Turbulenzen

von: Leslie Larson

Verlag Krug & Schadenberg, 2014

ISBN: 9783944576251 , 372 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 4,99 EUR

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Turbulenzen


 

Dienstag, 19. November

1

Wylie machte sein Auge wieder zu schaffen. Sein Auge und das Handgelenk, das er sich vierzig Jahre zuvor gebrochen hatte, als er während der Fahrt hinten vom Pick-up seines Vaters gefallen war. Er war elf gewesen. Jetzt schmerzte es, wann immer sich Regen ankündigte. Wie ein gottverdammtes Barometer. Er presste eine Limette über einem Bombay Tonic aus und ließ den Blick über die Abfertigungshalle schweifen, wo der Strom der morgendlichen Geschäftsreisenden allmählich nachließ. Die Schlange an der Sicherheitskontrolle hatte sich nahezu aufgelöst. Er sah zu, wie sich ein massiger Mann, dessen grauer Geschäftsanzug ihn wie einen Elefanten aussehen ließ, unbeholfen bückte, seine Schuhe auszog und den Metalldetektor passierte. Die Sicherheitsbeamten in ihren khakifarbenen Uniformen und Latexhandschuhen standen plaudernd hinter den Röntgengeräten und stapelten Plastikkörbe ineinander, während sie auf den nächsten Ansturm von Passagieren warteten. Wylie servierte dem Gast seinen Drink, nahm das Geld entgegen und tippte die Summe in die Kasse. Von seinem Platz hinter der Theke hatte er einen guten Blick auf die Reisenden, die von den Ticketschaltern herbeiströmten und den Pavillon durchquerten, in dem sich seine Bar befand, zusammen mit einem See’s Süßwarenstand, dem Espresso-Ausschank unter dem großen Schirm, einem Zeitungs- und Souvenirladen, der La Paz Cantina und einem Geschäft, in dem man Mitbringsel für Hunde kaufen konnte. Am anderen Ende zwängten sich die Passagiere durch das Nadelöhr der Sicherheitskontrolle, wurden durch Metalldetektoren geschleust und an der anderen Seite wieder ausgespien, wo sie ihre Habseligkeiten zusammenklaubten und zu den Gates verschwanden.

Wylies Augenlid flatterte und zuckte, als sei ein Käfer unter der Haut gefangen. Stress, dachte er, obwohl ihm kein Grund einfiel, warum er nervös sein sollte. Eine magere Frau mit viel zu dunklem Teint bestellte einen Screwdriver. Wylie zählte die Eiswürfel, während er sie in das Glas fallen ließ, kein gutes Zeichen. Nicht fünf, nicht neun. Sieben. Sonst konnte wer weiß was geschehen. Er fügte einen weiteren hinzu, acht, sich selbst zum Trotz. Um das Syndrom kurzzuschließen. Doch kurz bevor er den Drink servierte, fischte er ihn wieder heraus. Wenn das Unheil hereinbrach, sollte sein letzter Gedanke nicht sein: Ich hätte es bei sieben belassen sollen. Bitteschön, sagte er sich.

Auf der gegenüberliegenden Seite des Pavillons saßen Menschen auf Reihen von schwarzen Plastiksitzen und warteten auf das Auftauchen der eintreffenden Passagiere aus den Ankunftsgates. Um diese Zeit, kurz vor zehn Uhr morgens, waren die Sitzreihen nahezu leer. Die Geschäftsreisenden mit ihren akkuraten Anzügen und dem üppig aufgetragenen Eau de Cologne, gelegentlich ein Fleckchen getrocknetes Blut auf den frischrasierten Gesichtern, waren bereits auf dem Weg nach San Francisco oder New York. In Kürze würden Familien mit quengelnden Kindern hereinkommen, zusammen mit Menschen, die auf dem Weg zu einer Hochzeit oder einer Beerdigung oder in die Flitterwochen waren, und mit ausländischen Touristen, die heimflogen, nachdem sie Disneyland, Hollywood und den Pazifik gesehen hatten. Die Sitzreihen würden sich mit Menschen füllen, die Zeitung lasen und ihre Kinder ruhig zu halten suchten, während sie warteten und jedes Mal nervös aufblickten, wenn ein neuer Strom von Ankömmlingen mit Koffern und Kinderwagen eintraf.

»Kann ich einen Drink kriegen?«, rief ein dürres weißes Kerlchen, dessen Kopfform an eine Glühbirne erinnerte. Er pochte mit seinem Geld auf die Theke – eines von Wylies Lieblingsärgernissen.

»Sie wünschen?«, fragte Wylie mit gleichmütiger Stimme und legte eine Cocktailserviette vor ihn hin.

»Einen Dewar’s on the Rocks.«

Im Fernseher über der Bar hieß es in der Wettervorhersage, dass sich von Süden her ein Sturm näherte. Er würde am späten Abend eintreffen. Das erklärte Wylies Handgelenk, nicht aber sein Auge. Nicht dass man dieser Tage einen Grund brauchte, um nervös zu sein. Nirgends war man sicher – weder bei McDonald’s noch bei Safeway noch in seinem eigenen Zuhause. Weder auf der Arbeit noch im Auto noch in der Schule, und ganz gewiss nicht am Flughafen. Die Erde konnte sich aufbäumen und spalten. Ein Flugzeug konnte in diesem Augenblick auf sie zusteuern und genau hier in der Bar in einem Feuerball explodieren. Ein Durchgeknallter konnte Amok laufen und die Menschen mit einer Automatikwaffe niedermähen. Die einzige Zeit, in der du dich entspannen konntest, die einzige Zeit, in der du nicht befürchten musstest, verstümmelt oder getötet zu werden, dachte Wylie, während er den Scotch über das Eis goss, war, wenn du bereits tot warst.

»Sechs fünfzig«, sagte er, als er den Drink servierte.

»Ich habe keinen Doppelten bestellt«, entgegnete Glühbirne.

Wylie biss die Zähne zusammen. »Das ist ein einfacher.«

Der Typ machte ein großes Gewese darum, seine Brieftasche aus der hinteren Hosentasche hervorzuholen und die Scheine nach der passenden Summe durchzublättern. Als er das Geld endlich auf die Theke legte, klingelte das Telefon.

Wylie nahm das Geld. Der Tag ließ nichts Gutes hoffen.

Er ging ans Telefon. Er rechnete mit der Servicefirma des Flughafenbetreibers, die anrief, um ihm zu sagen, dass ein Elektriker käme, um die flackernde Birne der Lampe über der Kasse auszutauschen, oder mit der Managerin des Barbetreibers, für den er arbeitete, die wissen wollte, ob er eine zusätzliche Schicht übernehmen könnte. Er war überrascht, Carolyns Stimme zu hören.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte er besorgt. Sie hatte ihn noch nie zuvor bei der Arbeit angerufen. Er sah sein Haus in Flammen, die Hunde überfahren.

»Jaja. Es ist alles in Ordnung, Wylie. Tut mir leid, dass ich dich bei der Arbeit störe, aber hör mal …«

»Was gibt’s denn?«, unterbrach er sie. Kaum war die Sorge verflogen, war er genervt. Sie hatten ihre Gepflogenheiten.

»Also, hör zu. Ich möchte gern mit dir sprechen.« Carolyn klang unsicher.

Eine Flug-Crew eilte vorüber wie ein Schwarm Amseln. Die Bar füllte sich. Vor einigen Minuten war das Amber Ale prustend zur Neige gegangen. Das Spülbecken war voller benutzter Gläser, und an den Tischen drüben bei dem großen Fernsehbildschirm warteten sie auf Bedienung.

»Hör zu, Carolyn, kann ich dich in ein paar Minuten zurückrufen?«, fragte Wylie. »Hier ist gerade der Bär los.«

»Klar«, erwiderte sie. »Kein Problem.«

»Ich muss ein bisschen was aufholen. Ich ruf dich gleich zurück.«

Er räumte die leeren Gläser von der Theke und tauchte sie in das dampfende Wasser in der Spüle aus rostfreiem Stahl. Er füllte den Stapel Cocktailservietten auf und die Schalen mit Oliven, Limettenschnitzen und Maraschinokirschen. Er mochte das fluoreszierende Licht des Flughafens, das leise Surren der Konservenluft, den schreiend lila und goldfarben gemusterten Teppich. Draußen kämpfte sich die Sonne durch die Wolken. Fahles, milchiges Licht strömte durch die großen Fenster herein, verwandelte die vorübereilenden Menschen in Silhouetten und ließ die grellen Röhren an der Decke und die Anzeigetafeln, die Ankunfts- und Abflugszeiten verkündeten, verblassen. Zeitungen und Pappbecher sammelten sich auf den schwarzen Plastiksitzen im Wartebereich. Große Flugzeuge drückten ihre Nasen an die Fluggastbrücken; Tankschläuche hingen wie Nabelschnüre von ihren Bäuchen.

»Einen Ketel One!«, rief ein Mann, der wie ein Profi-Basketballspieler aussah. Er trug protzige Diamantohrstecker und jede Menge Goldkettchen. Sein Kumpel stand ihm in nichts nach. Er bestellte einen Cosmopolitan.

Wylie machte ein halbes Dutzend möglicher Todesfallen aus, während er die Drinks zubereitete. Die unbeaufsichtigte Sporttasche an der Wand, das Paket auf dem Stuhl neben der Glasvitrine, in der sich die Brezeln unter der Wärmelampe drehten, den Typ mit dem übergroßen Mantel, der sich verstohlen umsah, die Hände in den Taschen vergraben. Unterdessen nahmen sie den Fluggästen Nagelknipser, Taschenmesser und Pinzetten ab. Welch ein Witz. Die Leute hatten ja keine Ahnung, wie es war, sich immer zweimal zu überlegen, bevor man etwas anfasste, bevor man den Fuß hob und wieder absetzte. Es war dreißig Jahre her, seit Wylie in Vietnam gewesen war, aber er sah sich immer noch nach versteckten Bomben um, hielt immer noch nach Tretminen Ausschau. Die Leute wussten nicht, wie es war, sich ständig zu fragen, ob man seine Beine verlieren würde, seine Eier, sein Leben. Wylie hatte miterlebt, wie ein Neunzehnjähriger aus Tulsa, Oklahoma, auf eine Springmine trat, einen zweifachen Salto drehte wie ein Akrobat und anschließend in der Astgabel eines Baumes landete.

Eine kleine Frau mit Strähnchen im Haar nahm an der Ecke der Bar Platz, wo sich Hot Dogs auf metallenen Rollen drehten. Anfang dreißig, schätzte Wylie. Lackierte Fingernägel, ebenmäßige Züge. Eine kleine Narbe auf der Oberlippe. Sie ließ den Blick über die Flaschen hinter ihm schweifen, musterte die Zapfhähne.

Wylie nickte grüßend, wischte über die Theke und legte eine Cocktailserviette vor sie hin. »Was darf’s sein?«, fragte er.

»Ist das Bier alles vom Fass?«

»Ja. Aber das Amber Ale ist gerade alle.«

Sie betupfte beide Mundwinkel mit der Fingerspitze, als wolle sie etwas fortwischen. Wylie wartete geduldig, die Hände hinter dem Rücken. Er überlegte, ob er sich ihren Ausweis zeigen lassen sollte. Früher – ach, was. Aber dies war der Flughafen. Alles nach Vorschrift. Wer hätte gedacht, dass er hier enden würde?

»Ich glaube, ich nehme eine Margarita. On...