Sein Bruder Kain - Historischer Kriminalroman

von: Anne Perry

Goldmann, 2013

ISBN: 9783641127374

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

Windows PC,Mac OSX geeignet für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 7,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Sein Bruder Kain - Historischer Kriminalroman


 

Zweites Kapitel


Monk hatte eine unruhige Nacht und war am nächsten Morgen schon früh auf den Beinen, um seine Suche nach Angus Stonefield wiederaufzunehmen, obwohl er zu seinem Unwillen feststellen mußte, daß er bereits selbst davon ausging, daß Genevieve mit ihren Befürchtungen recht hatte und er in Wahrheit nur nach einem Beweis für seinen Tod suchte. Aber was er auch finden mochte, es war unwahrscheinlich, daß es sie glücklich machen würde. Wenn Angus mit Geld oder einer anderen Frau durchgebrannt war, würde ihr das nicht nur ihre Zukunft rauben, sondern in gewisser Weise auch ihre Vergangenheit, alles, was gut gewesen war und was sie für die Wahrheit gehalten hatte.

Der Hansom setzte ihn in der Waterloo Road ab.

Es hatte aufgehört zu regnen, und der Tag war kalt und windig, mit schnell dahinjagenden Wolken. Ein schneidender Ostwind, der den Salzgeruch der hereinkommenden Flut und den Ruß und Qualm ungezählter Schornsteine mit sich trug, stieg vom Fluß auf. Monk wich hastig einer Kutsche aus und sprang auf den Gehsteig.

Dann stellte er seinen Mantelkragen noch ein wenig höher auf und ging mit langen Schritten auf Angus Stonefields Geschäft zu. Die Hausdiener hatten ihm am gestrigen Abend nichts von Bedeutung erzählen können. Niemand hatte irgend etwas Ungewöhnliches im Benehmen des verschwundenen Mannes festgestellt, der wie immer um sieben Uhr aufgestanden war und mit seiner Frau gefrühstückt hatte, während sein Nachwuchs im Kinderzimmer aß. Nachdem er die Zeitung und die Post, soweit schon zugestellt, gelesen hatte, brach er rechtzeitig auf, damit er wie gewohnt um halb acht im Büro war. Er unterhielt keine eigene Kutsche, sondern benutzte einen Hansom.

Am Tag seines Verschwindens hatte er den Tag genauso begonnen wie sonst auch. Mit der Morgenpost waren einige kleine Haushaltsrechnungen gekommen sowie eine Einladung und ein höflicher Brief von einem Bekannten. Abgesehen von den unvermeidlichen Händlern und einer Freundin Genevieves, die am Nachmittag zum Tee kam, war kein Fremder im Haus gewesen.

Monk war zu früh dran und mußte eine Viertelstunde warten, bis Mr. Arbuthnot erschien, einen Regenschirm in der Hand, auf dem Bürgersteig von Norden her kommend; er wirkte gehetzt und unglücklich. Arbuthnot war ein kleiner Mann mit dichtem, grauem Haar und einem makellos zurechtgestutzten grauen Schnurrbart.

Monk stellte sich vor.

»Ah!« sagte Arbuthnot nervös. »Ja. Das war wohl unvermeidlich.« Er zog einen Schlüssel aus der Manteltasche und steckte ihn ins Schloß der Eingangstür. Mit einiger Mühe gelang es ihm, sie zu öffnen.

»So denken Sie darüber?« sagte Monk mit einiger Überraschung. »Sie haben etwas in der Art vorhergesehen?«

Arbuthnot drückte die Tür auf. »Nun, irgend etwas muß schließlich geschehen«, sagte er traurig. »Wir können nicht einfach so weitermachen. Kommen Sie bitte herein. Erlauben Sie mir, diese elende Tür zu schließen.«

»Sie müßte mal geölt werden«, bemerkte Monk, dem klarwurde, daß Arbuthnot sich auf seine, Monks, Nachforschungen bezogen hatte und nicht auf das Verschwinden seines Arbeitgebers.

»Ja, ja«, pflichtete Arbuthnot ihm bei. »Ich habe es Jenkins immer wieder gesagt, aber er hört einfach nicht auf mich.« Dann ging er in das noch immer leere und ruhige Hauptbüro und entzündete die Lampen; das graue Licht, das durch die Fenster fiel, reichte nicht zum Arbeiten. Monk folgte ihm durch die Glastüren in sein eigenes, behaglicher eingerichtetes Büro. Mit einer leise gemurmelten Entschuldigung bückte sich Arbuthnot und hielt ein Streichholz an das bereits sorgfältig im Kamin aufgestapelte Holz und stieß dann einen Seufzer der Zufriedenheit aus, als die ersten Flammen aufloderten. Dann entzündete er auch hier die Lampen, zog seinen Mantel aus und lud Monk ein, dasselbe zu tun.

»Was kann ich Ihnen erzählen, das Ihnen vielleicht weiterhelfen könnte?« sagte er, während er unglücklich die Brauen zusammenzog. »Ich habe keine Ahnung, was passiert ist, sonst hätte ich das sicher schon lange den Behörden gemeldet, und wir wären jetzt nicht in dieser schrecklichen Lage.«

Monk setzte sich auf den ziemlich unbequemen, steifen Stuhl Arbuthnot gegenüber. »Ich gehe davon aus, daß Sie die Rechnungsbücher überprüft haben, Mr. Arbuthnot, und natürlich auch alle Gelder, die hier aufbewahrt werden?«

»Diese Sache ist wirklich sehr unerfreulich, Sir«, sagte Arbuthnot mit gepreßter, leiser Stimme. »Aber Sie haben recht, ich habe mich verpflichtet gefühlt, das zu tun, auch wenn ich ganz sicher war, daß alles in bester Ordnung sein würde.«

»Und war es so?« drängte Monk.

»Ja, Sir, bis auf den Farthing genau. Für jede Ausgabe liegen Belege vor, ganz wie es sein sollte.« Er zögerte keine Sekunde, und seine Augen flackerten nicht. Vielleicht war es seine absolute Festigkeit, die Monk den Eindruck vermittelte, daß da noch etwas kommen würde.

»Um wieviel Uhr ist Mr. Stonefield an bewußtem Morgen ins Büro gekommen?« fragte er. »Vielleicht könnten Sie mir einfach alles erzählen, was Ihnen von diesem Tag noch in Erinnerung geblieben ist, und zwar in der Reihenfolge, in der es sich zugetragen hat.«

»Ja... ähm, natürlich.« Arbuthnot schauderte ein wenig, drehte sich dann um und griff nach dem Schürhaken, der am Kamin hing, um dem Feuer ein wenig nachzuhelfen. Als er weitersprach, hatte er Monk noch immer den Rücken zugekehrt. »Er kam wie gewöhnlich um Viertel nach neun. Die erste Post war bereits zugestellt worden. Er hat sie mit ins Büro genommen und gelesen...«

»Wissen Sie, worum es sich dabei gehandelt hat?« unterbrach ihn Monk.

Arbuthnot widmete sich noch einen Augenblick dem Feuer und hängte den Schürhaken dann an seinen Platz zurück. »Bestellungen, Lieferscheine, Avisierungen von Schiffsfrachten und ein Bewerbungsschreiben um eine Stellung als Gehilfe.« Er seufzte. »Ein sehr vielversprechender junger Mann, aber wenn Mr. Stonefield nicht zurückkommt, bezweifle ich, daß wir auch nur die Leute halten können, die wir bereits haben, ganz zu schweigen von der Einstellung zusätzlichen Personals.«

»Und das war alles? Sie sind sich da ganz sicher?« Monk überging die Frage von Stonefields Rückkehr und der möglicherweise notwendig werdenden Entlassung seiner Angestellten. In dieser Hinsicht hatte er nichts Hilfreiches zu sagen.

»Ja, das bin ich«, sagte Arbuthnot fest. »Ich habe den jungen Barton deswegen befragt, und er konnte sich genau erinnern. Sie können ihn auch selbst fragen, wenn Sie möchten, aber mit der Post ist nichts gekommen, was Mr. Stonefields Fortgang veranlaßt haben könnte, dessen bin ich mir ganz sicher.«

»Irgendwelche Besucher?« fragte Monk, wobei er Arbuthnot genau beobachtete.

»Ah...« Er zögerte. »Ja.«

Monk sah ihn abwartend an. Er fühlte sich sichtbar unwohl, aber man konnte nicht sagen, ob das auf Verlegenheit, Schuldbewußtsein oder nur das allgemeine Unbehagen zurückzuführen war, daß er über jemanden reden mußte, den er geschätzt und respektiert hatte und der jetzt aller Wahrscheinlichkeit nach tot war. Und natürlich würde auch er, falls das Geschäft verkauft oder geschlossen werden mußte, sein Auskommen verlieren.

»Wer?« hakte Monk nach.

Arbuthnot betrachtete den Fußboden zwischen ihnen.

»Mr. Niven. Er betreibt selbst ein ähnliches Geschäft. Das heißt... er... betrieb es.«

»Und jetzt?«

Arbuthnot holte tief Luft. »Ich fürchte, die Zeiten sind sehr hart für ihn.«

»Warum ist er hierhergekommen? Von Ihrem Gehilfen habe ich, als ich gestern hier war, erfahren, daß Mr. Nivens Mißgeschick vor allem auf Mr. Stonefields überlegene Fähigkeiten zurückzuführen sei?«

Arbuthnot blickte hastig auf, und in seinem langen Gesicht stand deutlicher Tadel. »Wenn Sie glauben, Mr. Stonefield hätte ihn mit Absicht aus dem Geschäft gebracht, Sir, befinden Sie sich im Irrtum, und zwar völlig! Das war niemals seine Absicht. Man muß einfach immer sein Bestes geben, wenn man selbst überleben will. Und Mr. Stonefield war eben schneller und sicherer in seinem Urteil. Er ist niemals im eigentlichen Sinn ein Risiko eingegangen«, meinte er kopfschüttelnd, »wenn Sie verstehen, was ich meine? Aber er hat sich immer genau über die jeweiligen Entwicklungen informiert, und er war in Geschäftskreisen wohlgelitten. Die Leute vertrauten ihm in Situationen, in denen sie anderen vielleicht nicht getraut hätten.« Eine Sorgenfalte stand auf seiner Stirn, und er sah Monk forschend an, um sich zu vergewissern, daß dieser wirklich verstanden hatte, was er sagte.

Entsprang seine absolute Aufrichtigkeit dem Wunsch, seine Position zu sichern für den Fall, daß Stonefield doch noch zurückkehren würde, oder nahm er Niven aus irgendeinem von einem Dutzend möglichen Gründe in Schutz, zu denen auch die Übereinkunft, irgend etwas zu vertuschen, gehören könnte?

»Warum ist Mr. Niven hergekommen?« wiederholte Monk. »Wie war er angezogen? Wie hat er sich benommen?« Als Arbuthnot abermals zögerte, wurde er ungeduldig. »Wenn Sie wollen, daß ich auch nur die geringste Chance habe, Mr. Stonefield zu finden, müssen Sie mir die reine Wahrheit sagen!«

Arbuthnot bemerkte die Schärfe in Monks Stimme, sein ausweichendes Verhalten machte tiefem Mitleid und Unbehagen Platz.

»Er kam, um festzustellen, ob wir ihm irgendwelche Aufträge zuschanzen könnten, Sir. Ich fürchte, die Dinge sind sehr schwierig für ihn. Er wußte, daß Mr. Stonefield ihm helfen würde, wenn er...