Rückkehr nach Sunset Cove - Roman - -

von: Ella Thompson

Heyne, 2019

ISBN: 9783641234072 , 448 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Rückkehr nach Sunset Cove - Roman - -


 

1

»Einen Moment.« Die Frau drehte sich um und stellte die Dusche ab. Niclas bekam ihre Kehrseite zu sehen. Ihr Haar war lang. Es reichte ihr fast bis zum Ansatz eines wirklich bemerkenswerten Hinterns. Da die Haare nass waren, konnte er ihre Farbe nicht genau bestimmen.

Unvermittelt drehte sich die Frau wieder um und ertappte ihn, wie er sie anstarrte. Peinlich berührt ließ er seinen Blick durch das Bad schweifen. Er griff nach einem Handtuch und warf es ihr zu, als sie aus der Dusche trat. Mit der linken Hand fing sie es auf und wickelte sich darin ein. Sie blickte ihn hochmütig mit ihren bernsteinfarbenen Augen an und reckte stolz das Kinn.

Um ihr zu zeigen, dass er sich von ihrer Arroganz nicht beeindrucken ließ, lehnte er sich mit der Schulter gegen den Türrahmen und zog die Augenbrauen hoch. »Ich frage Sie noch einmal: Was tun Sie hier?«

»Das Gleiche könnte ich Sie fragen.« Sie war wirklich frech.

»Sind Sie eine der Affären meines Vaters?«, fragte er geradeheraus.

Sie hob ihr Kinn noch höher. »Nein.«

»Was haben Sie dann hier verloren?«

Die Unbekannte schwieg.

Niclas wartete einen Moment, ob sie sich zu einer Erklärung herabließ. Als sie nichts sagte, zuckte er mit den Schultern. »Da mir kein Grund einfällt, der Sie berechtigen könnte, sich hier aufzuhalten, rufe ich jetzt die Polizei und lasse sie das klären.«

Für den Bruchteil einer Sekunde blitzte etwas in ihren Augen auf, das ihn an blanke Panik erinnerte. »Kein Problem.« Sie hob beschwichtigend die Hände. »Ich bin schon weg. Kein Grund, einen großen Wirbel zu veranstalten. Geben Sie mir zwei Minuten.«

Niclas atmete den Duft nach Kokos ein, der in der feuchten Luft des Badezimmers hing, und bemühte sich, die Frau nicht anzustarren. Irgendetwas hatte sie an sich. Er hatte keine Ahnung, wieso er nicht einfach die Cops rief. »Zwei Minuten«, gestand er ihr zu. Bestimmt brauchte sie zehn Mal so lange. »Ich warte unten auf Sie.« Er kehrte ins Erdgeschoss zurück und räumte den Golfschläger weg. Der gut gelaunte und tatsächlich ziemlich harmlose Hund gesellte sich zu ihm und schnüffelte an seinem Hosenbein. Niclas kraulte ihn hinter den Ohren und ging ins Wohnzimmer, um sich einen Whiskey einzuschenken. Die Anwesenheit dieser mysteriösen Fremden stellte ihn vor ein Rätsel. Einen Augenblick überlegte er, ob sie eine Reporterin war, die ihm aufgelauert hatte. Er schüttelte den Gedanken ab. Auf die Idee, dass er sich in Sunset Cove versteckte, kam wirklich niemand.

Die Unbekannte hielt Wort. Sie tauchte zweieinhalb Minuten später in zerschlissenen Jeans und einer roten Kapuzenjacke auf. Ihr nasses Haar hatte sie zu einem Zopf geflochten, der ihr über die Schulter hing und feuchte Flecken auf ihrer Kleidung hinterließ. Der Wind rüttelte an den Fenstern. Es war stürmisch, und die Wolken rasten immer schneller auf das Festland zu. Die Frau blickte an ihm vorbei durchs Fenster, straffte die Schultern und wandte sich zur Tür. Ohne ein weiteres Wort verließ sie das Haus. Der Hund sah Niclas ein letztes Mal an und folgte ihr.

Was für eine surreale Begegnung! Niclas kippte den Whiskey hinunter und schenkte sich einen zweiten ein, den er mit auf die Terrasse nahm. Die Böe, die ihn erfasste, riss ihn beinahe von den Füßen. Doch der scharfe Wind tat gut. Er verhinderte zumindest, dass Niclas im Stehen einschlief. Einen Moment überlegte er, sein klingelndes Handy zu ignorieren. Andrews Anruf war seit dem Vortag der erste, den er angenommen hatte. Wahrscheinlich war es auch jetzt sein Bruder. Der keine Ruhe geben würde, bis er ihn erreichte. Oder ihm tatsächlich noch die Cops auf den Hals hetzte. »Hey«, meldete er sich.

»Nic, alles in Ordnung bei dir?« Jetzt hörte Andrew sich nicht mehr wütend an. In seine Stimme hatte sich ein sorgenvoller Unterton gemischt.

»Ja. Alles klar.« Niclas versuchte, so fröhlich wie möglich zu klingen, auch wenn er Andrew nicht täuschen konnte.

»Was war denn los? Wer ist in das Haus eingebrochen? Wir sollten auf jeden Fall die Polizei rufen. Schon wegen der Versicherung und so weiter.«

Niclas sah wieder das Gesicht der Fremden vor sich, spürte ihren gehetzten Blick, als er die Cops erwähnte. Es spielte keine Rolle mehr. Sie war verschwunden. Gleich morgen früh würde er den Türcode ändern. Seinem Bruder würde er nichts von dieser Begegnung erzählen. Wahrscheinlich war sie eines der Flittchen ihres Vaters, ein wunder Punkt in der Familie, der besonders Andrew zu schaffen machte. »Die Dusche war eingeschaltet. Wahrscheinlich hat die Putzfrau vergessen, sie abzustellen. Es ist wirklich alles in Ordnung.«

»Gut. Dann können wir jetzt darüber reden, was gestern passiert ist«, sagte Andrew gepresst.

»Eigentlich würde ich lieber einfach auf der Terrasse sitzen, auf den Ozean starren und mich betrinken.« Das war nicht gelogen.

»Ich weiß jetzt, wo du steckst. Du wirst mir also entweder sagen, was im Gerichtssaal passiert ist, oder ich setze mich ins Auto und komme nach Cape Cod, damit du es mir persönlich erzählen kannst«, erwiderte Andrew. Er verstand sich verdammt gut darauf, den großen Bruder raushängen zu lassen.

Niclas wusste, das war keine Drohung, sondern ein Versprechen. Er wollte nicht darüber reden, aber sein Bruder ließ ihm keine Wahl. »Was weißt du über die Sache?«

»Das, was den reißerischen Medien zu entnehmen war.« Andrew seufzte. »Du hast deine Nachrichten nicht abgehört oder gelesen. Du hast dich nicht bei Mom und Dad gemeldet. Glaub mir, der alte Herr sitzt in seinem Glasturm und spuckt Feuer«, fasste er die aktuelle Familienstimmung zusammen. »Ich war gestern Abend bei dir zu Hause, aber die Presse hatte dein Haus belagert, und es brannte kein Licht.«

»Ich saß im Dunkeln«, musste Niclas zugeben.

»Hast du dich inzwischen bei Mom oder Dad gemeldet?«

»Nein.« Niclas kippte seinen Whiskey hinunter, klemmte sich das Handy zwischen Schulter und Ohr und goss sich weitere zwei Fingerbreit in den Kristalltumbler. »Es wäre mir sehr recht, wenn du ihnen nicht sagen würdest, dass ich in Sunset Cove bin.« Ein Gespräch mit seinem Vater war das Letzte, was er im Moment gebrauchen konnte. Er hatte die Anrufe und E-Mails aus dem Hunter Building nicht umsonst ignoriert. Dass er auf ganzer Linie gescheitert war, wusste Niclas selbst. Er war nicht scharf darauf, sich von seinem Vater vorhalten zu lassen, dass er sich nicht dermaßen in die Scheiße geritten hätte – wobei Theodor Hunter dieses Wort mit Sicherheit nicht benutzen würde –, wenn er BWL studiert hätte und ins Familienunternehmen eingestiegen wäre. Genauso wenig wollte er das Lallen und Jammern seiner Mutter hören, dass sein Verhalten sie zum Gespött ihrer gehässigen Freundinnen gemacht habe, die sich das Maul über sie zerreißen würden. Er schob die Gedanken an seine verkorksten Eltern beiseite.

»Keine Sorge, ich verrate dich nicht. Aber ruf sie an, okay?«, bat Andrew. »Zumindest Mom macht sich Sorgen um dich.«

Wer es glaubte.

Da er nicht antwortete, fuhr Andrew fort: »Wirst du mir jetzt verraten, was gestern los war?«

Das Ganze ließ sich ziemlich einfach zusammenfassen. »Ich bin daran schuld, dass eines der schlimmsten Monster, die Boston jemals gesehen hat, frei herumläuft.« Wieder leerte er das Glas in einem Zug und goss nach. »Ich habe es versaut. Und zwar auf ganzer Linie. Ich bin in die Falle einer Frau getappt wie ein blutiger Anfänger. Wenn noch ein Mädchen in Murray Bralvers’ Fänge gerät, kann ich niemanden dafür verantwortlich machen außer mich selbst. Das lässt sich nicht beschönigen, Drew.«

»Du wirst einen Weg finden. Du wirst das wieder hinbiegen.«

»Gerade du solltest das besser wissen.« Niclas schaffte es nicht, den zynischen Unterton aus seiner Stimme zu verbannen. Sein Bruder, ein Arzt, wusste, dass es nicht immer gut ging. Dass man nicht jeden retten konnte.

Andrew seufzte noch einmal. »Und wie geht es jetzt weiter? Du versteckst dich ausgerechnet in Sunset Cove?«

»Warum nicht? Ich brauche wirklich Abstand. Ich muss nachdenken. Überlegen, wie es weitergehen soll. Der alte Kasten steht sowieso leer. Niemand wird mich hier vermuten.« Niclas räusperte sich. »Dad … Er wird doch nicht hier auftauchen, oder?«

»Nein.« Andrew bestätigte, was Niclas bereits in Erfahrung gebracht hatte. »Momentan bleibt er offenbar lieber in der Stadt. Er zieht gerade irgendeinen riesigen Deal an Land und lebt praktisch in seinem Büro.« Obwohl Andrew ihren Vater und seine Neigung zu blutjungen, hohlköpfigen Assistentinnen verabscheute, wusste er verdammt gut über sein Treiben Bescheid. »Ich versteh dich, okay? Bleib in Sunset Cove. Sammele dich, finde zu dir, und schmiede einen Plan. Du wirst deinen Ruf wiederherstellen und dieses Schwein, Bralvers, zur Strecke bringen. Wenn das einer hinbekommt, dann du. Bis dahin – versuch, nicht durchzudrehen in der alten Hütte. Und kipp dir ordentlich was von dem teuren Whiskey hinter die Binde.«

Niclas blickte auf das Glas in seiner Hand. »Das werde ich.«

Andrew verabschiedete sich von ihm, und Niclas schob das Handy wieder in die Tasche. Aus dem Augenwinkel nahm er einen roten Fleck wahr, der seine Aufmerksamkeit erregte. Die Frau schlich also immer noch um das Haus. Den Hund an ihrer Seite, kletterte sie die Stufen zum Strand hinunter. Was zum Henker …? Hatte sie einen Schlafsack unter dem Arm? Niclas blinzelte in sein Glas. Begann er zu halluzinieren? Egal. Er schenkte sich nach. Sich zu betrinken war eindeutig das Beste, was er heute noch tun konnte. Der Sturm fegte über ihn hinweg, riss an seiner Kleidung und seinen Haaren. Einen der spektakulären Sonnenuntergänge, denen die Bucht ihren Namen verdankte, würde es heute nicht...