Nachtkritiken - Kleine Schriften 1906-1907

von: Theodor Lessing, Rainer Marwedel

Wallstein Verlag, 2013

ISBN: 9783835320468 , 620 Seiten

Format: PDF, OL

Kopierschutz: frei

Windows PC,Mac OSX geeignet für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Online-Lesen für: Windows PC,Mac OSX,Linux

Preis: 38,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Nachtkritiken - Kleine Schriften 1906-1907


 

14. ›Egmont‹ (S. 44-45)

Trauerspiel in 5 Akten von Wolfgang Goethe.


Diese Donnerstag-Abende sind doch am schönsten. Abende der Jugend und des Volkes. Überall junge Mädchen und junge Studenten. Das ist unser bestes, unser verständigstes Publikum. Denn sie kommen in Einfalt und aus Herzensbedürfnis. Nun – warum Goethes ›Egmont‹ kein »Drama« und warum Egmont kein »Held« ist, das wißt ihr ja noch von der Schulbank. Und wenn ihr es nicht wißt, um so besser! Nächstens werdet ihr Shaws ›Helden‹ sehen. Dann wird euch an einem typischen Beispiel aufgehen, wodurch sich das neue Drama vom klassischen unterscheidet. Zunächst durch den glücklichen Untergang der »Charaktere«. Ich meine jener Tapeten?guren, unter die man eine Unterschrift setzen kann, z.B. »Dieses ist ein Bösewicht«.

Oder »Dieses ist die liebende Jungfrau«. Hie »gut«, hie »schlecht«; hie »Liebe«, hie »Haß«. Wir kennen heute nur Mischcharaktere. Nur Menschen. Und zweitens: der alte Heldenbegriff ging zum Teufel. Der Held auf Stelzen! Das historische Heldentum ist für die Kunst das Gleichgiltigste von der Welt. Uns kümmern nur die Menschlichkeiten. Und die sind überall. In vollem Ernste: der alte Tragödienbegriff trotz Aristoteles und Lessing ist tot, endgiltig tot. Gott sei Dank.

Nach beiden angedeuteten Seiten hin ist Egmont schon ein modernes Drama. Vielmehr als Götz. Mit der Beethovenschen Musik (das Orchester war etwas mager; Akt IV bei offenem Vorhang zu gedehnt) bildet dieser Egmont eine Stufe zum Musikdrama. Wagner wußte das. Wagner betonte es oft. Ich muß kurz sein. Also in kürze: Hurra Johannes Denninger, Johannes Denninger Hurra! Ich entsinne mich, daß eine französische Zeitschrift zu der Zeit, als Dreyfus in Rennes vor Gericht stand, einen Leitartikel unter dem Titel ›le cri‹ brachte.

Er begann mit den Worten: »Endlich ist der große Moment eingetreten, auf den wir so lange gewartet haben. Dreyfus hat seine korrekte Haltung durchbrochen. Wir haben ›seinen Schrei‹ gehört.« So wars mit Herrn Denninger. Er erschien immer ein wenig wie der schöne Mann auf der Pralineeschachtel; etwas zu tief »vertheatert«. Dieser Egmont aber zeigte, wie viel er kann. Sonnigkeit, fast zu viel Sonnigkeit, sonnige Schönmännlichkeit, das liegt ihm. Darin war Elan, Eleganz und eine eigene Grazie. Aber wie gefährlich alle diese Routine. Eine bestimmte Sprachmelodie ist fast Gewohnheit geworden. Ein sehr schnelles nonchalantes Tempo und ein plötzliches Sinkenlassen des Satzes am Schluß der Periode; aber dann, wenn es nicht auf das Pointieren von Einzelheiten,