Ostseeangst - Pia Korittkis vierzehnter Fall

von: Eva Almstädt

Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, 2019

ISBN: 9783732572076 , 414 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 11,99 EUR

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Ostseeangst - Pia Korittkis vierzehnter Fall


 

1. Kapitel


Fünf Kajaks glitten durch das dunkle Wasser. Es war kaum mehr zu hören als das Ein- und Auftauchen der Paddel und gelegentlich das Knacken oder Rascheln eines kleinen Tieres im Uferdickicht des Hemmelsdorfer Sees.

Becca Merthien wischte sich mit dem nackten Unterarm den Schweiß von der Stirn. Sie schmeckte das Salz auf ihren Lippen. Als sie am Morgen losgefahren waren, hatte sich die Luft angenehm weich und noch ein wenig frisch angefühlt. Ein verheißungsvoller Sommertag Anfang Juli. Jetzt, am frühen Nachmittag, war es beinahe unerträglich schwül. Sie blickte über ihre Schulter. Die seltsame Wolkenformation über dem anderen Ufer des Sees sah noch bedrohlicher aus als vor zehn Minuten. Winzige Moskitos umschwirrten sie, und die Schwalben segelten tief über dem Wasser. Sollte es ein Gewitter geben, mussten sie sofort den See verlassen. Doch das Ufer war zum Anlanden zu dicht bewachsen. Der reinste Urwald. Hoffentlich erreichten sie bald ihren Rastplatz.

Beccas Kajak war etwa zwanzig Meter zurückgefallen. Sie zog kräftig durch, um wieder Anschluss an die Gruppe zu bekommen. Ihre Schultern schmerzten. Sie war nicht gut im Training. Außerdem belastete sie die Verantwortung für die ihr anvertrauten Jugendlichen.

Becca fuhr schon ein paar Jahre Kajak in einem Verein, doch dass sie eine Gruppe begleitete, die auch aus Jugendlichen aus der Wohngruppe bestand, die sie berufsmäßig betreute, war eine Premiere. In der Planungsphase schien es eine gute Idee gewesen zu sein, die kajakbegeisterten Jugendlichen zusammen auf Tour mitzunehmen, ungeachtet ihrer Lebenssituation. Yannik und Nico, beide sechzehn Jahre alt und mitten in der Pubertät, sowie die dreizehnjährigen Zwillinge Mandy und Marc befanden sich in der Obhut des Jugendamtes. Yannik hatte schon so etwas wie eine kriminelle Vergangenheit vorzuweisen. Die fünfzehnjährige Laura lebte bei ihren Eltern und war als Mitglied des Kajakvereins dazugekommen. Eigentlich sollte auch Lauras Freundin Patricia an der Tour teilnehmen, doch sie hatte kurzfristig abgesagt. Becca hatte vermutet, dass Laura dann auch einen Rückzieher machen würde, aber sie schien sich mit den beiden älteren Jungen, Nico und Yannik, bestens zu amüsieren. Auch darauf würde sie ein Auge haben müssen.

Moritz Witte, der Jugendwart des Vereins, ein drahtiger Endzwanziger mit einem Haarknoten im Nacken, fuhr in einem Einzelkajak vorweg. Vor ihm, auf dem Bug seines Kajaks, war ein Kissen befestigt, auf dem sein Rauhaardackel saß. Der Hund hieß Caligula und war quasi das Maskottchen des Vereins. Moritz schien weder das drohende Gewitter noch die Spannungen in der Gruppe wahrzunehmen. Es blieb mal wieder an ihr hängen, den Spielverderber zu geben. Becca keuchte vor Anstrengung, während sie versuchte aufzuholen. Vor ihren Augen flimmerte es, und ihre zahlreichen Mückenstiche juckten.

Laura, die in dem zweiten Einzelkajak direkt hinter Moritz fuhr, zog mit lässiger Eleganz ihr T-Shirt über den Kopf und saß nun, nur mit einem Bikinioberteil und Shorts bekleidet, da. Ihre helle Haut und ihr blondes Haar leuchteten auf, wenn vereinzelt Sonnenstrahlen durch das Blätterdach hindurch auf sie fielen. Yannik und Nico verdoppelten ihre Anstrengungen beim Paddeln und zogen seitlich neben sie. Yannik rief: »Kleine Abkühlung gefällig?«, und Nico schaufelte mit der Hand Wasser in Lauras Richtung.

Das Mädchen kreischte auf, warf den Zopf zurück und zog das Paddel so über das Wasser, dass es hoch aufspritzte. »Ich weiß, wer hier eine Abkühlung nötig hat!«

Die Zwillinge schlossen mit ihrem Kajak auf und beteiligten sich an der Wasserspritzerei, ohne dass die Älteren sie beachteten.

Moritz fuhr ungerührt weiter.

»Hört auf mit dem Unsinn!«, rief Becca. Sie hatten keine Zeit für solche Spielchen. Außerdem kannte sie die Zwillinge. Besonders Mandy steigerte sich schnell in etwas hinein und verlor dann die Kontrolle über ihr Tun. Die Dreizehnjährige fuchtelte mit ihrem Paddel in der Luft herum, und es sauste haarscharf am Kopf ihres Zwillingsbruders vorbei. »Mandy! Pass doch auf!«

Niemand beachtete Becca. Im Gegenteil, die Wasserschlacht wurde wilder. Alle spritzten Wasser in Lauras Richtung, die sich kreischend und lachend wehrte.

»Hört auf. Da kommt ein Gewitter. Wir müssen schnell unseren Rastplatz erreichen!«

Noch immer keine Reaktion. Nur Yannik warf Becca von der Seite einen schnellen Blick zu. Er zog die Oberlippe zu einem Grinsen hoch, das zu viel Zahnfleisch zeigte. Seine Aufmerksamkeit machte sie wie immer beklommen. Moritz saß in einiger Entfernung auf sein Kajak gestützt da, neben ihm sein Hund, und beide schauten dem wilden Treiben mit schräg geneigtem Kopf zu.

Becca stieß hastig vorwärts. Sie wollte Mandys Paddel ergreifen und festhalten, bevor ein Unglück geschah. Platzwunden, Gehirnerschütterungen oder Schlimmeres. Wie sollte sie eine gebrochene Nase erklären? Auch auf erneutes Rufen reagierte Mandy nicht, sondern hieb weiter wild um sich. Becca beugte sich zur Seite, um Mandys Paddel zu fassen zu bekommen und es festzuhalten, doch das nasse Teil entglitt ihr. Ihr Kajak geriet ins Schwanken. Yannik, der ihr am nächsten war, formte mit den Lippen das Wort »Breitarsch«. Mandy kreischte: »Attacke!«, und schwang ihr Paddel wie ein Schwert. Becca reckte sich und bekam das Blatt wieder zu fassen. Mandy zog heftiger, als sie es erwartet hatte. Beccas Kajak kippte. Oh verdammt!, dachte sie. Es ging schnell. Sie verlor das Gleichgewicht, die dunkle Wasseroberfläche kam näher, und Becca tauchte unter.

Das Seewasser fühlte sich trotz des hochsommerlichen Wetters eiskalt an. Becca riss die Augen auf, sah wirbelnde Luftblasen, ihre rudernden Arme im trüben Grün des Wassers. In ihren Ohren rauschte es. Gleichzeitig war es totenstill.

Sie war mit dem Unterleib durch die Spritzdecke mit dem Boot verbunden; das Kajak trieb wie ein Korken über ihr und drückte sie unter Wasser. Sie musste sich mithilfe ihres Paddels und eines Hüftschwungs wieder aufrichten. Doch Becca verriss das Paddel und schaffte es nicht, sich nach oben zu drehen. Nach zwei vergeblichen Versuchen hing sie immer noch kopfüber unter Wasser. Sie hatte nicht mal richtig Luft geholt, bevor sie abgetaucht war.

Über sich erkannte sie undeutlich den Rumpf ihres gelben Kajaks, drumherum schimmerte das Sonnenlicht auf der Wasseroberfläche. Unter sich sah Becca das unergründliche Grün des Sees. Und etwas Längliches, Dunkles. Vermutlich ein Teil des Baumes, der vom Ufer weit ins Wasser ragte. Geisterhaft tauchte er neben ihr auf. Wasserpflanzen oder Zweige streiften über ihren Arm, als wollten sie nach ihr greifen. Hindernisse im Wasser waren gefährlich.

Becca zwang sich zur Ruhe. Wenn sie das selbstständige Hochdrehen, die sogenannte »Eskimorolle«, nicht schaffte, musste sie sich aus der Spritzdecke befreien. Ein Notausstieg. Wie erlernt, fühlte sie am Rand der Luke nach vorn, wo sich die Schlaufe der Spritzdecke befinden musste. Doch da war nichts! Hektisch tastete sie weiter. Ihr Kopf stieß gegen etwas Hartes. Der Drang einzuatmen wurde übermächtig. Ihre Lunge würde platzen. Oh Gott, so war es also, wenn man ertrank!

Im Freibad am Lübecker Krähenteich herrschte Hochbetrieb. Familien mit kleinen Kindern, Gruppen von Schulkindern und auch einige einzelne Erwachsene lagerten auf Liegestühlen und Badelaken auf der Wiese, planschten im Wasser oder standen vor dem Kiosk Schlange. Dort gab es neben Kaffee, Kaltgetränken und Süßigkeiten auch frisch gebackene Waffeln, Pommes frites und kleine Gerichte. Pia Korittki befand sich in der Reihe der Wartenden, neben sich ihren Sohn Felix. Er hatte nach einer Dreiviertelstunde im Wasser nach Pommes mit Ketchup verlangt. Sein zartes Gesicht unter den noch feuchten Haaren, seine großen Augen und dezent bläulichen Lippen – »Nein, mir ist noch gar nicht kalt!« – hatten Pia dazu veranlasst, seinem Wunsch schnell nachzugeben. Doch nun standen sie seit zehn Minuten an und warteten.

Pia blickte am Wehrturm vorbei über die alte Stadtmauer in den Nachmittagshimmel. Der Kirchturm von St. Aegidien stach in eine gelblich umrissene, ungesund aussehende Wolkenbank. Eine Weile schien sie am fernen Horizont wie festgetackert gewesen zu sein, doch nun schob sie sich unaufhaltsam näher. Ob sie Felix noch die Pommes kaufen konnte, bevor die Durchsage kam, dass sie das Freibad wegen Gewitters verlassen mussten? Und wäre es nicht schlauer, jetzt schon aufzubrechen, bevor der große Ansturm auf den Ausgang einsetzte?

Pia ging neben Felix in die Hocke. »Es fängt gleich an zu regnen. Wir sollten lieber fahren und in der Stadt Pommes essen.«

Felix verzog das Gesicht. »Ich will aber jetzt Pommes!«

»Hier dauert es doch noch so lange. Schau mal, wie viele Leute anstehen.«

»Die Pommes schmecken hier viel besser!«

Ein gutes Argument. An der frischen Luft im Freibad nach dem Schwimmen schmeckte es wirklich besonders gut. »Wenn gleich das Gewitter anfängt, müssen wir doch sowieso gehen.«

Felix legte den Kopf in den Nacken. »Die Sonne scheint.«

»Siehst du die dunklen Wolken dahinten?«

»Ich will jetzt Pommes!«

Pias Mobiltelefon vibrierte.

»Pia, hier ist Nele! Wo bist du denn? Es ist so laut bei dir.«

»Ich bin mit Felix im Freibad«, sagte sie zu ihrer Schwester. »Aber wir müssen gleich hier weg, bevor das Gewitter losgeht.«

»Nur ganz kurz: Felix schläft doch heute bei seinem Vater, wie ich gehört habe. Hast du da nicht Lust, mit uns essen zu gehen? Wir sind nur so fünf oder sechs Leute, alle sehr unkompliziert.«

»Das würde ich wirklich gern, aber …«,...