Im Angesicht des Feindes - Roman

von: Elizabeth George

Goldmann, 2013

ISBN: 9783641120290 , 752 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Im Angesicht des Feindes - Roman


 

1


Charlotte Bowen dachte, sie sei tot. Sie öffnete die Augen in Kälte und Dunkelheit. Die Kälte war unter ihr und fühlte sich an wie die Erde in der Gartenurne ihrer Mutter, in der sich unter dem unablässigen Tropfen des Wasserhahns außen am Haus eine feuchte Stelle gebildet hatte, die grün war und muffig roch. Die Dunkelheit war überall. Drückend wie eine schwere Decke lag die Schwärze auf ihr, und sie kämpfte mit den Augen gegen sie an, um aus dem endlosen Nichts eine Form herauszuschälen, die ihr sagen würde, daß sie nicht in einem Grab lag. Anfangs rührte sie sich nicht. Sie streckte weder Finger noch Zehen aus, weil sie die Wände des Sarges nicht fühlen wollte, weil sie nicht wissen wollte, daß der Tod so war, während sie doch geglaubt hatte, er käme mit Heiligen und Sonnenglanz und schaukelnden und harfespielenden Engeln.

Sie lauschte angespannt, hörte jedoch keinen Laut. Sie schnupperte, aber es war nichts zu riechen außer dem Moder feuchter alter Mauern. Sie schluckte und nahm das flüchtige Aroma von Apfelsaft wahr. Der Nachgeschmack reichte, um die Erinnerung zu wecken.

Ja, er hatte ihr Apfelsaft gegeben. Er hatte ihr eine Flasche gereicht, mit aufgeschraubtem Deckel und feucht glänzenden Tröpfchen auf dem Glas. Er hatte gelächelt und einmal kurz ihre Schulter getätschelt. »Du brauchst keine Angst zu haben, Lottie«, hatte er gesagt. »Das würde deine Mama nicht wollen.«

Mama. Sie war es, um die es ging. Aber wo war sie? Was war mit ihr geschehen? Und Lottie? Was war mit Lottie geschehen?

»Es hat einen Unfall gegeben«, hatte er gesagt. »Ich soll dich zu deiner Mama bringen.«

»Wohin?« hatte sie gefragt. »Wo ist Mama?« Und dann, lauter, weil sich ihr Magen plötzlich ängstlich verkrampft hatte und ihr die Art, wie er sie ansah, gar nicht gefallen hatte: »Sagen Sie mir, wo meine Mama ist. Sagen Sie es mir. Auf der Stelle!«

»Ist ja gut«, hatte er hastig versichert und sich dabei umgesehen. Genau wie ihrer Mama war ihr lautes Benehmen auch ihm peinlich. »Beruhig dich, Lottie. Sie ist in einem Gästehaus der Regierung. Du weißt doch, was das ist?«

Charlotte hatte den Kopf geschüttelt. Sie war ja erst zehn Jahre alt und hatte wenig Ahnung, was die Regierung eigentlich tat. Für sie bedeutete »in der Regierung sein« nur, daß ihre Mutter jeden Morgen vor sieben aus dem Haus ging und meistens erst nach Hause kam, wenn sie selbst längst schlief. Ihre Mutter fuhr in ihr Büro am Parliament Square. Sie ging zu Besprechungen im Innenministerium. Sie ging ins Unterhaus. Freitag nachmittags hielt sie Sprechstunde für ihren Wahlbezirk in Marylebone, während Lottie, in ein Zimmer mit gelben Wänden abgeschoben, in dem gewöhnlich der Exekutivausschuß des Wahlbezirks tagte, ihre Schularbeiten machte.

»Benimm dich«, pflegte ihre Mutter zu sagen, wenn Charlotte am Freitagnachmittag nach der Schule eintraf, und mit vielsagender Kopfbewegung auf das gelbe Zimmer zu weisen. »Ich möchte keinen Mucks von dir hören, solange wir hier sind, verstanden?«

»Ja, Mama.«

Darauf pflegte ihre Mutter zu lächeln und zu sagen: »Schön, jetzt gib mir einen Kuß und drück mich einmal ganz fest.« Ihr Gespräch mit dem Gemeindepfarrer oder dem Pakistani aus dem Lebensmittelgeschäft in der Edgware Road oder dem Grundschullehrer oder jedem anderen, der gerade zehn Minuten der kostbaren Zeit seiner Abgeordneten für sich abzweigen wollte, unterbrechend, drückte sie Lottie in einer steifen, schmerzhaften Umarmung an sich, gab ihr einen Klaps auf den Po und sagte: »Ab mit dir.« Dann wandte sie sich mit einem Lächeln – »Kinder!« – wieder ihrem Gesprächspartner zu.

Die Freitage waren die schönsten Tage. Nach der Sprechstunde fuhr Lottie mit ihrer Mutter zusammen nach Hause und erzählte ihr, was sie die Woche über getrieben hatte. Ihre Mutter hörte zu. Sie pflegte zu nicken, Lottie ab und zu das Knie zu tätscheln, dabei aber, knapp am Kopf des Chauffeurs vorbei, unverwandt zur Straße hinauszublicken.

»Mama«, sagte Lottie dann wohl nach einer Weile mit einem gequälten Seufzer, weil es ihr nicht gelang, die Aufmerksamkeit ihrer Mutter von der Marylcbone High Street auf sich selbst zu lenken. Mama brauchte doch gar nicht auf die Straße zu schauen. Sie fuhr doch gar nicht selbst. »Ich rede mit dir. Wonach schaust du dauernd?«

»Ich gebe Obacht, Charlotte. Und ich würde dir raten, das auch zu tun.«

Aber anscheinend hatte sie nicht genug Obacht gegeben. Doch ein Gästehaus in der Regierung? Was war das? So was wie ein Ferienhaus?

»Fahren wir jetzt zu dem Gästehaus?« Lottie hatte den Apfelsaft schnell hinuntergespült. Er schmeckte ein bißchen merkwürdig – gar nicht richtig süß –, aber sie trank ihn, weil sie wußte, daß es unhöflich gewesen wäre, einem Erwachsenen gegenüber undankbar zu erscheinen.

»Ja, da fahren wir jetzt hin«, hatte er gesagt. »Deine Mama wartet dort.«

Das war alles, woran sie sich mit Klarheit erinnern konnte. Danach war alles verschwommen. Die Augen waren ihr schwer geworden, während sie durch London fuhren, und innerhalb von Minuten, wie ihr schien, war sie nicht mehr fähig gewesen, ihren Kopf hochzuhalten. Undeutlich meinte sie sich erinnern zu können, daß jemand in freundlichem Ton gesagt hatte: »So ist es recht, Lottie. Mach ein kleines Nickerchen« und eine Hand ihr behutsam die Brille abgenommen hatte.

Als ihr das einfiel, schob Lottie in der Dunkelheit ihre Hände zu ihrem Gesicht hinauf, die Arme dabei so dicht wie möglich an ihren Körper gedrückt, damit sie nicht die Wände des Sarges streiften, in dem sie lag. Ihre Finger berührten ihr Kinn und kletterten langsam ihre Wangen hinauf. Sie tasteten sich zu ihrem Nasenrücken. Ihre Brille war weg.

Das machte in der Dunkelheit natürlich nichts. Aber wenn das Licht anging ... Doch wie sollte in einem Sarg Licht angehen?

Lottie holte einmal vorsichtig Luft. Dann noch einmal. Und noch einmal. Wieviel Luft? dachte sie. Wie lange, ehe ... Und warum? Warum?

Die Kehle wurde ihr eng, und in ihrer Brust stieg es heiß auf. Ihre Augen brannten. Ich darf nicht weinen, dachte sie, nur nicht weinen. Keiner darf sehen ... Aber hier konnte man ja nichts sehen. Hier war nichts als undurchdringliches Schwarz auf Schwarz. Das ihr die Kehle zudrückte, es in der Brust heiß aufsteigen ließ und die Augen brennen machte. Nicht weinen, dachte Lottie. Bloß nicht weinen.

 

Rodney Aronson lehnte sich mit seinem Pferdehintern an das Fensterbrett im Büro des Chefredakteurs. Er spürte, wie sich die Lamellen der alten Sonnenjalousic in seinen Rücken drückten, während er aus einer Tasche seiner Safarijacke den Rest Nußschokolade herauskramte, den er sich aufgehoben hatte, und ihn mit der Hingabe eines Paläontologen, der gewissenhaft jedes Bröckchen Erde von den ausgegrabenen Überresten eines prähistorischen Menschen entfernt, aus der Silberfolie schälte.

Drüben, am Konferenztisch, saß locker und entspannt Dennis Luxford im Hochsitz, wie Rodney den Chefsessel zu nennen pflegte. Mit einem breiten Lächeln, das sein Koboldgesicht zu einem Dreieck verzog, hörte sich der Chefredakteur den letzten Bericht des Tages über die Strichjungen-Sause an, wie die Fleet Street den Vorgang in der letzten Woche getauft hatte. Der Bericht wurde vom besten Reporter ihrer Zeitung The Source mit beträchtlichem Feuer vorgetragen. Mitchell Corsico war dreiundzwanzig Jahre alt, ein junger Mann mit einer närrischen Vorliebe für Cowboykleidung, der über den Instinkt eines Bluthunds und die Sensibilität eines Barrakudas verfügte. Er war genau der Mann, den sie in dem gegenwärtigen, von parlamentarischen Seitensprüngen, öffentlicher Entrüstung und Sexskandalen angereicherten Klima brauchten.

»In seiner Erklärung von heute nachmittag«, sagte Corsico gerade, »hat unser hochgeschätzter Herr Abgeordneter von East Norfolk behauptet, seine Wählerschaft stehe wie ein Mann hinter ihm. Er sei unschuldig, solange seine Schuld nicht erwiesen sei, et cetera und tralala. Der loyale Parteivorsitzende versichert, der ganze Aufruhr sei allein die Schuld der Sensationspresse, die wieder einmal versuche, der Regierung das Wasser abzugraben.« Corsico blätterte auf der Suche nach dem dazugehörigen Zitat in seinen Notizen. Nachdem er es gefunden hatte, schob er seinen geliebten Stetson auf den Hinterkopf, warf sich in Pose und zitierte: »›Es ist kein Geheimnis, daß die Medien entschlossen sind, die Regierung zu stürzen. Die Strichjungen-Affäre ist lediglich ein weiterer Versuch, die Richtung der parlamentarischen Auseinandersetzung zu bestimmen. Aber wenn die Medien im Sinn haben sollten, die Regierung zu vernichten, werden sie auf würdige Gegner treffen, die, sei es nun in der Downing Street, in Whitehall oder in Westminster, nur darauf warten, den Kampf aufzunehmen.‹« Corsico klappte seinen Block zu und schob ihn in die Hüfttasche seiner abgetragenen Jeans. »Nobel geht die Welt zugrunde«, sagte er abschließend.

Luxford kippte seinen Sessel nach hinten und faltete seine Hände auf seinem beneidenswert flachen Bauch. Sechsundvierzig Jahre alt, mit dem Körper eines jungen Mannes und vollem aschblondem Haar dazu. Man sollte ihn abmurksen, dachte Rodney finster. Es wäre eine Erlösung für seine Mitarbeiter im allgemeinen und Rodney im besonderen, aus seinem eleganten Schatten heraustreten zu können.

»Wir brauchen die Regierung gar nicht zu stürzen«, sagte Luxford. »Wir brauchen nur in aller Ruhe zuzusehen, wie sie sich selbst den Garaus macht.« Zerstreut spielte er an seinen Hosenträgern aus Paisleyseide. »Hält Mr. Larnsey immer noch an seiner ursprünglichen Geschichte fest?«

»Wie ein Klammeraffe«,...