Die Wissenschaft der Außenseiter - Die Krise der Nationalökonomie in der Weimarer Republik

von: Roman Köster

Vandenhoeck & Ruprecht Unipress, 2011

ISBN: 9783647360256 , 364 Seiten

Format: PDF, OL

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 79,00 EUR

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Die Wissenschaft der Außenseiter - Die Krise der Nationalökonomie in der Weimarer Republik


 

2. Institutionelle Herausforderungen (S. 61-62)

Die Jüngere Historische Schule wollte in den 1860er Jahren ein neues Forschungsfeld durch ihre Methoden erschließen. Allerdings waren erst nach Jahrzehnten wirklich belastbare Ergebnisse, etwa in Form der Isolierung empirischer historischer Gesetze zu erwarten. Zu dem Zeitpunkt jedoch, als ihr langfristig angelegtes Arbeitsprogramm eigentlich Früchte tragen sollte, hatte sie den Höhepunkt ihres Ansehens bereits überschritten und geriet, wie beschrieben, in die Defensive.

Der Erste Weltkrieg und die ihm nachfolgenden Ereignisse bedeuteten schließlich ihr Ende. In der »neuen und fremden Welt« (Thomas Mann), in der die Deutschen nach dem Krieg erwachten, war für langfristige Arbeitsprogramme kein Platz mehr – und damit auch für eine Arbeitsweise, die das institutionelle »Setting« des akademischen Faches Nationalökonomie vor dem Ersten Weltkrieg entscheidend bestimmt hatte.

Die Nationalökonomie war vor 1914 immer noch ein kleines Fach, eigentlich eher ein Anhängsel des staatswissenschaftlichen Studiums bzw. eine Hilfswissenschaft für Juristen und Landwirte. Schon deswegen konnten kaum überzogene Ansprüche an sie herangetragen werden. Wenn sie aber trotzdem Einfluss auf die sozialpolitische Gesetzgebung hatte, dann nicht aufgrund formeller Einbindung, sondern eher durch die Beeinflussung der öffentlichen Meinung oder dank persönlicher Beziehungen im Berliner Regierungsmilieu.

An den Tagungen des Vereins für Sozialpolitik nahmen regelmäßig höhere Regierungsbeamte teil, die auch häufig bei Veranstaltungen der 1884 in Berlin gegründeten »Staatswissenschaftlichen Gesellschaft« auftauchten.2 Weil solche Beziehungen aber eher informeller Natur waren, blieb es stets eine große Streitfrage, was sich der Verein für Sozialpolitik an den sozialpolitischen Errungenschaften seit Ende der 1870er Jahre als Verdienst zurechnen konnte, oder ob sich die Dinge ohne seine Arbeit nicht genauso entwickelt hätten. Eine solche kontrafaktische Frage lässt sich kaum sicher beantworten.

Aber auch wenn der Einfluss der »Gelehrtenpolitik«3 nicht unterschätzt werden sollte, galt die staatliche Administration doch als handlungsfähig und handlungsmächtig und holte sich Expertise, wenn, als Entscheidungshilfe. Die Entscheidungsverantwortung wurde nicht auf externe Experten abgewälzt. Hinzu kam, dass die Art und Weise der Beratung die Fixierung klarer Einflusslinien erschwert. So hatte nach Erich Schneiders Meinung Schmollers Relativismus die Beratschlagung stets verwässert und nicht gerade dazu beigetragen, dass die Regierung die Nationalökonomie besonders ernst nahm.

Wie dem auch sei: insgesamt wurden nur wenig konkrete Erklärungsansprüche an das Fach gestellt, weshalb trotz der sozialpolitischen Praxisnähe – im Verein für Sozialpolitik wurden ja stets ganz konkrete Probleme verhandelt – lange Zeit eine ausgeprägte Alltagsentlastetheit existierte. Die Behandlung sozialpolitischer Streitfragen hing von den individuellen Interessen des Forschers oder den Konferenzthemen des Vereins für Sozialpolitik ab, jedoch wurde kein sofort verwertbares Expertenwissen zur Behebung gesamtwirtschaftlicher Problemlagen verlangt. Diese Alltagsentlastetheit ging aber spätestens mit dem Ersten Weltkrieg aus verschiedenen Gründen verloren. Zum einen war dafür das skizzierte Ende der Historischen Schule verantwortlich.

Langfristige Arbeitsprogramme und die sich auf die Institutionen des Kaiserreichs beziehende Zukunftsgewissheit waren unmöglich geworden. Zum anderen spielten institutionelle Herausforderungen und Ansprüche eine Rolle, die an das akademische Fach Nationalökonomie herangetragen wurden. Das Verhältnis der Nationalökonomie zu Wirtschaft und Politik veränderte sich. Die Krise des Faches fiel dabei bezeichnenderweise mit einer gestiegenen Erwartungshaltung von außen zusammen; die Schwierigkeiten der Nationalökonomie waren auf diese Weise nicht mehr nur eine wissenschaftsinterne Schieflage, sondern auch das Problem einer Gesellschaft, die sich auf volkswirtschaftliches Wissen und volkswirtschaftliche Praktiker zunehmend angewiesen fühlte.