Denn sie betrügt man nicht - Roman

von: Elizabeth George

Goldmann, 2014

ISBN: 9783641136451 , 720 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Denn sie betrügt man nicht - Roman


 

1


Wer behauptet, der April sei der grausamste Monat des Jahres, war nie während einer sommerlichen Hitzewelle in London. Etwas Grausameres als die letzten Junitage, da die Luftverschmutzung den Himmel in elegantes Braun kleidete, Dieseldämpfe Gebäude – und Nasenwände – mit schlichtem Schwarz umschleierten und das Laub der Bäume sich in hochmodischem Staubgrau präsentierte, gab es nicht. Es war die Hölle. Zu dieser unsentimentalen Bewertung der Hauptstadt ihres Heimatlandes gelangte jedenfalls Barbara Havers, als sie in ihrem klappernden Mini durch die Stadt heimwärts fuhr.

Sie war ganz leicht – aber dennoch angenehm – angesäuselt. Nicht so sehr, daß sie sich selbst oder andere auf der Straße hätte gefährden können, aber doch so weit, daß sie auf die Ereignisse des Tages durch das rosige Licht zurückblicken konnte, das teurer französischer Champagner zu entzünden pflegt.

Sie kehrte von einer Hochzeit nach Hause. Sie war nicht das gesellschaftliche Ereignis des Jahrzehnts gewesen, was sie von einem Tag, an dem ein hochwohlgeborener Earl endlich seine langjährige Angebetete heimführte, eigentlich erwartet hätte. Es war vielmehr eine Trauung in aller Stille auf dem Standesamt in Belgravia gewesen, wo besagter Earl seinen Wohnsitz hatte. Und statt blaublütiger Gäste in Samt und Seide waren nur die engsten Freunde des Earl geladen gewesen sowie einige seiner Polizeikollegen von New Scotland Yard. Barbara Havers gehörte zur letzteren Gruppe, obwohl sie sich manchmal schmeichelte, auch zur ersteren zu gehören.

Bei genauerer Überlegung war Barbara klar, daß sie von Inspector Thomas Lynley eigentlich nichts anderes hatte erwarten können als so eine Trauung im engsten Kreis. Solange sie ihn kannte, hatte er, der den Titel Lord Asherton trug, sein adeliges Licht stets unter den Scheffel gestellt, und das letzte, was er gewollt hätte, wäre ein rauschendes High-Society-Fest gewesen. So hatten sich also statt dessen sechzehn Gäste, die entschieden nicht High-Society waren, versammelt, um Lynley und Helen Clyde beim Sprung in die Ehe Beistand zu leisten, und hinterher hatte man sich ins La Tante Claire in Chelsea begeben, wo sechs verschiedene Arten von Hors d’œuvres, Champagner, ein Mittagessen und noch mehr Champagner gewartet hatten.

Nachdem alle Reden gehalten waren und das Hochzeitspaar in die Flitterwochen aufgebrochen war, deren Ziel preiszugeben es sich lachend geweigert hatte, löste sich die Gesellschaft auf. Barbara stand auf dem glühendheißen Pflaster der Royal Hospital Road und schwatzte noch ein wenig mit den anderen Gästen, unter ihnen Lynleys Trauzeuge Simon St. James, seines Zeichens Gerichtsmediziner. Nach bester englischer Manier hatte man sich zunächst über das Wetter unterhalten. Je nachdem, welche Einstellung der Sprecher zu Hitze, Luftfeuchtigkeit, Smog, Abgasen, Staub und grellem Licht hatte, wurde die derzeitige Witterung als wunderbar, gräßlich, angenehm, verdammt unangenehm, herrlich, köstlich, unerträglich, himmlisch oder schlicht höllisch eingestuft. Die Braut erhielt das Prädikat bezaubernd, der Bräutigam gutaussehend. Das Essen erhielt die Note hervorragend. Danach trat eine allgemeine Pause ein, während der die Gesellschaft sich entscheiden mußte, ob man das Gespräch fortsetzen und riskieren wollte, daß es über Banalitäten hinausging, oder sich lieber freundlich verabschiedete.

Die Gruppe löste sich auf. Barbara blieb mit St. James und seiner Frau Deborah zurück. Beide stöhnten unter der gnadenlosen Sonne. St. James tupfte sich die Stirn immer wieder mit einem weißen Taschentuch, und Deborah fächelte sich mit einem alten Theaterprogramm, das sie aus ihrer geräumigen Strohtasche gekramt hatte, eifrig Kühlung zu.

»Kommen Sie noch mit zu uns, Barbara?« fragte sie. »Wir setzen uns den Rest des Tages in den Garten und lassen uns von Dad mit dem Gartenschlauch abspritzen.«

»Das klingt sehr verlockend«, sagte Barbara. Sie rieb sich den schweißfeuchten Hals.

»Wunderbar.«

»Aber ich kann nicht. Ehrlich gesagt, ich bin ziemlich fertig.«

»Verständlich«, meinte St. James. »Wie lang ist es jetzt her?«

»Wie dumm von mir«, sagte Deborah hastig. »Entschuldigen Sie, Barbara. Ich hatte es ganz vergessen.«

Das bezweifelte Barbara. Angesichts des Pflasters über ihrer Nase und der Blutergüsse im Gesicht – ganz zu schweigen von dem angeschlagenen Schneidezahn – konnte wohl kaum jemand übersehen, daß sie kürzlich noch im Krankenhaus gelegen hatte. Deborah war nur zu höflich, um es zu erwähnen.

»Zwei Wochen«, antwortete Barbara auf St. James’ Frage.

»Was macht die Lunge?«

»Sie funktioniert.«

»Und die Rippen?«

»Die tun nur noch weh, wenn ich lache.«

St. James lächelte. »Haben Sie Urlaub genommen?«

»Ich bin dazu verdonnert worden. Ich darf erst wieder arbeiten, wenn ich die Genehmigung des Arztes habe.«

»Das war wirklich eine schlimme Geschichte«, sagte St. James. »So ein Pech.«

»Hm, na ja.« Barbara zuckte die Achseln. Zum ersten Mal hatte sie in einem Mordfall einen Teil der Ermittlungen ganz selbständig geleitet, und prompt war sie in Ausübung ihrer Pflicht verwundet worden. Sie sprach ungern darüber. Ihr Stolz hatte so sehr gelitten wie ihr Körper.

»Und was haben Sie nun vor?« fragte St. James.

»Sehen Sie zu, daß Sie der Hitze entkommen«, riet Deborah. »Fahren Sie in die Highlands. Oder ins Seengebiet. Oder fahren Sie ans Meer. Ich wollte, wir könnten hier weg.«

Barbara sann über Deborahs Vorschläge nach, während sie die Sloane Street hinauffuhr. Nach Abschluß des letzten Falles hatte Inspector Lynley ihr strengen Befehl gegeben, Urlaub zu machen, und hatte diesen Befehl bei einem kurzen persönlichen Gespräch nach der Hochzeit noch einmal wiederholt.

»Es ist mir ernst, Barbara«, hatte er gesagt. »Sie haben Urlaub gut, und ich möchte, daß Sie ihn nehmen. Ist das klar?«

»Klar, Inspector.«

Nur war leider gar nicht klar, was sie mit der aufgezwungenen Muße anfangen sollte. Der Gedanke, eine Zeitlang ganz ohne Arbeit auskommen zu müssen, war für sie so beängstigend, wie er nur für eine Frau sein konnte, die ihr Privatleben, ihre wunde Seele und ihre empfindlichen Gefühle allein dadurch in Schach hielt, daß sie nie Zeit hatte, sich um sie zu kümmern. In der Vergangenheit hatte sie ihre Urlaube vom Yard dafür verwendet, ihren schwerkranken Vater zu betreuen. Nach seinem Tod hatte sie ihre freien Stunden dazu genutzt, mit der geistigen Verwirrung ihrer alten Mutter fertig zu werden, für die Renovierung und den Verkauf des elterlichen Hauses zu sorgen und ihren eigenen Umzug in ihr jetziges Häuschen zu erledigen. Muße war nichts für sie. Allein die Vorstellung von Minuten, die sich zu Stunden summierten, zu Tagen dehnten, zu einer ganzen Woche oder vielleicht sogar zwei… Ihre Hände wurden feucht bei dieser Aussicht. Schmerz schoß bis in ihre Ellbogen. Jede Faser ihres kleinen, stämmigen Körpers bäumte sich auf und schrie: »Panik«!

Während sie ihren Wagen durch den Verkehr steuerte und ein Rußteilchen wegzwinkerte, das auf einem glühenden Luftzug durch das offene Fenster hereingetragen worden war, fühlte sie sich wie eine Frau am Rand eines Abgrunds, der jäh ins Nichts abfiel und mit dem gefürchteten Wort »Freizeit« ausgeschildert war. Was sollte sie tun? Was sollte sie unternehmen? Wohin fahren? Wie die endlosen Stunden füllen? Mit der Lektüre von Liebesromanen? Mit der gründlichen Reinigung der lächerlichen drei Fenster, die ihr Häuschen hatte? Mit Übungsstunden im Backen, Bügeln und Nähen? Wahrscheinlich würde sie sowieso gleich einen Hitzekoller bekommen. Diese verdammte Hitze, diese elende Hitze, diese widerliche, ätzende, beschissene Hitze, diese –

Reiß dich zusammen, Barbara, fuhr sie sich an. Du bist zum Urlaub verurteilt, nicht zu Einzelhaft.

Am Ende der Sloane Street wartete sie geduldig, bis sie in die Knightsbridge Road abbiegen konnte. Sie hatte im Krankenhaus täglich die Fernsehnachrichten angesehen und wußte, daß das ungewöhnlich warme Wetter einen noch größeren Schwall ausländischer Touristen als sonst nach London gelockt hatte. Aber hier sah sie sie in Fleisch und Blut: Horden von Menschen, die sich mit Mineralwasserflaschen bewaffnet die Bürgersteige entlangschoben. Weitere Horden drängten aus dem U-Bahnhof Knightsbridge herauf und spritzten auseinander, um direkten Kurs auf die schicken Geschäfte der Gegend zu nehmen. Und fünf Minuten später, als Barbara es geschafft hatte, sich die Park Lane hinaufzuschlängeln, sah sie sie – Seite an Seite mit ihren eigenen Landsleuten – im Hyde Park, wo sie auf durstigem Rasen ihre lilienweißen Körper dem Sonnengott darboten. Unter der glühenden Sonne zuckelten Doppeldeckerbusse mit offenem Verdeck durch die Straßen, beladen mit Passagieren, die begierig den Ausführungen der Fremdenführer an den Mikrofonen lauschten. Große Reisebusse spieen vor jedem Hotel Deutsche, Koreaner, Japaner und Amerikaner aus.

Und alle atmen wir die gleiche Luft, dachte sie. Die gleiche heiße, verpestete Luft. Vielleicht wäre ein Urlaub doch das richtige.

Sie mied die ewig verstopfte Oxford Street und fuhr statt dessen durch die Edgware Road in nordwestlicher Richtung. Hier draußen lichtete sich die Masse der Touristen, wich den Immigrantenmassen: dunkelhäutige Frauen in sari, ch?dor und hijab; dunkelhäutige Männer in Aufmachungen, die von Bluejeans bis zum Kaftan reichten. Während Barbara, in den Verkehrsstrom eingekeilt, im Schrittempo dahinkroch, beobachtete sie diese einstigen Fremden, die sicher und zielstrebig ihrer Wege gingen, und gedachte flüchtig der Veränderungen, die...