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Religion und Geschichte (S. 175-176)
HANS KÜNG
Die drei abrahamischen Religionen
Geschichtliche Umbrüche - gegenwärtige Herausforderungen
10. Oktober 2006
Wir stehen heute allesamt in der Gefahr, uns von den riesigen Flüssen der Information überfluten zu lassen und dabei die Orientierung zu verlieren. Und sogar von Religionswissenschaftlern kann man bisweilen die Meinung hören, daß man im eigenen Fach vor lauter Bäumen kaum noch den Wald sieht. Und so konzentrieren sich denn manche - wie zum Beispiel in der Soziologie - auf Mikrostudien und sind nicht mehr bereit oder nicht mehr imstande, in größeren Zusammenhängen zu denken. Dabei sind auch neue Kategorien notwendig, um die Veränderungen zu erfassen. Ich versuche Ihnen also eine gewisse Grundorientierung zu bieten über die drei abrahamischen Religionen Judentum, Christentum und Islam. Deshalb jetzt direkt hinein in die Thematik. Ich möchte drei Fragenkomplexe ansprechen:
I. Das bleibende Zentrum und Fundament: Was unbedingt bewahrt werden soll;
II. Epochale Umbrüche: Was sich ändern kann;
III. Heutige Herausforderungen: Was sich als Aufgabe aufdrängt.
I. Das bleibende Zentrum und Fundament
Was soll in unserer je eigenen Religion bewahrt werden, unbedingt bewahrt werden? Da gibt es in allen drei prophetischen Religionen extreme Positionen: Manche sagen: »Nichts soll bewahrt werden«, die anderen aber: »Alles soll bewahrt werden«:
• »Nichts« soll bewahrt werden, sagen völlig säkularisierte Christen: Sie glauben oft weder an Gott noch an einen Sohn Gottes, sie ignorieren die Kirche und verzichten auf Predigt und Sakramente … Bestenfalls schätzen sie das kulturelle Erbe das Christentums: die Kathedralen oder Johann Sebastian Bach, die Ӓsthetik orthodoxer Liturgie oder auch paradoxerweise den Papst als eine Säule der etablierten Ordnung, dessen Sexualmoral und Autoritarismus sie für sich selbstverständlich völlig ablehnen.
• »Nichts« soll bewahrt werden, sagen aber auch völlig säkularisierte Juden: Sie halten nichts vom Gott Abrahams und der Väter, sie glauben nicht an dessen Verheißungen, ignorieren synagogale Gebete und Riten und lächeln über die Ultraorthodoxen.
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