Der Schieber - Kriminalroman

von: Cay Rademacher

DuMont Buchverlag , 2012

ISBN: 9783832186432 , 352 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 8,99 EUR

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Der Schieber - Kriminalroman


 

Der Junge auf der Bombe

Freitag, 30. Mai 1947

Das Blut des toten Jungen überzieht wie ein Schleier die englische 500-Pfund-Bombe. Licht flutet durch den zerstörten Dachstuhl einer Lagerhalle auf die Leiche – und auf den Blindgänger, eine angerostete, menschengroße Bombe, ein monströser Fisch, der sich in den Betonboden gegraben hat. Der Rest der Halle ist in Dunkelheit getaucht. Der Junge und die Bombe werden von der Sonne angestrahlt wie von einem Bühnenscheinwerfer, denkt Oberinspektor Frank Stave von der Hamburger Kriminalpolizei.

Er leitet eine kleine Gruppe der Mordkommission und müsste nun eigentlich ermitteln, sollte sich den Toten und den Fundort ansehen, Zeugen befragen, Spuren erkennen. Denn der zwölf, höchstens vierzehn Jahre alte Junge hat ohne Frage einen gewaltsamen Tod erlitten. Stattdessen kauert er neben einigen anderen Beamten hinter den verbogenen Stahlgestellen eines zerstörten Krans und blickt durch ein Mauerloch in die Halle. Einzig ein Mann ist im Gebäude, umkreist mit behutsamen Bewegungen die Bombe und den mageren Toten. Einen kurzen Blick nur wirft er auf den Jungen, dann kniet er sich endlich vor den Blindgänger und setzt vorsichtig eine große, schwarze Ledertasche ab, die er bislang in seiner Rechten getragen hat.

Ein Feuerwerker, der den Blindgänger entschärfen soll. Solange der Zünder noch aktiv ist, wäre es für die Kripobeamten viel zu gefährlich, sich dem Toten zu nähern.

Hoffentlich zerstört der mir keine Spuren, denkt Stave.

Ein Telefonanruf zu Dienstbeginn hat den Oberinspektor alarmiert. Er hat sich einige Schupos genommen und ist von der Kripo-Zentrale am Karl-Muck-Platz aufgebrochen – Jungen, noch grün hinter den Ohren, eingestellt von den englischen Besatzungsoffizieren. Stave erkennt Hauptpolizist Heinrich Ruge wieder, der ihn schon bei früheren Einsätzen begleitet hat.

»Der Tote wird uns nicht davonlaufen«, hatte der ihm zugerufen, etwas zu forsch.

Stave hatte geschwiegen und nur mitleidig auf den Schupo geblickt, dem der Schweiß unter dem Tschako hervortrat und ihm die Schläfen herabrann. »Dunstkiepe« schmähen die blau uniformierten Polizisten ihre hohe, unbequeme Haube schon zu normalen Zeiten.

Aber nun ist es 30 Grad heiß.

Stave erinnert sich schaudernd an den vergangenen Winter: ein gnadenloses halbes Jahr, in dem das Thermometer meist zwischen minus 10 und minus 20 Grad anzeigte – und manchmal noch darunter. Und nun ein Frühling, so heiß wie seit Menschengedenken keiner mehr. Es ist, als wollte nach den Menschen nun das Wetter verrücktspielen.

Immerhin ist der Krieg vorbei, macht sich der Oberinspektor Mut. Neben ihm hocken Ruge und fünf weitere Schupos hinter der Deckung des zerstörten Krans. Die Sonne steht schräg über ihnen, kein schützender Schatten in der Umgebung. Er riecht ihre Ausdünstungen. Ob es nur die Hitze ist? Oder ob ihnen auch die Angst das Wasser aus der Haut treibt?

Neben den Uniformierten kauert ein kleiner, dürrer, rothaariger Mann, dessen sommersprossiges Gesicht bereits unter einem Sonnenbrand glüht: Ansgar Kienle, Polizeifotograf und, mangels anderer Spezialisten, zugleich einziger Spurensicherer der Krimsches von Hamburg.

Noch verbrannter leuchtet das kahle Haupt von Dr. Alfred Czrisini. Stave hat den Pathologen angerufen. Der hat sich, da er gerade Besuch von einem englischen Fachkollegen hatte, kurzerhand dessen Jeep ausgeborgt und war zum Fundort der Leiche geeilt, wo er wieder einmal vor den Kripobeamten eingetroffen war. Unter seinem Sonnenbrand wirkt er blass. Mit fahrigen Händen steckt er sich eine Woodbine zwischen die Lippen.

»Meinen Sie, dass es eine gute Idee ist, zu rauchen, wenn neben uns eine 500-Pfund-Bombe entschärft wird?«, zischt Stave dem Pathologen zu. Er weiß allerdings, dass nichts und niemand – und schon gar keine Bombe – Dr. Czrisini je von seinen Zigaretten abhalten könnte. Der Arzt lächelt bloß und schüttelt den Kopf. Der Qualm seiner Zigarette ist eine winzige bläuliche Fahne in einem Ruinenfeld. Stave hat sich und seine Männer mit einer Barkasse auf die andere Elbseite nach Steinwerder übersetzen lassen. Blohm & Voss liegt auf dem hammerförmigen Kopf einer Halbinsel am Südufer der Elbe: Zwei riesige Docks parallel zum Fluss, ein weiteres, das quer davor wie ein gigantisches Schwert ins Land hineinsticht. Rechts hinter den beiden großen Docks noch ein Becken. Auf dem Gelände langgestreckte Backsteinhallen, Kräne, aufgereiht wie strammstehende Soldaten, das Schienengewirr der qualmenden Schmalspurbahnen, die Kessel, Geschützrohre und Stahlschotts zu den Docks schleppten. Früher zumindest.

In den Docks von Blohm & Voss wuchs erst wenige Jahre zuvor das Schlachtschiff »Bismarck« heran. Von hier glitt fast die Hälfte aller deutschen U-Boote zum ersten Mal ins Wasser – fünfzehn beinahe fertiggestellte Rümpfe kann er immer noch erkennen. Sechzig, siebzig Meter lange Röhren aus grauem Stahl, schlanke Türme, die geschlossenen Klappen der Torpedorohre im Bug, Steuerruder, die golden glänzenden Schrauben am Heck – manche Boote so neu, als könnten sie sofort auf Feindfahrt gehen, andere schon halb versunken im Becken, wie gestrandete Wale. Bei zwei oder drei Wracks wirkt es so, als seien sie noch auf der Werft von einem Giganten zu Tode geprügelt worden. Immer und immer wieder haben Engländer und Amerikaner Blohm & Voss bombardiert.

Stave blickt auf Schuttberge, Hunderte Meter in allen Richtungen, halb umgerissene Ziegelmauern, abgeknickte Schornsteine, auf die 200, 300 Meter langen Docks, deren Wände aufgesprengt sind, auf einstmals in fürchterlicher Hitze zerschmolzenes Metall, Brombeeren und Sauerampfer, die nun aus aufgeplatztem Kopfsteinpflaster wuchern, die Spundwände am Ufer, deren rissiger Beton von Mänteln aus Grünspan überzogen ist, die Elbe, die jenseits des letzten Docks grau und schnell dahinströmt. Und dahinter auf Ruinen und noch mehr Ruinen und noch mehr, und nur der Turm des Michels ragt aus dem Hitzedunst wie ein riesiges Grabmonument.

Bis vor wenigen Jahren wehte das Klopfen der Niethämmer über die Elbe und war noch als eine Art Rauschen in den Räumen der Kripo-Zentrale zu hören. So gleichmäßig und selbstverständlich wie das Gurgeln eines Wasserfalls: Irgendwann nahm man den Lärm gar nicht mehr wahr.

Nun ist es beinahe still. Keine Schiffe in den Docks, kein Funkenregen von Schweißgeräten oder Eisensägen. Nur am anderen Ende ein Kran auf Schienen, der ruckelnd und kreischend einen zusammengepressten Stahlträger aus den Trümmern eines Gebäudes zieht und auf eine Schute hinunterschwenkt, die in der Elbe dümpelt. Schrott, der irgendwo eingeschmolzen wird.

Ein Feuerwehrmann kriecht bis zu den kauernden Polizisten heran, ein Kollege des Spezialisten in der Halle.

»Wie lange wird er brauchen?«, fragt Stave. Ihm fällt auf, dass er seine Stimme gesenkt hat, als könnte schon ein energisches Wort den Blindgänger hochgehen lassen.

Auch der Feuerwehrmann spricht gedämpft. »Schwer zu sagen. Kommt auf den Zünder an und auf dessen Zustand. Von den Bomben selbst haben wir schon Hunderte gesehen. Die meisten haben einen normalen Zünder, also einen, der den Sprengsatz explodieren lassen sollte, sobald die Bombe eingeschlagen ist. Manchmal klemmen diese Dinger – weil sie beim ersten Aufprall auf ein Dach schon beschädigt wurden oder weil sie von Anfang an falsch eingeschraubt worden sind. Das kriegen wir relativ schnell hin. Einige von diesen Biestern haben aber Langzeitzünder, die eigentlich erst nach Stunden oder Tagen auslösen sollten.«

Stave nickt. Er erinnert sich daran, wie lange nach den schrecklichen Bombennächten plötzlich irgendwo mit gewaltigem Krachen Bomben im Trümmermeer hochgingen. Amerikaner und Engländer hatten manche absichtlich so eingestellt, um die Aufräumarbeiten zu erschweren – einer der Gründe dafür, warum Gauleiter Karl Kaufmann befohlen hatte, Häftlinge aus dem KZ Neuengamme zum Aufräumen in die Ruinen zu schicken. Zwei- oder dreimal war er dabeigewesen, um Sträflinge zu bewachen.

»Solche Zünder«, fährt der Feuerwehrmann fort, »funktionieren oft nicht. Von außen sehen sie zwar unbeschädigt aus. Aber die kleinste Unachtsamkeit, schon eine winzige Erschütterung, und so ein Blindgänger fliegt uns um die Ohren.«

»Reicht dafür schon die Erschütterung durch menschliche Schritte aus?«, fragt der Oberinspektor.

Der Feuerwehrmann lächelt. »Manchmal ja, in diesem Fall wohl nicht. Das hat mein Kollege schon erfolgreich getestet.«

»Berufsrisiko«, murmelt Stave.

»Wir erhalten Schwerarbeiterzulage auf unsere Lebensmittelkarten.«

»Ein gerechter Ausgleich.« Der Kripobeamte blickt sich um und sieht, etwa fünfzig Meter entfernt, eine Gruppe missmutig blickender Arbeiter, die zu ihnen hinüberstarren. Dann wendet er sich wieder an die Gestalt, die neben ihm kauert.

»Wie lange wird Ihr Kollege bei der Bombe hocken?«

Der Feuerwehrmann deutet auf den Dachstuhl, der an der Seite eingeschlagen ist, direkt dort, wo er auf einer Wand liegt. »Da ist die Bombe hindurchgekracht«, erklärt er. »Wir nennen das ›Mauerschlag‹: Die Bombe trifft die Mauer, gerät ins Trudeln und schlägt schließlich in so einem schrägen Winkel auf, dass der Zünder nicht richtig losgeht. Komplizierte Sache. Eine Stunde wird mein Kollege dafür noch brauchen, mindestens.«

»Bleiben Sie hier«, befiehlt Stave daraufhin den Schupos, die wenig begeistert nicken. »Doktor Czrisini, kommen Sie bitte mit. Und Sie auch, Kienle, kann ja nicht schaden. Nutzen wir die Zeit und stellen den Arbeitern schon ein paar Fragen. Die sehen so aus, als könnten sie es kaum noch erwarten, uns...