Ruf mich an, wenn du tot bist (eBook)

von: Anne Borel

ars vivendi, 2011

ISBN: 9783869133331 , 205 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

Windows PC,Mac OSX geeignet für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 9,99 EUR

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Ruf mich an, wenn du tot bist (eBook)


 

 

1

Anouk schaltete ihren Computer aus. »Schönen Abend, bis morgen.« Ihr Kollege sparte sich eine Antwort. Blödmann!, dachte sie. Warum verabschiede ich mich überhaupt noch von dem? Jeden Abend treibt er dasselbe Spielchen mit mir. Wahrscheinlich aus Prinzip …

Sie musste daran denken, wie er vor zwei Jahren hier angefangen hatte. Er war neu und suchte ihre Hilfe. Jetzt, da er eingearbeitet war, konnte ihm Anouk nichts mehr nützen. Im Gegenteil, sie störte, denn sie galt als kompetent und man arbeitete gerne mit ihr zusammen. Trotz seiner gespielten Herzlichkeit und seines aufgesetzten Lächelns hatte Anouk die wachsende Rivalität gespürt und war misstrauisch geworden.

Beim Hinausgehen sagte sie dem Mann vom Sicherheitsdienst Auf Wiedersehen, während sie der Drehtür mit der Hüfte einen Schubs gab.

19.30 Uhr. Sie würde schon wieder zu spät zum Abendessen mit ihrem Vater kommen. Seitdem sie eine eigene Wohnung hatte, trafen sie sich jeden zweiten Mittwoch zum Essen. Nur selten kam es vor, dass sie die Vereinbarung platzen ließen. Sie verabredeten sich nicht aus Pflichtgefühl, sondern weil sie Lust dazu hatten. Das unsichtbare Band, das sie zusammenhielt, war nach dem Tod ihrer Mutter noch fester geworden. Sie war damals erst acht Jahre alt gewesen.

Sobald sie im Auto saß, nahm sie ihr Handy und drückte auf die Telefonbuch-Taste.

»Ja? Hallo?«

»Ich bin’s, Papa. Ich bin in 20 Minuten in Granville.«

»In einer guten halben Stunde also? Kommst du gerade aus dem Büro?«

»Ja, in diesem Augenblick.«

»Du arbeitest zu viel, Anouk.«

»Ich weiß.«

»Also gut, ich will nicht wieder damit anfangen. Treffen wir uns direkt im Restaurant?«

»Ja, bis gleich.« Sie gab Gas.

An der Stadtgrenze von Granville blickte sie in den Rückspiegel und vergewisserte sich, dass die Polizei nicht hinter ihr herfuhr. Dann wählte sie erneut eine Handynummer. Dabei ärgerte sie sich, dass sie immer noch keine Freisprechanlage hatte. Morgen würde sie eine kaufen! Unbedingt!

»Claire? Ich bin’s … Na ja, es geht so, nur der eine Kollege nervt mich, wie immer. Aber was soll’s! Und bei dir? Gut, aber ich muss jetzt Schluss machen. Sehen wir uns morgen Abend? Ja, das müsste klappen.«

Anouk hielt das Telefon noch in der Hand, als sie vor sich in einiger Entfernung ein paar Polizeiautos stehen sah. Die vom Regen verzerrten Blaulichter versetzten sie in Alarmbereitschaft. Reflexartig hatte sie das Telefongespräch beendet, man wusste bei denen ja nie. Diese Typen warteten nur darauf, jemandem einen Strafzettel zu verpassen. Sie fuhr langsamer. Da sie gar nicht damit rechnete, einen Parkplatz zu finden, rollte sie gleich in ein unterirdisches Parkdeck in der Nähe des Restaurants. Bevor sie ausstieg, fuhr sie mit den Händen durch ihr blondes Haar, um es in Form zu bringen, korrigierte mit den Fingerspitzen den Lippenstift und brachte den Kragen ihrer weißen Bluse in Ordnung. Papa wird sich freuen. Er mag diese Bluse, dachte sie. Es war so einfach, ihm eine Freude zu machen. Sie brauchte sich nur gut anzuziehen, und schon hellte sich bei ihrem Anblick seine Miene auf. Das funktionierte jedes Mal. Sie kam, und – schwups! – schon lächelte er wie ein kleiner Junge. Er wollte immer, dass sie schön aussah. Sie war ein paar Mal in Jeans oder nachlässig gekleidet aufgetaucht. Dabei hatte sie nicht nur die Enttäuschung in seinem Blick gespürt, sondern war auf einmal selbst ein bisschen enttäuscht gewesen. Seitdem achtete sie immer auf ihr Äußeres.

Er zeigte sich gerne mit seiner Tochter. Oh ja, das mochte er. Am liebsten wäre er mit einem auf sie gerichteten Scheinwerfer herumgelaufen, damit keiner den entzückenden Anblick verpasste. Es kam sogar vor, dass man sie beide für ein Liebespaar hielt. Wenn sie Arm in Arm ein Restaurant betraten, wandten sich die Blicke zuerst ihr und dann ihm zu. Weil er in seiner Naivität immer davon ausging, dass jeder sie als Vater und Tochter wahrnahm, hielt er diese Blicke für einen Ausdruck der Bewunderung. Niemals wäre es ihm in den Sinn gekommen, sie als Missfallen über ihren Altersunterschied zu interpretieren. Dabei war es offensichtlich, dass einige dachten: Er könnte ja ihr Vater sein! Immer schon war er stolz auf seine Tochter gewesen, und das sah man auch.

Man hörte draußen den Regen prasseln. Sie nahm ihren Regenschirm und lief zum Ausgang. Die Polizei war immer noch da, und ein paar Gaffer standen um ein Auto herum. Anouk begriff, dass da gerade ein Unfall passiert war, und obwohl sie Mitleid mit dem armen Opfer verspürte, war ihre Neugier stärker. Sie wechselte den Gehsteig. Auch sie wollte sehen, was los war, aber nur so, ganz schnell im Vorbeigehen. Irgendwie legte sie großen Wert darauf, nicht wie all diese sensationslüsternen Leute zu sein. Deshalb versuchte sie, sich selbst einzureden, dass ein flüchtiger Blick auf das Unglück anderer weniger niederträchtig sei, als stehen zu bleiben und schamlos zu glotzen. Als ob irgendwo geschrieben stünde, dass man von Taktlosigkeit nur ab einer gewissen Zeitdauer reden könne.

Vor einem Krankenwagen liefen Sanitäter und Ärzte in weißen Jacken hektisch umher. Beim Überqueren der Straße reckte sie ihren Hals, um besser sehen zu können. Und dann sah sie einen Mann. Er lag da im Regen auf dem Boden. Im selben Augenblick stockte ihr der Atem, ihr Herz krampfte sich zusammen und begann, im Takt ihrer Schritte zu klopfen, erst langsam und dann immer schneller. Der Mantel, das weiße Haar, der Schal. Er war rot. Rot wie seiner. Sie hatte plötzlich das Bedürfnis loszuschreien.

»Papa! Lassen Sie mich durch! Papa!«

Sie bemerkte, dass er sie nicht hörte. Seine Augen waren geschlossen, und man hatte ihm eine Atemmaske aufgesetzt. Ein Rinnsal aus Blut tropfte aus seinem rechten Ohr.

»Gehen Sie weiter, Madame.«

»Er ist mein Vater.«

»Wir bringen ihn zur Notaufnahme. Es muss schnell gehen. Wenn Sie wollen, können Sie vorne im Rettungswagen mitfahren.«

Geschockt, wie sie war, brachte sie kein Wort heraus. Ein Sanitäter nahm sie beim Arm und bat sie, in den Rettungswagen zu steigen. Hinten im Wagen bemühten sich die Ärzte um ihren Vater. Alles war voller Blut. Vor Entsetzen wurde sie ganz bleich. Sie hielt den Atem an, um sich nicht völlig in ihre Einzelteile aufzulösen. Beim Gedanken an den Tod wurde ihr übel. Sie öffnete das Fenster und hielt ihr Gesicht in den Regen. Die feuchte Luft kühlte ihre Wangen, sie schloss die Augen und atmete den Fahrtwind tief ein, als könnte er sie von ihrer Angst befreien. Sie hoffte, er würde gleich ihren Schmerz wegwehen. Und was wäre, wenn das Schlimmste wirklich passierte? Sie wusste seit ihrem achten Lebensjahr, dass das Leben unberechenbar ist. Und schlimmer noch: dass das Unvorhersehbare oft nicht mehr rückgängig gemacht werden kann.

Doch diesmal würde alles gut gehen. Ja, alles würde gut gehen. Diese Männer, die Engel des Straßenverkehrs, kümmerten sich um ihn. Sie waren zu dritt, sie halfen sich gegenseitig und passten auf, damit auch nicht der geringste Fehler gemacht wurde. Ihre Handgriffe waren schnell und präzise, es waren die Handgriffe von Experten, die das schon Hunderte Male getan hatten. Außerdem schienen sie nicht übermäßig beunruhigt zu sein. Sie hatten nichts gesagt. Keine Aufregung, nur Eile. Es handelte sich um einen Notfall, aber der Notfall war nichts Besonderes. Selbst wenn es nicht lebensgefährlich war, blieb Eile geboten. Es war ja auch kein Zufall, dass man sie Notärzte nannte. Eile gehörte zu ihrem Beruf. Sie machten schnell aus Prinzip, aus Vorsicht, ganz klar. Ja, alles würde gut gehen. Tatsächlich war sie die Einzige, die sich aufregte. Kein Wunder, sie hatte keinen blassen Schimmer von Medizin. Wenn der eigene Vater betroffen ist, regt sich jeder auf. Aber objektiv betrachtet, wie diese vielbeschäftigten Ärzte sagen würden, objektiv betrachtet, handelte es sich um einen ganz gewöhnlichen Unfall ohne schwerwiegende Komplikationen. Alles würde gut werden!

Aber warum hatte sie dann solche Angst? Sie konnte sich einreden, was sie wollte, sie zitterte an allen Gliedern. Und wenn er jetzt auf der Stelle sterben würde? Ihr Herz raste. Sie spürte es in der Brust und in den Adern. Das war schon das zweite Mal innerhalb der letzten drei Monate. Jetzt fühlte sie ihren Pulsschlag sogar in den Ohren. Gleich würde ihr Trommelfell platzen. Dieser plötzliche Aufruhr in ihrem Körper erschreckte sie. Seit Jahren hatte sie ihr Herz nicht mehr wahrgenommen. Das letzte Zucken hatte sie beim Tod ihrer Mutter bemerkt. Ein heftiges Stechen in der Seite – und seitdem nichts mehr. Sie wusste nicht, ob es verstummt oder ob sie einfach taub geworden war. Seitdem besaß sie eine schallgedämpfte Brust, wie mit Styropor verkleidet, undurchlässig für jede Art von Gefühlen.

Nur beim Arzt konnte sie sich vergewissern, dass sie ein solches Organ hatte und dass es vollkommen gesund war. Ihr Puls war für gewöhnlich normal. Jetzt aber hörte sie ihn in ihrem Kopf hämmern. Sie schloss das Fenster, trocknete sich langsam das Gesicht ab und vergrub es in ihren Händen. Ihr Vater hinten im Wagen – das war kein böser Traum.

Sie hatte sich an dieses Taubheitsgefühl gewöhnt, bis sich eines Tages etwas unerwartet in ihrer Brust regte. Das war vor drei Monaten. Anfangs glaubte sie an einen Magenkrampf, der eine plötzliche Übelkeit ankündigte, aber es war ihr Herz, das wie ein Frosch zu hüpfen anfing. Ihr Blick hatte den eines Mannes gekreuzt. Das war auf der Jahresabschlussfeier im Betrieb ihres Vaters gewesen. »Sind Sie Arzt?«, hatte sie ihn aus Neugier gefragt. »Nein, warum …?« Sie...