Die Wahrheit und andere Lügen - Roman

von: Sascha Arango

C. Bertelsmann, 2014

ISBN: 9783641090319 , 304 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 7,99 EUR

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Die Wahrheit und andere Lügen - Roman


 

I

Fatal. Ein kurzer Blick auf das Bild genügte, um der dunklen Ahnung der vergangenen Monate Gestalt zu geben. Der Embryo lag gekrümmt wie ein Lurch, ein Auge schaute ihn direkt an. War das da ein Bein oder ein Fangarm über dem Drachenschwanz?

Momente großer Gewissheit gibt es im Leben nur wenige. Doch in diesem Augenblick sah Henry in die Zukunft. Dieser Lurch würde wachsen, eine Person werden. Er würde Rechte haben, Ansprüche, er würde Fragen stellen und irgendwann alles erfahren, um ein Mensch zu werden.

Auf dem Ultraschallbild, etwa so groß wie eine Postkarte, war rechts neben dem Embryo eine Grauskala zu erkennen, links Buchstaben, ganz oben das Datum, der Name der Mutter und der Name der Ärztin. Henry hatte nicht den geringsten Zweifel, dass es echt war.

Betty saß rauchend neben ihm am Steuer des Wagens und sah Tränen in seinen Augen. Sie legte ihre Hand auf seine Wange. Sie glaubte, es seien Tränen der Freude. Er aber dachte an seine Frau Martha. Warum konnte sie kein Kind von ihm bekommen? Warum musste er jetzt mit dieser anderen Frau im Auto sitzen?

Er verachtete sich, er spürte Scham, es tat ihm aufrichtig leid. Das Leben gibt dir alles, war stets Henrys Devise, aber nie alles auf einmal.

Es war Nachmittag. Von den Klippen stieg das monotone Rollen der Brandung auf, der Wind bog die Gräser und drückte gegen die Seitenscheiben des grünen Subaru. Henry musste nur den Motor anlassen, aufs Gaspedal treten, der Wagen würde über die Klippen rasen und tief hinab in die Brandung stürzen. In fünf Sekunden wäre alles vorbei, der Aufprall würde alle drei töten. Dazu hätte er aber vom Beifahrersitz aufstehen müssen, um mit Betty die Plätze zu tauschen. Viel zu umständlich.

»Was sagst du?«

Was sollte er sagen? Die Sache war schon schlimm genug, dieses Ding in ihrem Uterus bewegte sich bestimmt schon, und wenn Henry etwas gelernt hatte, dann, nichts preiszugeben, was besser ungesagt bleibt.

In den vergangenen Jahren hatte Betty ihn nur einmal weinen sehen, das war, als man ihm die Ehrendoktorwürde am Smith College von Massachusetts verlieh. Bis dahin dachte sie, Henry würde niemals weinen. Henry hatte still in der ersten Reihe gesessen und an seine Frau gedacht.

Betty lehnte sich über den Schaltknüppel und umarmte ihn. So lauschten sie schweigend dem Atem des anderen, dann öffnete Henry die Beifahrertür und übergab sich ins Gras. Er sah die Lasagne wieder, die er Martha zum Mittag gekocht hatte. Sie ähnelte einem Embryokompott aus fleischfarbenen Teigklumpen. Bei diesem Anblick verschluckte er sich und begann fürchterlich zu husten.

Sie streifte die Schuhe ab, sprang aus dem Wagen, zog Henry von seinem Sitz, schloss beide Arme um seinen Brustkorb und presste sie kraftvoll zusammen, bis ihm Lasagne aus dem Nasenloch quoll. Phänomenal, wie Betty ohne nachzudenken das Richtige tat. So standen beide neben dem Subaru im Gras, und der Wind ließ Meerschaumflocken schneien.

»Jetzt sag. Was sollen wir tun?«

Die richtige Antwort wäre gewesen: Liebling, das hier endet nicht gut. Eine solche Antwort aber hat Konsequenzen. Sie ändert Dinge oder lässt sie ganz verschwinden. Bereuen nutzt dann auch nichts mehr. Und wer will schon etwas ändern, das gut ist und bequem?

»Ich fahre nach Hause und erzähle alles meiner Frau.«

»Wirklich?«

Henry sah die Verblüffung in Bettys Gesicht, er war selbst überrascht. Warum hatte er das gesagt? Henry neigte nicht zur Übertreibung, alles erzählen wäre nicht nötig gewesen.

»Was meinst du mit alles

»Alles. Ich werde ihr einfach alles sagen. Keine Lügen mehr.«

»Und wenn sie dir verzeiht?«

»Wie könnte sie?«

»Und das Kind?«

»Wird ein Mädchen, hoffe ich.«

Betty umarmte Henry und küsste ihn auf den Mund. »Henry, du kannst groß sein.«

Ja, er konnte groß sein. Er würde jetzt nach Hause fahren und Lüge durch Wahrheit ersetzen. Endlich alles erzählen, schonungslos, samt all der hässlichen Details, na, vielleicht nicht aller, aber doch das Wesentliche. Dazu musste er tief ins Gesunde schneiden, Tränen würden fließen, entsetzlich weh tun würde das, ihm selber auch. Es wäre das Ende des Vertrauens und der Harmonie zwischen Martha und ihm – aber auch ein Akt der Befreiung. Er wäre kein ehrloser Lump mehr und müsste sich nicht mehr so entsetzlich schämen. Es musste sein. Wahrheit vor Schönheit, alles Weitere würde sich ergeben.

Er umfasste Bettys schlanke Taille. Im Gras lag ein Stein, groß und schwer genug, einen tödlichen Schlag auszuführen. Er musste sich nur bücken, um ihn aufzuheben.

»Komm, steig ein.«

Er setzte sich ans Steuer, startete den Motor. Statt vorwärts über die Klippen zu rasen, legte er den Rückwärtsgang ein und ließ den Subaru langsam zurückrollen. Ein großer Fehler, wie er später fand.

* * *

Der schmale Weg aus gelochten Betonplatten wand sich kaum sichtbar durch einen dichten Kiefernhain von den Klippen bis zum Forstweg, wo sein Wagen stand, verdeckt von tief hängenden Ästen. Betty kurbelte das Seitenfenster herunter, zündete sich die nächste Mentholzigarette an, atmete den Rauch ein.

»Sie wird sich doch nichts antun, oder?«

»Das will ich nicht hoffen.«

»Wie wird sie reagieren? Wirst du ihr sagen, dass ich es bin?«

Dass du was bist?, wollte Henry fragen.

»Ich sag’s ihr, wenn sie mich danach fragt«, antwortete er stattdessen.

Natürlich würde Martha fragen. Jeder Mensch, der erfährt, dass man ihn methodisch hintergangen hat, will wissen, warum, wie lange und mit wem. Das ist normal. Betrug ist ein Rätsel, das wir lösen wollen.

Betty legte Henry ihre Hand mit der brennenden Zigarette auf den Schenkel. »Schatz, wir haben doch aufgepasst. Ich meine, wir wollten doch beide kein Kind, oder?«

Henrys Zustimmung konnte nicht größer und tief empfundener sein. Nein, er wollte kein Kind und besonders nicht von Betty. Sie war seine Geliebte, würde niemals eine gute Mutter werden, hatte überhaupt nicht das Herz dazu, dafür war sie viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Ein gemeinsames Kind würde ihr Macht über ihn verleihen, sie würde seine Tarnung niederreißen und Druck auf ihn ausüben bis zur letzten Konsequenz. Seit Längerem schon hatte er mit dem Gedanken gespielt, sich sterilisieren zu lassen, aber etwas Unbestimmbares hatte ihn davon abgehalten. Vielleicht war es der Wunsch, doch noch ein Kind mit Martha zu haben.

»Es hat irgendwie entstehen wollen«, sagte er.

Betty lächelte, ihre Lippen zitterten. Henry hatte den richtigen Ton getroffen.

»Ich glaube, es wird ein Mädchen.«

Sie stiegen aus, tauschten wieder die Plätze. Betty setzte sich hinter das Steuer, zog einen Schuh an, trat mechanisch auf die Kupplung und bewegte den Schaltknüppel hin und her.

Er freut sich nicht, dachte sie. Aber war es nicht ein wenig viel verlangt von einem Mann, der gerade beschlossen hat, sein Leben zu ändern und seine Ehe zu beenden? Betty wusste trotz der jahrelangen Affäre mit ihm recht wenig über Henry, soviel aber wusste sie: Henry war kein Familienmann.

Sie kann es nicht abwarten, dachte er. Sie kann nicht warten, dass ich alles für sie aufgebe. Er hatte indes nicht die Absicht, seine sorgenfreie Abgeschiedenheit gegen ein Familienleben zu tauschen, für das er nicht geschaffen war. Nach der großen Beichte bei seiner Frau musste eine neue Identität her. Es würde viel Arbeit machen, sich einen anderen Henry auszudenken, einen Henry nur für Betty. Allein der Gedanke daran machte ihn müde.

»Kann ich irgendwas tun?«

Henry nickte. »Hör mit dem Rauchen auf.«

Betty sog an der Zigarette, schnippte sie weg. »Es wird schrecklich.«

»Ja. Es wird schrecklich. Ich rufe dich an, wenn’s vorbei ist.«

Sie legte den Gang ein. »Wie weit bist du mit dem Roman?«

»Fehlt nicht mehr viel.«

Er beugte sich zu ihr in die offene Tür. »Hast du irgendwem was gesagt von uns?«

»Absolut niemandem«, erwiderte sie.

»Das Kind ist von mir, nicht wahr? Ich meine, es ist wirklich da, es wird kommen?«

»Ja. Es ist von dir. Es wird kommen.«

Sie streckte ihm die leicht geöffneten Lippen zum Kuss entgegen. Widerstrebend beugte er sich zu ihr, ihre Zunge drang in seinen Mund wie eine dicke, gewindelose Schraube. Henry schloss die Fahrertür des Subaru. Sie fuhr den Forstweg hinunter Richtung Landstraße. Er schaute ihr nach, bis sie verschwunden war. Dann trat er ihre halb gerauchte Zigarette aus, die noch brennend im Gras lag. Er glaubte ihr. Betty würde ihn nicht anlügen, weil sie dafür viel zu phantasielos war. Sie war jung und sportlich, viel eleganter als Martha, schön war sie und nicht so gescheit, aber ungemein praktisch. Und jetzt war sie schwanger von ihm, ein Vaterschaftstest erübrigte sich.

Bettys kühler Pragmatismus hatte Henry schon bei der ersten Begegnung imponiert. Was ihr gefiel, nahm sie sich. Sie hatte Esprit und schlanke Füße, Sommersprossen auf den Apfelsinenbrüsten, grüne Augen und lockiges, blondes Haar. Bei ihrer ersten Begegnung trug sie ein Kleid, das mit bedrohten Tierarten bedruckt war.

Die Affäre hatte im Augenblick ihrer Begegnung begonnen. Henry musste sich nicht anstrengen, sich nicht verstellen, nicht um sie werben, er musste – wie so...