Wintermädchen

Wintermädchen

von: Laurie Halse Anderson

Ravensburger Buchverlag, 2010

ISBN: 9783473384020 , 386 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 7,99 EUR

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Wintermädchen


 

Jene von Staunen erfüllt nun streckete hurtig die Hände nach dem ergötzlichen Spiel; doch auf tat flugs sich die weite Erd’ in der Nysischen Flur, […] sie schrie laut auf mit der Stimme […], und der Unsterblichen keiner und keiner der sterblichen Menschen hörte der Jungfrau Ruf.

Homer:
Hymne an die Göttin Demeter,
Nachdichtung von Eduard Mörike


Der König ordnete an, dass man sie in Frieden schlafen lassen sollte, bis die Stunde gekommen sei, zu der sie aufgeweckt werden würde.

Charles Perrault:
Die schlafende Schöne im Walde, 1697,
übersetzt von Doris Distelmaier-Haas

001.00

Und dann sagt sie es mir, Wörter und Cranberrymuffin krümeln aus ihrem Mund, die Kommas fallen ihr in den Kaffee.

Sie teilt es mir in vier Sätzen mit. Nein, fünf.

Ich will das nicht hören, aber es ist zu spät. Die Wahrheit pirscht sich heran und bohrt sich in mich hinein. Als sie zum Schlimmsten kommt,

… ihr lebloser Körper wurde im Zimmer eines Motels
aufgefunden, ganz allei
n

gehen bei mir sämtliche Rollläden herunter, ich mache dicht. Ich nicke nur noch, tue nur noch so, als ob ich hinhöre, als ob wir ein Gespräch miteinander führen – ein Unterschied, der ihr nie auffällt.

Es ist nicht schön, wenn ein Mädchen stirbt.

002.00

»Wir wollten nicht, dass du es in der Schule erfährst oder aus den Nachrichten.« Jennifer stopft sich das letzte Stück Muffin in den Mund. »Geht’s dir auch wirklich gut?«

Ich öffne den Geschirrspüler und beuge mich in die Dampfwolke, die herausquillt. Am liebsten würde ich hineinkriechen und mich zwischen Schüsseln und Tellern zusammenrollen. Dann könnte meine Stiefmutter Jennifer die Klappe schließen, auf 60°C INTENSIV stellen und anschalten.

Der Dampf wird eiskalt, als er mein Gesicht berührt. »Ich komm schon klar«, lüge ich.

Sie greift nach der Schachtel Haferflockenkekse, die auf dem Tisch steht. »Das muss schrecklich für dich sein.« Reißt das Pappband auf. »Schlimmer als schrecklich. Gibst du mir mal eine saubere Dose?«

Ich hole eine leere Plastikdose aus dem Schrank und reiche sie ihr über die Kücheninsel. »Wo ist Dad?«

»Er hat eine Personalbesprechung.«

»Woher weißt du das mit Cassie?«

Sie bröselt die Kekse an den Rändern ab, ehe sie sie in die Dose legt, damit sie wie selbst gebacken aussehen. »Gestern Abend hat deine Mutter angerufen und mich informiert. Sie möchte, dass du sofort zu Dr.Parker gehst, statt bis zum nächsten Termin zu warten.«

»Was hältst du davon?«, frage ich.

»Finde ich gut«, sagt Jennifer. »Ich schau mal, ob sie dich heute Nachmittag noch zwischenschieben kann.«

»Spar dir die Mühe.« Ich ziehe die obere Lade des Geschirrspülers heraus. Die Gläser stoßen kleine Schreie aus, als ich sie berühre. Wenn ich sie in die Hand nehme, werden sie zerspringen. »Nicht nötig.«

Sie hält mitten im Krümeln inne. »Cassie war deine beste Freundin.«

»Das war einmal. Ich gehe nächste Woche zu Dr.Parker, wie geplant.«

»Na ja, das musst du wohl selbst entscheiden. Versprichst du mir, deine Mutter zurückzurufen, um mit ihr darüber zu reden?«

»Versprochen.«

Jennifer wirft einen Blick auf die Uhr der Mikrowelle und brüllt: »Emma! Vier Minuten!«

Meine Stiefschwester Emma antwortet nicht. Sie ist im Wohnzimmer, hypnotisiert vom Fernseher und ihrer Schüssel Blaubeerpops.

Jennifer knabbert an einem Cookie. »Ich rede nicht gern schlecht über Tote, aber es ist gut, dass du dich nicht mehr mit ihr rumgetrieben hast.«

Ich schiebe die obere Lade wieder hinein und ziehe die untere heraus. »Warum?«

»Cassie war völlig am Ende. Sie hätte dich mit runtergerissen.«

Ich greife nach dem Steakmesser, das sich zwischen den Löffeln versteckt. Der schwarze Griff ist warm. Als ich es herausziehe, fährt die Klinge durch die Luft und schneidet die Küche in Streifen. Dort ist Jennifer, die ihrer Tochter für die Schule gekaufte Kekse in eine Plastikdose packt. Dort ist der leere Stuhl von Dad, der so tut, als wären diese morgendlichen Arbeitstreffen ganz und gar unvermeidlich. Und dort der Schatten meiner Mutter, die lieber telefoniert, weil ein Gespräch unter vier Augen zu lange dauert und normalerweise in Geschrei endet.

Hier steht ein Mädchen mit einem Messer in der Hand. Auf dem Herd klebt Fett, der Geruch von Blut liegt in der Luft, und in den Ecken sammeln sich haufenweise böse Worte. Wir sind darauf getrimmt, es nicht zu merken. Nichts von alldem.

… ihr lebloser Körper wurde im Zimmer eines Motels
aufgefunden, ganz allei
n

Irgendwer hat mir gerade die Augenlider abgerissen.

»Gott sei Dank bist du stärker, als sie es war.« Jennifer trinkt ihren Kaffee aus und wischt sich die Krümel aus den Mundwinkeln.

Mit einem Flüstern gleitet das Messer in den Messerblock. »Ja.« Ich greife nach einem Teller, von dem jetzt Blut und Knorpel abgeschrubbt sind. Zehn Pfund wiegt er.

Jennifer klickt die Keksdose zu. »Ich muss nachher noch zu einem Schlichtungsgespräch. Außergerichtliche Einigung. Kannst du Emma zum Fußball fahren? Das Training geht um fünf los.«

»Auf welchem Platz?«

»Richland Park, du musst am Einkaufszentrum vorbei und dann noch ein Stück weiter. Hier.« Sie gibt mir den schweren Kaffeebecher mit dem blutroten Lippenstiftmond am Rand. Ich stelle ihn auf der Anrichte ab und räume einen Teller nach dem anderen aus der Maschine, während meine Arme zittern.

Emma kommt in die Küche und stellt ihre Schale, noch halb voll mit himmelblauer Milch, neben die Spüle.

»Hast du an die Kekse gedacht?«, fragt sie ihre Mutter.

Jennifer schüttelt die Plastikdose. »Wir sind spät dran, Schatz. Hol deine Sachen.«

Emma stapft mit offenen Schnürsenkeln zu ihrem Rucksack hinüber. Eigentlich könnte sie noch schlafen, aber die Frau meines Vaters bringt sie dreimal die Woche früher in die Schule, zum Geigenunterricht und zur französischen Konversation. Schließlich ist es in der dritten Klasse höchste Zeit für Zusatzförderung.

Jennifer steht auf. Ihr Rock spannt so sehr an ihren Schenkeln, dass man das Innenfutter der Taschen sehen kann. Sie versucht, die Falten glatt zu streichen. »Lass dich von Emma bloß nicht beschwatzen, ihr vor dem Training Chips zu kaufen. Wenn sie Hunger hat, soll sie einen Obstsalat essen.«

»Soll ich sie dann auch abholen?«

Jennifer schüttelt den Kopf. »Das übernehmen die Grants.« Sie nimmt ihren Mantel von der Rückenlehne des Stuhls, schlüpft in die Ärmel und knöpft ihn zu. »Iss doch einen Muffin! Ich hab auch Orangen gekauft, oder mach dir einen Toast oder Waffeln, wenn du willst…«

Ich will aber nichts wollen Ich brauche keinen Muffin (410), ich will weder eine Orange (75) noch Toast (87), und von Waffeln (180) kriege ich Erstickungsanfälle.

Ich deute auf eine leere Schüssel, die neben lauter Pillendöschen und einer Packung Blaubeerpops auf der Anrichte steht. »Ich esse Pops.«

Ihr Blick wandert automatisch zum Schrank, an den sie meinen Essensplan geklebt hatte. Er war bei den Entlassungspapieren dabei, als ich vor sechs Monaten hier einzog. Drei Monate später, an meinem achtzehnten Geburtstag, habe ich ihn abgehängt.

»Das ist zu wenig für eine volle Mahlzeit«, sagt sie vorsichtig.

Ich könnte die ganze Packung leer essen Ich werde wahrscheinlich nicht mal die Schüssel vollmachen. »Ich hab mir den Magen verdorben.«

Wieder öffnet sie den Mund. Zögert. Ein saurer Hauch aus morgendlichem Atem mit Kaffeenote kommt durch die stille Küche herübergeweht und springt mich an. Sag es nicht Sagsnicht.

»Vertrauen, Lia.«

Sie hat es doch gesagt.

»Das ist hier das Thema. Gerade jetzt. Wir möchten nicht…«

Wenn ich nicht so müde wäre, würde ich Vertrauen und Thema in den Müllhäcksler stopfen und ihn den ganzen Tag lang laufen lassen.

Ich hole eine extragroße Müslischüssel aus der Spülmaschine und stelle sie auf die Anrichte. »Ich. Komme. Klar. Okay?«

Sie zwinkert zweimal und knöpft sich den Mantel fertig zu. »Okay. Verstehe. Mach die Schnürsenkel zu, Emma, und steig schon mal ins Auto.«

Emma gähnt.

»Warte.« Ich bücke mich und binde Emma die Turnschuhe. Mit...