Odéonia, Paris - Eine Liebe, zwei Buchhändlerinnen und die Welt der Bücherfreunde

von: Veneda Mühlenbrink

Ulrike Helmer Verlag, 2016

ISBN: 9783897419841 , 198 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 12,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Odéonia, Paris - Eine Liebe, zwei Buchhändlerinnen und die Welt der Bücherfreunde


 

1. Kapitel


Erkennst du klar, dass sich alle Dinge verändern, dann wirst du an nichts festhalten wollen.

Laotse

Clovis Monnier, Postbeamter auf der Eisenbahn, zitierte immer wieder gern Heraklit: »Alles was zustande kommt, geht auf Mühe und Notwendigkeit zurück.« Vielleicht hatte er damit allzu häufig die Schicksalsgöttin herausgefordert, bis es ihr schließlich zu bunt geworden war. Vielleicht hatte er diese Worte damals gerade durch seine zum Trichter geformten Hände in den Fahrtwind einer qualmenden Lokomotive gebrüllt, jedenfalls durchschlug irgendwann im November des Jahres 1913 der Nachtzug Lyon–Paris im Kopfbahnhof Gare Montparnasse die Glaswand und kam erst eine Etage tiefer auf der Straße zum Stehen. Der Lokführer hatte zu spät gebremst. Eine Zeitungsverkäuferin verlor ihr Leben, Schienen-Postler Monnier ein Bein. Er nahm die Abfindung von der Eisenbahngesellschaft und überließ die ansehnliche Summe seiner Tochter Adrienne zur Geschäftsgründung eines Buchladens.

Zwei Jahre später war es soweit. Adrienne Monniers Traum von einer eigenen Buchhandlung wurde Wirklichkeit. Die Konkurrenz hielt sich in Grenzen: 1915 herrschte Krieg und selbst Buchhändler, waren sie auch noch so intellektuell, fühlten sich berufen, zu den Waffen zu eilen. Patriotismus hielt plötzlich Einzug in die Bohème, deren Vertreter noch gestern schwadroniert hatten, dies sei der Krieg des Imperialismus, das Ende der Privilegierten. August Macke, Franz Marc, Robert Delaunay, einst in Paris Freunde im künstlerischen Geiste, begegneten sich fortan als Feinde auf dem Feld. In den Cafés am Montmartre, in Montparnasse weigerten sich die Kellner, Deutsche zu bedienen. Diese Boches sollten ihrem pickelhaubigen Kaiser doch in den Dreck der Schlachtfelder folgen!

Adrienne verfolgte die Entwicklungen, doch ihre Aufmerksamkeit war ganz darauf gerichtet, einen leerstehenden Laden mit erschwinglichem Mietzins zu finden. In der Rue de l’Odéon entdeckte sie in einem ehemaligen Antiquitätengeschäft die geeignete Immobilie. ›La Maison des Amis des Livres‹ war geboren – an der Rive Gauche, dem linken Ufer der Seine, wo Schriftsteller, Poeten, Übersetzer und Journalisten bei Weißwein und Austern in Cafés wie dem ›Deux Magots‹ über Literatur, Kunst und Politik debattierten. Adrienne war in dieser Szene bislang nichts als ein unbeschriebenes Blatt, Frau noch dazu. Sie selbst sah das durchaus klar. Ihre Liebe zu den Büchern war zwar groß, reichte aber nicht aus, die leere Registrierkasse zu füllen. Beziehungen zu knüpfen schien da unabdinglich. Möglicherweise hatte die Schicksalsgöttin erneut ein Einsehen … Jedenfalls stellte Adriennes Schwester Maria, deren Gatte Paul-Émile sein Geld mit Buchillustrationen verdiente, ihr bei einer Geburtstagsfeier eine junge Verlagsangestellte vor.

Die Beziehung der beiden Buchliebhaberinnen überstieg bald das Berufliche. Suzanne Bonnière, eine elegische Garçonne mit sanfter Stimme, war fortan die Frau in Adriennes Leben. So unverhofft war sie ihr begegnet!

Suzanne versprühte eine Eleganz, die auch von ihrer abgetragenen Kleidung nicht geschmälert wurde, und ihr Geist zeugte von wahrhaft klassischer Melancholie. Sie glich einem jungen Mann, der Belle Époque entsprungen, jener Zeit, die Rebellen mit dem Willen, die Welt zu verändern, hervorgebracht hatte. Bis 1914 die ersten in den Schützengräben fielen.

Adrienne hingegen fühlte sich unscheinbar. Das Gesicht zu pausbäckig, die blonden Haare ohne Glanz, die Kleidung stets langweilig in Schwarzgrau gehalten. Einzig ihre blauen Augen gefielen ihr.

Im Jardin de Luxembourg waren Adrienne einmal zwei alte Frauen aufgefallen, die sich auf einer Bank gegenseitig die Haare kämmten. Die Harmonie zwischen diesen beiden und ihre sichtbare Liebe füreinander hatten sie tief berührt; dasselbe empfand sie nun gegenüber Suzanne.

Am Tage der Eröffnung des Ladens standen die frischgebackenen Buchhändlerinnen aufgeregt kichernd hinter dem Fenstervorhang. Keine traute sich, der ersten eintretenden Kundin das Buch, das sie in die Hand nahm, zu verkaufen. Die Dame mochte darauf bestanden haben, es zu erwerben, denn: Mit 75 Centimes in der Kasse und ungebremstem Stolz verkündete Adrienne am Abend ihre ersten Einnahmen. Das mussten sie gemeinsam feiern – ohne Paul-Émile und Schwester Maria! Suzanne wollte es nicht anders; zu viel Familie. Und die ›Brasserie Lipp‹ musste es sein, mit ihren Keramikkacheln in gelb, blau und grün, auf denen Papageien und Kraniche durch ein buntes Blumenmeer flogen. Alte Metalllüster warfen ihr warmes Licht auf die bemalten Decken und die dunkle Holztheke dieser ›Kantine von ganz Saint-Germain‹ – ein traditionsreiches Künstlerlokal, in dem aber auch Menschen mit Einfluss verkehrten. Wer sich gleich vorne im Eingangsbereich beim bestechlichen Ober Bernard einen Tisch erkaufte, hatte direkt im Blick, ob wichtige Leute durch die Drehtür flanierten. In einem der vielen Wandspiegel sah Adrienne sich auf der ledergepolsterten Bank neben Suzanne sitzen. Käme jetzt einer dieser mittellosen Maler aus der Atelierbaracke des ›Bateau-Lavoir‹ vorbei, hieße sie ihn dieses Spiegelbild in einer Kohleskizze festhalten, um es später in Öl malen zu lassen …

Die 75 Centimes reichten gerade einmal für zwei elsässische Biere, an denen sie den ganzen Abend über nippten.

In den nächsten Wochen und Monaten, nach dem abendlichen Kassensturz, lernten die beiden Frauen die Welt der Poeten und Schriftsteller kennen. Über allen schwebte Apollinaire, der Dichter und Kritiker. Wer ihn kannte, kannte bald die gesamte Literaturszene. Und in ihr gab es auch Frauen! Colette lernten sie bei einem der illustren Salonabende in der Rue Jacob kennen. Sie ließ sich gerade von ihrem Gatten, Baron Henry, scheiden, schrieb nicht länger unter seinem Namen und wohnte bei Natalie Clifford Barney, der Millionenerbin eines amerikanischen Eisenbahnbesitzers, die sich nach dem Vorbild der antiken Dichterin Sappho als Förderin junger hungernder talentierter Künstlerinnen betätigte. Ihr Ruf als ›Amazone von Paris‹ schloss mit ein, dass sie als die größte Herzensbrecherin der Stadt galt. Über Natalies Salonabende sprach man, wenn überhaupt, nur hinter vorgehaltener Hand: Darbietungen von Tänzerinnen in durchsichtigen Tüllschals, mit nackten Brüsten, an deren Nippeln winzige Ponpons klebten! In dieser plüschigen Atmosphäre von dicken Wandteppichen, Schlafsofas und roten Samtdecken roch es nach den schweren Parfums der Damen und nach altem Cognac. Oft kamen über hundert Gäste, ein Tisch im Esszimmer war immer reich gedeckt mit kleinen Gurkensandwichs.

An solchen Salonabenden veränderte sich Suzanne. Adrienne auch: Sie fing an zu rauchen, denn oft hielt sie Suzannes Zigarette. Es gab keine Frau, die nicht mit ihrer Liebsten tanzen wollte, doch wäre es Adrienne dabei nie in den Sinn gekommen, eifersüchtig zu werden. Nicht selten verschwand Suzanne in einem der oberen Räume. Irgendwann später stand sie mit einem Glas Martini im Salon, steckte sich eine Zigarette an und starrte reglos in den Kamin. Oft sprach sie auf dem Heimweg kein einziges Wort, dann wieder wirkte sie total aufgekratzt.

»Komm, lass uns noch ins Dôme gehen!«

Die Arme zu Flügeln ausgebreitet, versuchte sie von einer Mauer zu springen, stolperte und suchte Halt in Adriennes Armen.

»Liebst du mich nicht? Ich will, dass du mich liebst!«

Immer wieder forderte sie Liebesschwüre ein, verlangte in solchen Nächten nachdrücklich, noch von Adrienne geliebt zu werden, nur um kurz darauf die liebkosenden Hände wegzustoßen.

»Ich bin deiner Liebe nicht wert«, musste Adrienne oft von ihr hören und es verletzte sie zutiefst. Am Morgen schien alles wieder gut und Suzanne blieb den ganzen Tag im Bett, las in einem Gedichtband von Rimbaud, schlief und trank Weißwein. Manchmal ging es drei Wochen gut, oder auch nur zwei. Dann kehrte die Wut zurück. Die Abstände zwischen den Ausbrüchen wurden kürzer, die Launen unerträglicher.

»Ich hasse dich! Ich hasse deine verfluchten Bücher! Ich hasse es, wie du herumläufst, wie du dich bewegst!«

Adrienne arbeitete Tag und Nacht. Der Laden sicherte ihre Existenz, er musste florieren.

Eines Tages betrat Paul Valéry ihre Buchhandlung. Paul Valéry! Wie gern hätte sie Suzanne davon erzählt, wie sie es eingefädelt hatte, dass der bekannte Dichter am kommenden Samstag in ihrem Laden eine Lesung geben würde …!

Mit einer ausrangierten Druckerpresse aus dem Verlag ihres Schwagers druckte Adrienne von Apollinaire entworfene Programmzettel und verteilte sie als Einladung an ihre Kundschaft, im Vertrauen darauf, dass sie das geplante Ereignis weitererzählte. Nichts sprach sich in Saint-Germain schneller herum als eine Veranstaltung in einem kostenfrei zugänglichen Raum, in dem ein Ofen, stabile Sitzmöbel und heißer Tee den Kunstgenuss...