Der Klang des Muschelhorns - Roman

von: Sarah Lark

Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2014

ISBN: 9783838752921 , 800 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Der Klang des Muschelhorns - Roman


 

KAPITEL 1

»Ist es noch weit?«

Mara Jensch war schlecht gelaunt, und sie langweilte sich. Der Weg zum Dorf der Ngati Hine zog sich endlos hin, und obwohl die Landschaft unzweifelhaft schön war und das Wetter gut, hatte Mara genug von Manuka-, Rimo- und Koromiko-Bäumen, von Regenwäldern und Farndschungeln. Sie wollte nach Hause, zurück auf die Südinsel, zurück nach Rata Station.

»Höchstens noch ein paar Meilen«, antwortete Father O’Toole, ein katholischer Priester und Missionar, der gut Maori sprach und bei dieser Expedition als Übersetzer dabei war.

»Quengel nicht!«, mahnte Maras Mutter Ida, lenkte ihre kleine braune Stute neben Maras Schimmel und sah ihre Tochter strafend an. »Du hörst dich an wie ein ungezogenes Kind.«

Mara zog einen Flunsch. Sie wusste, dass sie ihren Eltern auf die Nerven fiel. Ihre Stimmung war schließlich seit Wochen schlecht. Die Reise auf die Nordinsel gefiel ihr überhaupt nicht. Weder konnte sie die Begeisterung ihrer Mutter für weite Strände und warmes Klima teilen noch das Interesse ihres Vaters an der Vermittlung zwischen Maori-Stämmen und englischen Siedlern. Mara sah darin für sich keine Notwendigkeit ? ihr Verhältnis zu den Maori war hervorragend. Schließlich liebte sie einen Häuptlingssohn.

Eine Zeit lang verlor sich das Mädchen in Tagträumen, in denen es mit seinem Freund Eru über das endlose Grasland der Canterbury Plains wanderte. Mara hielt seine Hand, lächelte ihm zu … Vor ihrer Abreise hatten sie sogar schon zaghafte Küsse getauscht. Dann jedoch riss ein erschrockener Ausruf Mara aus ihren Fantasien.

»Was war das?« Der Vertreter des Gouverneurs, der Maras Vater für diese Mission angeheuert hatte, horchte furchtsam in den Wald. »Ich meine, ich hätte da etwas gesehen. Ist es möglich, dass sie uns ausspionieren?«

Kennard Johnson, ein kleiner, dicklicher Mann, dem das mehrstündige Reiten schwerzufallen schien, wandte sich nervös an die beiden englischen Soldaten, die er als Leibwächter mit sich führte. Mara und ihr Vater Karl konnten darüber nur lachen. Im Ernstfall hätten sie nicht das Geringste ausrichten können. Wenn der Maori-Stamm, zu dem ihre Gruppe unterwegs war, entschlossen gewesen wäre, Mr. Johnson zu massakrieren, so hätte er mindestens ein Regiment von Rotröcken gebraucht, um ihn daran zu hindern.

Father O’Toole schüttelte den Kopf. »Das muss ein Tier gewesen sein«, beruhigte er den Regierungsbeamten, um ihn mit seinen nächsten Worten erneut zu verunsichern. »Einen Maori-Krieger würden Sie weder sehen noch hören. Wir sind jetzt allerdings recht nah am Dorf. Natürlich werden wir beobachtet …«

Mr. Johnsons Blick wurde nun endgültig furchtsam. Maras Eltern sahen einander vielsagend an. Für Ida und Karl Jensch waren Besuche bei Maori-Stämmen nichts Ungewöhnliches. Wenn die beiden sich vor irgendetwas fürchteten, so höchstens vor einer Kurzschlussreaktion der pakeha, wie die Maori die englischen Siedler in Neuseeland nannten. Maras Eltern hatten da schon einiges erlebt. Gewalt zwischen Maori und pakeha ging nur selten von den Maori aus. Viel häufiger entlud sich die Furcht der Engländer vor den tätowierten »Wilden« in einem unüberlegten Schuss, der dann schlimme Folgen hatte.

»Bleiben Sie vor allem ruhig«, mahnte Karl Jensch jetzt noch einmal die anderen Teilnehmer der Expedition.

Neben den Regierungsvertretern begleiteten sie zwei Farmer, deren Beschwerden gegen die Ngati Hine die ganze Angelegenheit erst ausgelöst hatten. Mara musterte sie mit all dem Groll eines jungen Mädchens, dessen Pläne durchkreuzt worden waren. Ohne diese beiden Dummköpfe wäre sie längst auf dem Weg nach Hause. Ihr Vater hatte zur Schafschur auf Rata Station sein wollen, und die Schiffspassage von Russell ganz oben im Norden der Nordinsel nach Lyttelton Harbour auf der Südinsel war schon gebucht gewesen. Im letzten Moment war dann die Bitte des Gouverneurs an Karl Jensch ergangen, den Konflikt zwischen diesen Farmern und dem Häuptling der Ngati Hine möglichst gütlich beizulegen. Das sollte sich durch den schlichten Vergleich einiger Landkarten machen lassen. Karl hatte die Vermessungen vorgenommen und die Pläne gezeichnet, als Häuptling Paraone Kawiti einige Jahre zuvor Siedlungsland an die Krone verkauft hatte.

»Die Ngati Hine sind uns nicht feindlich gesinnt«, sprach Karl weiter. »Denken Sie daran – man hat uns eingeladen. Der Häuptling ist genau wie wir an einer friedlichen Lösung der Probleme interessiert. Es gibt keinen Grund, sich zu fürchten …«

»Ich fürchte mich nicht!«, fiel ihm einer der Farmer ins Wort. »Im Gegenteil! Die haben Grund, sich zu fürchten, die …«

»›Die‹«, bemerkte Maras Mutter Ida, »haben wahrscheinlich um die fünfzig bewaffnete Männer. Vielleicht haben sie nur Speere und Kriegskeulen, doch sie wissen damit umzugehen. Es wäre also vernünftig, Mr. Simson, sie nicht zu provozieren …«

Mara seufzte. Während des inzwischen fünf Stunden dauernden Rittes hatte sie sich schon drei oder vier ähnliche Unterhaltungen anhören müssen. Am Anfang waren die beiden Farmer sogar noch deutlich aggressiver gewesen. Sie schienen der Meinung zu sein, diese Expedition gelte weniger der Problemlösung als der Disziplinierung der Einheimischen. Jetzt, da die Reiter dem Maori-Dorf näher kamen – und den Farmern vielleicht auch aufging, wie weit sie sich von der nächsten pakeha-Siedlung entfernt hatten –, wurde zumindest einer der Männer ruhiger. Insgesamt war die Atmosphäre jedoch angespannt. Das änderte sich auch nicht, als das marae jetzt in Sicht kam.

Für Mara war das mit bunten Ornamenten geschmückte, von mannsgroßen Götterfiguren bewachte Tor des Dorfes ein gewohnter Anblick. Sah man es jedoch zum ersten Mal, konnte das einschüchtern. Kennard Johnson und seine Männer hatten vorher sicher noch nie ein marae betreten.

»Nicht feindlich gesinnt?«, fragte der Beamte beklommen. »Also für mich sehen die alles andere als freundlich aus …«

Der Vertreter des Gouverneurs wies verstört auf das zugegeben martialisch wirkende Empfangskomitee, dem sich die Reiter jetzt gegenübersahen. Auch Mara war verwundert, und ihre Eltern wirkten alarmiert. In einem Maori-marae hätte man eigentlich spielende Kinder sehen müssen sowie Männer und Frauen, die gelassen ihren Alltagsarbeiten nachgingen. Hier erwartete die Weißen jedoch nur der Häuptling, stolz und bedrohlich aufgebaut vor der Phalanx seiner Krieger. Sein nackter Oberkörper und sein Gesicht waren tätowiert. Der aufwendig gearbeitete rockartige Lendenschurz aus gehärtetem Flachs ließ seine Gestalt noch massiger wirken. Am Gürtel des Häuptlings hingen Kriegskeulen, in der Hand hielt er einen Speer.

»Die Kerle werden doch nicht angreifen?«, fragte einer der beiden englischen Soldaten.

»Ach was«, antwortete Father O’Toole. Der Priester, ein großer, hagerer Mann, der nicht mehr ganz jung war, stieg gelassen vom Pferd. »Die wollen Ihnen nur Angst machen.«

Das gelang dem Häuptling und seiner Truppe gleich noch besser. Als die Weißen näher kamen, hob Paraone Kawiti, ariki der Ngati Hine, seinen Speer. Seine Krieger begannen, rhythmisch aufzustampfen, breitbeinig vor- und zurückzutreten und dabei die Speere zu schwingen. Dazu erhoben sie die Stimmen zu einem düsteren Gesang. Er wurde umso härter und lauter, je schneller sie die Bewegungen ausführten.

Die Männer neben dem Beauftragten des Gouverneurs tasteten nach ihren Waffen. Die beiden Farmer suchten Schutz hinter den Soldaten. Der Missionar blieb gelassen.

Maras Vater lenkte sein Pferd zwischen die Soldaten und die Krieger. »Lassen Sie um Himmels willen die Waffen stecken!«, herrschte er die Engländer an. »Reagieren Sie einfach nicht. Warten Sie ab.«

Ob es an Karls zornigen oder Father O’Tooles begütigenden Worten lag: Die Delegation des Gouverneurs schaffte es, unbeeindruckt zu tun, obwohl nun ein Krieger nach dem anderen vortrat, seinen Speer auf den Boden stampfte, Grimassen schnitt und den »Feinden« Schmähungen entgegenspie.

Mara, die im Gegensatz zu ihren Eltern, den Farmern und den Regierungsvertretern jedes Wort des Kriegstanzes und Gesanges verstand, verdrehte die Augen. Auch dieses Getue der Maori auf der Nordinsel hielt nur auf. Der Stamm der Ngai Tahu, in dessen Nachbarschaft sie aufgewachsen war und zu dem ihr Freund Eru gehörte, verzichtete längst auf solche Demonstrationen der Stärke bei jeder Konfrontation mit den Weißen. Seit Erus Mutter Jane, eine pakeha, den Häuptling geheiratet hatte, begrüßte man sich dort einfach per Handschlag. Das vereinfachte den Umgang mit Besuchern und Geschäftsfreunden. Die meisten pakeha kamen zum marae der Ngai Tahu, um Geschäfte zu machen. Erus Mutter und sein Vater Te Haitara hatten eine erfolgreiche Schafzucht aufgebaut, mit deren Hilfe der Stamm reich geworden war.

»Dem Ritual zufolge sollten wir jetzt … hm … auch etwas singen«, murmelte Father O’Toole, als die Krieger ihren Tanz endlich beendet hatten. »Das gehört sozusagen zur gegenseitigen Vorstellung. Natürlich wissen die Leute hier, dass dies bei den pakeha nicht üblich ist. Sie tun jetzt so kriegerisch, aber eigentlich sind sie recht zivilisiert. Der Häuptling hat den Fahnenmast wieder aufstellen lassen, den Hone Heke damals in Russell gekappt hat … Himmel, ich hab den Mann selbst getauft …«

Diese Rede sollte sicher tröstlich wirken. Sie klang jedoch so, als zeigte sich O’Toole...