die Situation. Sie versprach mir, eine Streife vorbeizuschicken. In wenigen Minuten sollte sie da sein.

Auf dem Rückweg beschloss ich, mich gleich nach Eintreffen der Beamten zu verdrücken. In einer knappen halben Stunde würde das Studentenheim geschlossen.

Als ich zurückkam, saß Elli immer noch am Küchentisch. Immer noch starrte sie in den vollen Aschenbecher. Die Polizei würde bald eintreffen, sagte ich. Ich verschwieg aber, dass ich dann gleich verschwinden wollte.

»Horst war ein seltsamer Typ«, begann sie mit monotoner Stimme. »Nach drei Monaten wusste ich nicht viel mehr über ihn als nach drei Stunden.«

»Wie meinst du das?«

»Wir waren monatelang fast jeden Tag zusammen, und doch war er immer sehr weit weg von mir.« Elli hob die Augenlider. »Sogar wenn er mich aus dem beschissenen Rollstuhl hob oder mich wieder hineinsetzte.«

Ihre Augen hatten etwas, das mich auf der Hut sein ließ.

Ich überlegte. »Sind uns nicht die meisten Menschen fremd? Sogar Leute, mit denen wir jeden Tag zu tun haben.« Als ich den Satz beendet hatte, ärgerte ich mich, eine derart hohle Phrase gedroschen zu haben.

Doch Elli nickte und sagte kein Wort mehr.

So hatte ich Zeit, über sie nachzudenken: Wir mochten uns irgendwie, und in den Pausen zwischen den Vorlesungen hatten wir uns öfters unterhalten. Es ging ihr auf die Nerven, in einem Zeitalter der Überarbeitung und Unterbildung zu leben. Ihrer Meinung nach waren die meisten Akademiker so fleißig, dass sie über ihren Büchern verblödeten. Und mit dieser Ansicht hielt sie nicht hinterm Berg. Ihr beißender Sarkasmus und dass sie den anderen Studenten, aber auch den Professoren gegenüber kein Blatt vor den Mund nahm, beeindruckte mich. Sie erinnerte mich an Max Stockmeier, meinen Freund aus dem Internat in Heiligenbeuern.

Die meisten Dozenten konnten sie nicht leiden. Elli war vorlaut und kritisierte alles, was ihr nicht passte. Aber in den Übersetzungskursen war sie die Beste. Mit Abstand. Sie hatte einen scharfen Verstand und ein hervorragendes Gedächtnis. Je schwieriger ein Text war, desto mehr Spaß schien sie daran zu haben.

Nach einer kleinen, stummen Ewigkeit hörte ich die Sirene eines Streifenwagens näher kommen. Autotüren wurden zugeschlagen. Es klingelte. Kurz darauf standen zwei Polizisten in der Wohnung....