Totenfrau - Thriller - Jetzt als TV-Serie bei NETFLIX/ORF

von: Bernhard Aichner

btb, 2014

ISBN: 9783641133443 , 464 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 8,99 EUR

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Totenfrau - Thriller - Jetzt als TV-Serie bei NETFLIX/ORF


 

Man sieht alles von oben. Das Meer, das Segelboot, ihre Haut. Eine nackte Frau an Deck, die Sonne scheint, alles ist gut. Sie liegt einfach nur da, schaut nach oben, ihre Augen sind offen, nur sie und der Himmel, die Wolken. Es ist der schönste Platz auf der Welt, das Boot, das ihre Eltern vor zwanzig Jahren gekauft haben, ein Prachtstück, eine Perle, die im Hafen von Triest ihre Heimat hat. Segeln, Leben auf dem Wasser, unter freiem Himmel, dort, wo sonst keiner ist. Nur Wasser weit und breit, Musik in ihren Ohren, und der Schweiß, der sich in ihrem Bauchnabel sammelt. Sonst nichts.

Von Triest zu den Kornaten, seit drei Tagen sind sie unterwegs, sie haben keine Eile, es gibt nichts zu tun. Urlaub mit ihren Eltern, so viele Jahre schon. Bald siebzig sind sie, wettergegerbt, leidenschaftliche Segler beide. Immer schon sind sie auf Booten unterwegs. Schon seit sie ein Kind war. In Badehose und Bikini, niemals nackt.

Vor zwei Stunden hat sie sich ausgezogen, sie hat sich hingelegt, ohne sich einzucremen. Sie will, dass die Sonne sie verbrennt, dass ihre Haut schreit, wenn sie gefunden wird. Nackt will sie sein. Endlich nackt. Niemand mehr, der es ihr verbietet. Kein Vater. Keine Mutter. Allein auf dem Boot, ihre Brüste, die Hüften, die Beine, die Arme. Dieses Lächeln auf ihren Lippen und wie sie sich leicht zur Musik bewegt. Nirgendwo sonst möchte sie jetzt sein. Noch drei Stunden wird sie liegen bleiben, sich strecken, sich räkeln, den Sommer in sich aufsaugen. Drei Stunden lang, oder vier. Bis die beiden endlich untergehen. Bis sie aufhören zu schreien. Bis sie aufhören, Wasser nach oben zu spritzen. Bis sie endlich still sind. Für immer.

Es ist Mittag vor Dugi Otok. Sie rührt sich nicht. Sie ist eingeschlafen, wird sie sagen, sie hat nichts gehört, die Musik war zu laut, die Sonne hat sie müde gemacht. Sie wird auf alle Fragen eingehen, sie wird ihnen Rede und Antwort stehen, und sie wird weinen. Sie wird alles tun, was notwendig ist, alles. Später, nicht jetzt. Jetzt ist da nur der Himmel über ihr, sie malt ihn an mit ihren Fingern, sie zieht Kreise, schreibt in das Blau. Sie malt sich ihre Zukunft aus, sie stellt es sich vor, ihr neues Leben allein. Das Institut, das jetzt ihr gehört. Sie wird alles umstellen, modernisieren, sie wird das Unternehmen wieder auf Erfolgskurs bringen. Sie wird alles steuern. Sie selbst, nicht Hagen. Sie wird das Boot zurück nach Triest bringen und neu anfangen.

Überall ist Schweiß. Wie sie es genießt, nackt zu sein. Eine erwachsene Frau, die sich von ihren Eltern nicht mehr sagen lässt, was sie tun und was sie lassen soll. Du wirst dich nicht ausziehen, Brünhilde. Nicht auf unserem Boot. Solange wir leben, gelten unsere Regeln, Brünhilde. Jetzt nicht mehr. Es gibt keine Regeln mehr, nur noch sie selbst entscheidet, sie allein. Keine Befehle mehr, keine Verbote. Sie hat sich ausgezogen, sie liegt an Deck und streckt ihren Körper in den Wind. Alles, was sie ist, weht wie eine Fahne, sie blüht auf in der Sonne, sie ist glücklich. Mit jeder Minute, in der sie allein ist, mehr.

Brünhilde Blum. Vierundzwanzig Jahre alt. Tochter von Hagen und Herta Blum. Adoptiert. Sie haben sie aus dem Kinderheim geholt, als sie drei Jahre alt war, sie haben sie aufgezogen wie ein Haustier, sie wurde herangezüchtet zur Nachfolgerin, sie war Hagens letzte Hoffnung, der Familienbetrieb sollte weiterbestehen. Um jeden Preis. Auch wenn es nur ein Mädchen war, das sie adoptieren konnten. Ein Mädchen oder gar kein Kind, hieß es. Die Wartelisten waren lang und Hagens Verzweiflung groß. So groß, dass er sich hinreißen ließ, dass er es sich nach langem Überlegen vorstellen konnte, seinen Betrieb in die Hände einer Frau zu legen, irgendwann. Sie sollte weiterführen, was ihm heilig war, sie sollte erhalten, was er geschaffen hatte, sie sollte für Hagen zum Mann werden. Sie tat alles, was er verlangte, alles, was der Beruf notwendig machte. Das Bestattungsunternehmen Blum war sein Ein und Alles, es war ihm wichtiger als alles andere sonst.

Ein Traditionsbetrieb, ihr Gefängnis, ihr Kinderzimmer. Kurz nach dem Krieg gegründet, zu einer Zeit, als das Sterben zum Geschäft wurde. Was früher die Nachbarn erledigt hatten, wurde 1949 von den Blums übernommen. Die Nachbarn, die geholfen hatten, wenn jemand gestorben war, die sich um die Leichenwäsche gekümmert hatten, um das Anziehen und Aufbahren, die Bestatter lösten sie ab. Was lange Zeit selbstverständlich war, wurde nunmehr zum Tabu. Tote zu berühren, sich von ihnen zu verabschieden, bevor sie in den Kisten verschwanden. Man war froh darüber, dass da nun jemand war, der alles so schnell wie möglich vom Tisch wischte, der den Leichnam abholte und unter die Erde brachte. Sauber und sachlich.

Die Blums waren die Ersten in Innsbruck. Sie lebten gut von den Toten. Zuerst Hagens Vater, dann Hagen, von nun an Blum. Nur Blum, weil sie ihren Vornamen hasste, weil sie ihn nie ertragen konnte, keinen Tag lang. Brünhilde, lass die Toten in Ruhe. Brünhilde, hör auf, mit ihnen zu spielen. Brünhilde, hör auf, deine Finger in ihre Nasen zu stecken. Brünhilde. Ein Name, der nichts mit ihr zu tun hatte, den sie ihr gegeben hatten, weil Hagen deutscher war als erlaubt, weil er Wagner liebte, die Nibelungen, weil er wollte, dass seine Tochter in seine Welt passte. Brünhilde. Ein Name, den sie verbannt hat aus ihrem Leben. Nur mehr Blum. Nicht Brünhilde. Seit sie sechzehn war, seit sie aufgehört hat, Hagens kleiner Soldat zu sein, seit sie nicht mehr uneingeschränkt tat, was er verlangte, nicht mehr gehorchte. Nur Blum. Sie bestand darauf. Egal, ob er sie dafür bestrafte.

Blum. Sie schaut den Himmel an. Sie dreht die Musik lauter, das Boot wiegt hin und her, weit und breit ist da niemand. Keiner, der hilft, keiner, der ihre Schreie hört. Niemand außer ihr. Nackt liegt sie da. Fast so wie die Toten im Versorgungsraum. Auf dem Tisch, kalt, ohne Leben seit sie denken kann. Sie half ihrem Vater, Freunde hatte sie nicht. Der Beruf schreckte die anderen Kinder ab. Dass ihr Vater mit Toten zu tun hatte und auch sie selbst, damit konnten sie nicht umgehen. Blum wurde zum Freak, man machte sich lustig über sie, man grenzte sie aus, spottete, verschwor sich gegen sie. Blum litt. Immer, eine Kindheit lang, eine Jugend. Sie sehnte sich nach einem Freund, einer Freundin, nach jemandem, mit dem sie ihr Leben teilen konnte, mit dem sie reden und lachen konnte. Aber da war niemand, sie blieb allein, sie hatte nichts außer ihren Eltern. Lieblosen Eltern. Eine stumme Mutter ohne Umarmungen und ein Vater, der sie zwang, Dinge zu tun, die ein Kind nicht tun sollte.

Seit sie sieben war, hatte sie die Toten zu versorgen. Du darfst keine Zeit verlieren, Brünhilde, der frühe Vogel fängt den Wurm. Stell dich nicht so an, Brünhilde, sie werden dich schon nicht beißen. Sei kein Mädchen, beiß die Zähne zusammen und hör auf zu weinen. Wenn du jetzt nicht still bist und tust, was ich dir sage, kommst du in den Sarg. Hast du das verstanden, Brünhilde? Da war keine Zeit zu verlieren, sie sollte lernen, damit umzugehen, er verlangte Unmögliches von ihr. Blum wusch den Toten die Haare, sie rasierte sie, sie wusch Blut von ihren Körpern und half beim Anziehen. Als sie zehn war, nähte sie zum ersten Mal einen Mund zu. Wenn sie sich weigerte, sperrte man sie in den Sarg. Unzählige Male, stundenlang im Dunkel, ein kleines Kind, ängstlich, allein. Blum. Hagen brach ihren Willen, jedes Mal von Neuem. Wie sie sich hineinlegen musste und er den Deckel verschraubte. Du lässt mir keine andere Wahl, Brünhilde. Wann wirst du endlich aufhören, dich zu wehren, ich habe keine andere Wahl, Brünhilde. Und Deckel zu. Ein Kind in einer Holzkiste. Sie blieb, solange sie konnte, so gerne wäre sie stärker gewesen, doch sie war nur ein Kind. Wehrlos ertrug sie es, niemand half ihr, keiner kümmerte sich um ihre Tränen, um ihr Flehen. Ich will das nicht tun. Ich kann nicht. Bitte nicht. Kurz bevor sie die Nadel durch das Kinn von unten in eine Mundhöhle stach. Der Faden durch totes Fleisch. Sie hat alles getan, aber es war zu wenig. Egal, wie sehr sie sich danach sehnte, nach Berührung, nach Blicken, die ihr sagten, dass ihre Eltern stolz auf sie waren. Blums Haut blieb allein. Ihr Sehnen blieb ungestillt, sie war nie genug, egal wie sehr sie sich bemühte. Sie war immer nur ein kleines Mädchen. Hilflos und ohnmächtig. Die kleine Blum. Bitte lass mich raus, Papa. Bitte sperr mich nicht ein. Nicht schon wieder in den Sarg, Papa. Bitte nicht.

Es war Strafe und Qual. Was später Alltag wurde, war am Anfang die Hölle. Jeder Handgriff, jeder Blick, die kalte, tote Haut, die sie berührte. Tausendmal wischte sie Augen und Münder aus, reinigte Wunden, da waren Blut und Maden, entstellte Leichen, abgetrennte Körperteile, da war keine Kindheit, keine Torte mit Kerzen, waren keine Puppen, die sie anzog und auszog. Da waren nur Tote. Große Puppen, schwere Puppen, behaarte Arme und Beine, Köpfe so schwer, dass sie sie kaum halten konnte, reglose Münder. Kein Lächeln, kein schönes Wort, gar nichts. Nur ihr Vater, der sie antrieb. Unzählige Leichname, Gesichter, Genitalien und Kot, tote Menschen, die vor ihr herumlagen, um die sie sich kümmern musste. Ein zehnjähriges Mädchen mit Plastikhandschuhen. Und wie die Mutter sie zum Essen rief. So als hätte Blum mit Freundinnen im Hof gespielt. Essen ist fertig. Wascht euch die Hände, Papas Lieblingsgericht wartet. So als wäre alles normal, als wäre alles richtig gewesen. Ein ordentlicher Braten für den Vater, ein Unfallopfer für Blum. Hagen, wie er die beladene Gabel in seinen Mund schob. Blum, wie sie an kaputtes Fleisch dachte, an alte, wundgelegene Männer, an Haut...