Jesus und seine Welt - Eine historische Spurensuche

von: Cay Rademacher

Ellert & Richter Verlag, 2014

ISBN: 9783831910038 , 160 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 8,49 EUR

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Jesus und seine Welt - Eine historische Spurensuche


 

Ein Reich von dieser Welt

Jesu Welt: Das ist eine abgelegene, vergleichsweise arme, ständig unruhige Region in einem der langlebigsten Weltreiche der Geschichte – dem Imperium Romanum.

Jahrhundertelang glich das Mittelmeer einem gigantischen Marktplatz. An seinen Rändern lebten – mal friedlich, oft kriegerisch – unterschiedliche Völker. Das Meer selbst war der Weg für Heere, Waren, Ideen, so dass im Laufe der Jahrhunderte zwar keine gemeinsame Zivilisation, aber doch ein großer Kulturraum entstand.

Vor allem im östlichen Mittelmeerraum – jenem Becken, das von Kleinasien bis etwa zu einer Linie Griechenland-Ägypten reicht – entwickelte sich schon früh eine erstaunliche Vielfalt. Das Reich der Pharaonen, das sich bereits im dritten vorchristlichen Jahrtausend ausgeformt hatte, war 2000 Jahre später immer noch eine Macht, wenn auch eine, die im Untergang begriffen war. In Kleinasien kämpften jahrhundertelang diverse Zivilisationen – die Hethiter etwa, die Lyder, Perser oder das Seefahrervolk der Phönizier – um die Vorherrschaft. Ihre Nachbarn waren die Griechen. Die hatten, zersplittert in Hunderte Stadtstaaten wie Athen, Korinth oder Milet, nicht nur die peloponnesische Halbinsel besiedelt, sondern auch, geschickte Seefahrer, die sie waren, Kolonien gegründet in Kleinasien, an den Schwarzmeerküsten, in Nordafrika und sogar weit im westlichen Mittelmeerraum: in Süditalien, Südfrankreich und Spanien.

Dort, im westlichen Mittelmeerraum, stießen die Griechen auf das Reich der Handelsmetropole Karthago in Nordafrika; auf Etrusker, die Mittelitalien beherrschten; auf Kelten in Frankreich und Iberer in Spanien. Und sie stießen auf eine, zunächst, kleine Stadt an einem Fluss irgendwo in Mittelitalien: auf Rom.

Als Jesus geboren wurde, war diese vielfältige Mittelmeerkultur noch immer gegenwärtig und doch zugleich Vergangenheit. Gegenwärtig, weil die Völker in verschiedenen Sprachen redeten und unterschiedliche Götter verehrten, weil die Griechen noch in ihren Städten saßen und die Kelten in Südfrankreich, weil phönizische Seefahrer noch immer das Meer befuhren und ägyptische Isis-Priesterinnen in Tempeln Opfer darbrachten.

Vergangenheit aber doch auch, weil alle Menschen des Mittelmeerraumes erstmals in der Geschichte dem gleichen Herrn unterworfen waren: dem Kaiser von Rom.

Vor allem Roms Herrschaft über die östliche Hälfte der Mittelmeerwelt war dabei jedoch ein noch vergleichbar neues Phänomen. Die Tiberstadt war als Republik groß geworden, als „Senatus Populusque Romanus“, „Senat und Volk von Rom“: SPQR. Im Senat bestimmten die Oberhäupter mächtiger Adelsfamilien wie der Scipionen die Politik. Roms Bürger, vor allem die Bauern, dienten als Soldaten in der Legion und erhielten im Falle eines Sieges einen angemessenen Anteil von Beute und Land.

So schwang sich die Stadt, vor allem in den Kämpfen gegen den nordafrikanischen Erzrivalen Karthago, im dritten und zweiten vorchristlichen Jahrhundert in endlosen Kriegen zur Beherrscherin des westlichen Mittelmeeres auf. Im Jahr 146 v. Chr. wurde Karthago dem Erdboden gleichgemacht – und Rom wandte sich endgültig ostwärts.

Während die Legionen Griechenland, den Balkan, dann Syrien unterwarfen, veränderte sich der Staat, der sie ausschickte. Schwere, Jahrzehnte währende Bürgerkriege erschütterten während des ersten vorchristlichen Jahrhunderts nun auch Rom selbst: Kämpfe mächtiger Heerführer, die das Gleichgewicht der Macht im Senat nicht länger akzeptieren wollten, sondern zur Alleinherrschaft strebten. Im Jahr 45 v. Chr. hatte sich Julius Caesar gegen alle Rivalen durchgesetzt. Zwar wurde er schon im Jahr darauf von Senatoren erdolcht, doch die Tage der Republik waren endgültig gezählt.

Nach weiteren Kämpfen um das Erbe Caesars ließ sich dessen Neffe und Adoptivsohn Octavian vom Senat im Jahr 27 v. Chr. den Ehrentitel „Augustus“ verleihen, „der Erhabene“. Von nun an war Rom ein Kaiserreich.

Augustus regierte bis 14 n. Chr. – eine ganze Generation lang, länger, als jemals ein römischer Kaiser auf dem Thron sitzen würde. In diesen Jahren formte er den neuen Staat: Der Kaiser stand allein an der Spitze, war oberster Feldherr, höchster Richter, wichtigster Priester in Person. Der Senat blieb als hoch geachtete Institution bestehen, verlor aber viel von der Macht, die er jahrhundertelang innegehabt hatte. Immerhin erwählte der Kaiser aus seinen Reihen viele Männer, die er als Gouverneure und Heerführer in die Provinzen schickte, um die unterworfenen Länder zu sichern, neue Gebiete zu erobern und die Grenzen zu verteidigen.

Doch insgesamt begann mit seiner Herrschaft, nach Jahrhunderten der Eroberungs- und Bürgerkriege, eine der friedlichsten Epochen, die das Abendland je kennen gelernt hatte. Die Menschen mochten Untertanen eines fernen Kaisers sein und somit nicht „frei“ in einem modernen politischen Sinn. Der großen Mehrheit jedoch – nicht nur der Römer, sondern auch der Germanen, Gallier, Iberer, Afrikaner, Syrer und anderer Provinzialen – ging es besser als je zuvor. Rom beendete die Willkürherrschaft lokaler Potentaten und brachte Rechtssicherheit; es schaffte viele Zollgrenzen und andere Handelshemmnisse lokaler Märkte ab und verteilte den Wohlstand eines Weltreiches in alle Regionen.

Als Augustus am 19. August des Jahres 14 n. Chr. starb, hinterließ er seinem Schwiegersohn und Nachfolger Tiberius ein stabiles, prosperierendes Reich, in dem schon lange alle Völker aus den Ländern des östlichen Mittelmeeres ihre Tribute an den Kaiser entrichten mussten. Bereits 30 v. Chr. – und zwar wegen der Kämpfe um Caesars Erbe – war zuletzt Ägypten zur römischen Provinz geworden. Der ganze Nahe Osten war bereits seit gut sieben Jahrzehnten Teil des Imperiums, darunter auch Judäa und Galiläa.

Nach Jahrhunderten der Kriege herrscht in der antiken Welt die Pax Romana. An Spaniens Atlantikküste und in der Judäischen Wüste, am Rhein und am ersten Nilkatarakt – überall stehen Legionen. Überall gelten dieselben Gesetze und zahlt man mit der gleichen Münze. Ein Straßennetz von rund 6000 Kilometer Länge durchzieht das Imperium, im Mittelmeer kreuzen Schiffe fast unbehelligt von Piraten. Die Boten des Kaisers und seine Legionen sind überall im Reich – aber auch Händler, Glücksucher, entflohene Sklaven, Künstler, Touristen. Und mit ihnen zirkulieren Ideen, Gerüchte, Geschichten.

Um zu verstehen, was sich in jenen Jahren Revolutionäres – im Sinne eines neuen Glaubens, einer anderen Spiritualität, anderer Werte, aber auch einer ganz anderen Einstellung zum alltäglichen Leben – im Nahen Osten anbahnte, muss man zunächst den Blick nach Italien lenken, zum Herzen des Imperiums: der Stadt Rom.

Denn Rom – Roms Bürger, Roms Kultur, Roms Reichtum, Roms Moden, Roms Werte – sind Maßstab für die Bevölkerung eines ganzen Weltreiches. Überall in den Provinzen, von Grenzposten wie den späteren Städten Köln oder London bis hin zu den alten Metropolen des Ostens, etwa Athen oder Alexandria, eifern die Menschen Rom nach. Amphitheater und Thermen werden errichtet, um sich so vergnügen zu können wie ein „echter“ Römer, Theater dienen derben Schauspielen, Praetorien der Verwaltung, Kanäle der Hygiene, Basiliken den Gerichtsverhandlungen, Foren dem Markt, dem Klatsch, der politischen Intrige. Rom mit seiner Pracht und Exzentrik, seinem Reichtum und seinem Zynismus, seinen blendenden Tempeln und düsteren Vergnügungsstätten ist weit mehr als „nur“ eine Metropole: Es ist eine geistige Macht, verführerisch und verschlingend. Jede neue Religion, jede strenge zumal, muss mit den gefährlichen Reizen der Tiberstadt konkurrieren – oder lernen, sie sich zunutze zu machen.

Wie aber fühlt sich Rom an, der Mittelpunkt des Imperiums? Wie riecht es? Vielleicht lässt sich der Charakter einer Stadt nur erfassen, wenn man Augen und Ohren für einen Moment verschließt. Wie also fühlt sich Rom an? Wie kühler Marmor? Glatt wie Gold? Warm wie Holz und Ziegel unter der Sonne?

Nein: Rom fühlt sich rau und ein wenig mürbe an wie bröckelnder Beton. Und die Stadt stinkt nicht einfach oder duftet – sie überfordert die Nase mit ihrer Luft. Kot und Urin, Blumen und Honig, Wein und Bronze, der Dunst von Bratenfett und ranzigem Lampenöl, der Staub von zertrümmerten Steinen und Ziegeln, die billigen Duftwässerchen der Straßendirnen und käuflichen Knaben, das sanfte Aroma erlesener Dufthölzer, Pinien in Gärten, Lavendel- und Rosenessenz, Pfeffer, Kardamom und viele weitere Gewürze des Ostens, Blut von Tieren und Menschen – alles schwitzt die Stadt zugleich aus, ohne Unterlass jede Stunde, jeden Tag, Jahr um Jahr, Jahrhundert um Jahrhundert.

Das Wahrzeichen Roms ist nicht der Jupitertempel auf dem Kapitol, mit seiner Front aus sechs weißen ionischen Marmorsäulen, der den Herrn der Götter verherrlicht. Zwar opfern hier täglich Priester und Bürger, die ihre Köpfe mit ihren Togen verhüllt haben. Und so lange sie Jupiter huldigen, so besagt eine Legende, wird Rom bestehen. Doch mit den Herzen sind sie nicht dabei, ihr Ritus ist Ritual geworden. Ist, wenn überhaupt, Aberglaube, nicht Glaube.

Nein, das echte Wahrzeichen Roms, sind seine insulae – die schäbigen, fünf- bis siebengeschossigen Wohnblocks, die fast alle Straßen und Gassen der Stadt säumen, überwölben. Die Wände aus einer dünnen betonähnlichen Masse (siehe Seite 21), die Decken aus Holzbohlen, die Fensterbänder ohne Glas, die Fassaden mit Putz...