Strategie der Eskalation - Der Nahe Osten und die Politik des Westens

von: Navid Kermani

Wallstein Verlag, 2013

ISBN: 9783835307018 , 96 Seiten

Format: PDF, OL

Kopierschutz: frei

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Preis: 6,99 EUR

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Strategie der Eskalation - Der Nahe Osten und die Politik des Westens


 

Wer ist der Feind? – Die Muslime nach dem 11. September (S. 7)

Zu den wiederkehrenden Bildern des Dienstags, die sich tief ins Bewußtsein der globalen Fernsehöffentlichkeit eingraben werden, gehört jenes der feiernden Palästinenser. Es gibt über eine Milliarde Muslime. Beinah alle sind ebenso erschrocken und empört wie beinah alle übrigen Menschen auf der Welt.

In manchen Regionen der islamischen Welt gibt es Verbitterte, die den Anschlag als Folge der amerikanischen Außenpolitik zwar nicht gutheißen, aber erklären. Unter ihnen gibt es Verblendete, die sich freuen. Unter den wenigen, die sich freuen, gibt es einige hundert Palästinenser in Flüchtlingslagern des libanesischen Südens oder in den Besetzten Gebieten, die am Dienstag auf staubigen Gassen gefeiert haben.

Aber was als Reaktion der Muslime auf die Anschläge in den Vereinigten Staaten im Gedächtnis bleiben wird, sind jene stämmige Frau im schwarzen Samtkleid und mit dem hinten zusammengebundenen Kopftuch, die die Hände zum orientalischen Tanz erhebt, und jener acht- oder neunjährige Junge, dessen Lachen ansteckend wäre, wüßte man nicht, daß er über Tausende von Mordopfern lacht. Die Assoziationskette, die bei der Frau und dem Jungen beginnt, ist so fest gespannt, daß sie die regelmäßig eingestreuten Archivaufnahmen aus dem verblüffend schmalen Repertoire von vermummten Selbstmordattentätern und brustschlagenden Schiiten gar nicht bräuchte, um sich zum Islam als einer irrationalen und gewalttätigen Religion fortzusetzen.

Rasch wurde aus der Assoziations- eine Argumentationskette, die den islamischen Fundamentalismus als einzig denkbaren Urheber identifizierte. Mag tatsächlich vieles für einen religiös-extremistischen Hintergrund der Anschläge sprechen, so fiel doch auf, daß schon in den ersten Kommentaren die mutmaßlichen Täter benannt und andere Szenarien fortan nicht einmal mehr in Erwägung gezogen wurden. Obwohl Indizien hartnäckig ausblieben, verdichtete sich dieser Eindruck im Laufe des Fernsehabends, so daß die Warnung vor voreiligen Schlüssen bald schon wie bloße Rhetorik wirkte.

Vielleicht ist meine eigene Wahrnehmung als Iraner in Deutschland zu subjektiv, aber jedenfalls ich und viele meiner Freunde und Verwandten spürten mit Beklemmung, wie sich in der Berichterstattung, in den zunehmend suggestiven Bilderfolgen und Expertenmeinungen, jene schaudererregende Faszination einstellte, die vom Bösen ausgeht, vom unbegreiflich Fremden.

Und ich meine auch etwas wie journalistische Dankbarkeit registriert zu haben, Dankbarkeit darüber, daß da überhaupt jemand ist, durch den das Unfaßbare greifbar wird, ein Anderes, ein Böses. Man muß sich nur einmal vorstellen, was dieser Fernsehtag ohne die wenigen Sequenzen gewesen wäre, die den Sendern von Osama Bin Laden zur Verfügung stehen.

Eben weil das Andere ein Gesicht haben muß, um faßbar zu werden, sahen wir halbstündig diese schmale, sich auf gräßliche Weise seiner selbst sichere Erscheinung, die vor einigen Jahren aus dem Nichts nachrichtendienstlicher Geheimhaltung auftauchte und seither wie ein Phantom über jedem neuen Terroranschlag schwebt, ohne daß ihre Züge uns je näher gerückt oder die ihr zugeschriebenen Taten je aufgeklärt worden wären. Es geht nicht darum, die Gefahr, die von Osama bin Laden oder anderen muslimischen Terroristen ausgeht, zu verharmlosen, der Kampf gegen sie bedarf noch größerer Anstrengung und vor allem die noch längst nicht erfolgte Ausschöpfung aller rechtsstaatlichen und völkerrechtlichen Mittel.