Lovely Curse, Band 1: Erbin der Finsternis

von: Kira Licht

Ravensburger Buchverlag, 2019

ISBN: 9783473479818 , 480 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Lovely Curse, Band 1: Erbin der Finsternis


 

Kapitel 1

Es war nicht die Trauer, die Wut oder die Verzweiflung, die mich verrückt machen würde. Es war die Stille.

Dieses unerträgliche Fehlen vertrauter Alltagsgeräusche: das Hupen der Taxen, die Sirenen der Polizei, das Rattern der Müllcontainer und die Musik aus den Cafés.

Nicht mal der Wind schien hier ein Geräusch zu machen. Lautlos bog er das hüfthohe Präriegras und strich um die Stallungen wie ein neugieriger Fuchs auf der Hühnerjagd.

Ich streckte die Hand aus. Komm her, Wind. Lass mich fühlen, dass du da bist. Lass mich fühlen, dass ich da bin.

Eine hauchzarte Brise wand sich um meine Finger, kühl und weich. Ich lachte leise auf und es schien, dass sich selbst der Boden zu meinen Füßen vor dem Klang meiner Stimme erschrak. Oh, diese Stille. Was gäbe ich nun darum, die ewig streitenden Nachbarn über uns zu hören. Früher waren sie mir auf die Nerven gegangen – Cally und Svensson, das Künstlerpaar, das sich nie einig zu sein schien –, jetzt fehlten sie mir.

Ich stand auf einer kleinen Anhöhe und sah auf das, was seit einer Woche mein Zuhause war: eine Ranch, gebaut aus kräftigem whiskyfarbenen Holz und umgeben von wackligen Zäunen, deren Farbe bereits abblätterte. Nahe des Haupthauses befanden sich große Stallungen, an die sich unzählige Hektar Weideland anschlossen. Windschief, idyllisch, gemütlich. Hier konnten Touristen rustikal eingerichtete Gästezimmer mieten, um fernab des Großstadttrubels ein paar Tage Urlaub zu machen. Mir gehörte ein großes Zimmer unter dem Dach. Sie hatten sich so viel Mühe gegeben: Möbel bestellt, Deko gekauft und mein Zimmer liebevoll hergerichtet. Und ich wollte nichts anderes, als weg von hier. Ich fühlte mich roh, wund und noch so gar nicht bereit. Für einen Neuanfang. Eine neue Heimat. Ein neues Leben.

»Ariana?«

Geh weg. Ich zog den Kopf ein. Niemand nannte mich Ariana. Vielleicht konnte ich mich noch tiefer in die Kapuze meines Hoodies verkriechen. Einfach darin verschwinden.

»Ariana?«

Geh weg. Ich holte tief Luft. »Ja?«

Suzan blieb neben mir stehen.

»Wir wollen abendessen. Ich konnte dich auf dem Handy nicht erreichen.«

Was vermutlich daran lag, dass es die Handymasten noch nicht bis nach Texas geschafft hatten? Der Empfang war außerhalb des Wohnhauses praktisch nicht existent und selbst dort reichte das WLAN kaum bis in mein Zimmer unter dem Dach. »Ich hab keine Nachricht bekommen.«

Suzan beugte sich vor, bis sie an der Barriere der Kapuze vorbei in mein Gesicht sehen konnte. Sie hatte Moms Augen. Schnell sah ich weg.

»Alles in Ordnung?«

Ich wertete das als rhetorische Frage und gab keine Antwort. Der Unfall war jetzt vier Wochen her. ›In Ordnung‹ würde bei mir in naher Zukunft so gar nichts sein.

Mom war nach ihrem Schulabschluss aus Texas geflohen, weil sie das ländliche Leben nicht mehr aushielt. Sie hatte in New York studiert und bald meinen Vater kennengelernt, mit dem sie sich eine winzige Bude in Chinatown mietete, während Suzan die elterliche Farm in Littlecreek übernahm. Die beiden Schwestern hatten sich nie wirklich nahegestanden. Trotzdem hatte meine Tante sofort ihre Koffer gepackt, die Ranch ihrem Ehemann und zwei Verwaltern überlassen und war zu mir nach New York geeilt, als sie von dem Unfall erfahren hatte.

Ich war das letzte Mal vor acht Jahren bei ihr zu Besuch gewesen, wobei wir verfrüht abgereist waren, weil Mom und Suzan sich mal wieder gestritten hatten. Dementsprechend steif war unser erstes Aufeinandertreffen ausgefallen. Dad hatte keine Geschwister und meine Großeltern waren schon lange tot. Suzan, als meine einzige Verwandte, war mir so fremd, dass ich mich an den Gedanken, bei ihr zu wohnen, nur schwer gewöhnen konnte.

Ich zwang mich zu einem Lächeln. »Okay, ich komme mit.«

Ich gehöre hier nicht hin. Warum wache ich nicht endlich auf?

Suzan erwiderte mein Lächeln. Sie wirkte erleichtert. »Macy hat dir einen Obstsalat gemacht.«

Bei dem Gedanken an die lebenslustige Köchin der Ranch hellte sich meine Stimmung ein wenig auf.

Suzan streckte den Arm nach mir aus, doch dann zögerte sie. Ich schlüpfte darunter weg und gemeinsam spazierten wir den Hügel hinab.

Eine Tante, die eine Fremde für mich war, ein ungewollter Neuanfang und die unendlichen Weiten der texanischen Prärie. Ob es sich jemals richtig anfühlen würde?

»Und freust du dich auf den ersten Schultag?«

Mein Onkel Richard blinzelte im nächsten Moment, weil Suzan ihm einen ziemlich eindringlichen Blick zuwarf. »Ich meine … äh …« Er nahm seine Brille ab und putzte die Gläser an seinem Hemd. »Also … das wird schon.« Er lächelte tapfer.

Suzan mir gegenüber verdrehte die Augen, doch um ihre Mundwinkel zuckte es amüsiert.

Der große Tisch in der Mitte der gemütlichen Ranchküche brach unter all den von Macy zubereiteten Köstlichkeiten fast zusammen. Gegrilltes Fleisch, Coleslaw und ein paar Klassiker der Tex-Mex-Küche wie Fajitas, Enchiladas und Tortillas türmten sich auf bunt gemusterten Tellern. Schon beim Reinkommen war mir das Wasser im Mund zusammengelaufen. Derzeit waren die Gästezimmer nicht vermietet, trotzdem ließ es sich Macy nicht nehmen, das volle Programm aufzutischen. Während die Touristen normalerweise mit im Haupthaus aßen und das authentische Ranchfeeling erlebten, hatten die Arbeiter einen eigenen kleinen Speiseraum in einem der Nebengebäude, aber auch sie wurden von Macys Kochkünsten verwöhnt.

»Danke, Richard.« Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen, während ich mir vom Coleslaw nachnahm. Richard wirkte selbst nach Jahren auf der Ranch in Jeans und Karohemd verkleidet. Er hatte Geschichte und Archäologie studiert, sogar promoviert und war dann der Liebe wegen hier im Grasland gestrandet. Richard und die freie Natur jedoch schienen einander so spinnefeind wie gleich gepolte Magnete. Nicht nur, dass er das ganze Jahr unter Heuschnupfen und einer Katzenallergie litt, er war – und das kam hier im Rinderstaat Texas einer achten Todsünde gleich – Vegetarier. Mit der goldgerahmten Nickelbrille, den weichen Gesichtszügen und dem schlanken, hoch aufgeschossenen Körperbau sah er aus wie ein Akademiker, der einfach fehl am Platz schien. Er half Suzan mit der Buchhaltung und erledigte kleinere Arbeiten auf der Farm. Hauptberuflich unterrichtete er jedoch Geschichte an einem College in Odessa, der nächstgrößeren Stadt.

Ich sah zu Suzan und erhaschte gerade noch den Blick, mit dem sie ihn bedachte, begleitet von einem feinen Lächeln, das die zarten Falten unter ihren Augen kräuselte. Sie liebte ihn. Vermutlich auch, weil er es ihr zuliebe jeden Tag aufs Neue mit einer Flora und Fauna aufnahm, die ihm so feindlich gesonnen schien.

»Ich bin mir sicher, du wirst dich hier gut einleben, Ariana«, sagte Suzan. »Schließlich bist du kaum eine Woche bei uns.« Der erzwungene Optimismus in ihrer Stimme ließ sich auch durch ihr strahlendes Lächeln nicht vertuschen. »Da kommt mir eine Idee. Was würdest du davon halten, in Zukunft eines unserer Pferde zu betreuen? Ich könnte mir vorstellen, dass du so das Ranchleben besser kennenlernst.«

Ich wand mich innerlich. »Äh …« Ein Pflegepferd? In New York hielten die Menschen sich kleine Haustiere wie Katzen oder Hunde. Ich selbst hatte nie etwas Größeres als einen Hamster besessen. Suzans American Quarter Horses waren im Gegensatz dazu riesige, majestätische Tiere und schüchterten mich, um ehrlich zu sein, ganz schön ein.

»Ich überleg es mir«, antwortete ich möglichst unverbindlich.

Richard, der wohl spürte, dass ich mich unwohl bei dem Gedanken fühlte, sprang in die Bresche und wechselte abrupt das Thema, bevor Suzan weiter nachhaken konnte. »Wir werden noch mehr Wasser dazukaufen müssen.«

Suzan schob ihren halb vollen Teller von sich, als sei ihr plötzlich der Appetit vergangen. »Wie soll das bloß weitergehen?«

»Geht es um das Algenproblem?« Ich hatte Suzan und Richard immer wieder darüber tuscheln hören, das Ausmaß der Lage aber bisher nicht begriffen. Die einzigen Algen, die ich kannte, verstopften schon mal den Brunnen im Central Park, waren ansonsten aber ungefährlich.

Suzans Blick wurde ernst. »Die roten Algen sind hochgiftig und die Pferde nehmen sie beim Trinken auf. Selbst winzige Blättchen sind bereits tödlich. Sie überwinden jeden Filter, jedes noch so moderne System. Wir haben keine Ahnung, woher sie so plötzlich gekommen sind. Und komischerweise scheinen die anderen Dörfer im Umkreis nicht betroffen. Mittlerweile pumpen wir Grundwasser ab, obwohl das verboten ist. Doch es ist das einzige Wasser, das bisher noch nicht befallen scheint.«

Ich wollte etwas erwidern, doch mir blieben die Worte im Hals stecken.

Suzan nahm eine Scheibe geröstetes Weißbrot von ihrem Teller, brach ein Stück davon ab und zerbröselte es gedankenverloren zwischen den Fingern. »Für uns ist es eine Katastrophe, da wir normalerweise einen Großteil des Wassers für die Ranch aus den Flüssen schöpfen. Wir brauchen es zum Tränken der Tiere, zum Sauberhalten der Ställe, für alles Mögliche. Es ist sehr teuer, Wasser dazuzukaufen, und auf Dauer nicht tragbar.«

»Aber unternimmt denn die Regierung nichts dagegen?«, warf ich ein.

Suzan lächelte knapp. »Die County Regierung ist bereits informiert. Es waren Vertreter der Umweltschutzbehörde hier und haben Proben genommen. Doch seitdem haben wir nichts mehr von offizieller Stelle gehört.« Als Suzan...