Der Kinderflüsterer - Roman

von: Alex North

Blanvalet, 2019

ISBN: 9783641239985 , 448 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Der Kinderflüsterer - Roman


 

5


An dem Tag, als Rebecca starb, hatte ich Jake allein abgeholt. Eigentlich hatte ich meinen Schreibtag, und als Rebecca mich bat, Jake an ihrer Stelle abzuholen, war ich erst mal verärgert. In ein paar Monaten würde ich mein neues Manuskript einreichen müssen, ich hatte an jenem Tag noch nichts zustande gebracht und zählte darauf, in einem halbstündigen Endspurt noch ein Wunder zu vollbringen. Doch Rebecca sah blass und zittrig aus, also machte ich mich auf den Weg.

Auf der Rückfahrt gab ich mein Bestes und erkundigte mich bei Jake, wie sein Tag gelaufen war, allerdings mit wenig Erfolg. So war es jedes Mal. Entweder konnte er sich nicht erinnern – oder er wollte nicht reden. Wie immer fühlte es sich für mich an, als hätte er Rebeccas Fragen liebend gern beantwortet – was mich zusammen mit meiner anhaltenden Schreibblockade umso angespannter und unsicherer machte. Zu Hause sprang er wie der geölte Blitz aus dem Auto. Ob er zu Mummy laufen dürfe? »Klar«, sagte ich, »aber sie hat sich nicht wohlgefühlt, sei also lieb zu ihr – und vergiss nicht, die Schuhe auszuziehen, du weißt, dass Mummy es nicht mag, wenn wir Schmutz reintragen.«

Ich selbst trödelte noch ein bisschen am Auto herum, dachte darüber nach, was für ein elender Versager ich war. Langsam schlenderte ich nach drinnen, legte in aller Seelenruhe meine Sachen in der Küche ab – und bemerkte, dass mein Sohn seine Schuhe nicht an der Tür ausgezogen hatte. Natürlich nicht – weil er nie auf mich hörte. Im Haus war es mucksmäuschenstill. Ich nahm an, dass Rebecca sich oben hingelegt hatte und Jake zu ihr hochgelaufen und bei ihnen alles in bester Ordnung war. Nur bei mir nicht.

Erst als ich ins Wohnzimmer ging, entdeckte ich Jake an der Wand vor der Tür zur Treppe. Er starrte auf irgendwas am Boden hinab, was ich nicht sehen konnte. Er stand stocksteif da; was immer er dort anstarrte, schien ihn regelrecht zu hypnotisieren. Erst als ich langsam auf ihn zuging, sah ich, dass er gar nicht reglos dastand, sondern zitterte. Und dann sah ich Rebecca, die am Fuß der Treppe lag.

Danach ist alles wie ausradiert. Ich weiß, dass ich Jake von dort weggezogen habe. Ich weiß, dass ich den Notarzt gerufen habe. Ich weiß, dass ich all diese richtigen Sachen gemacht habe. Aber ich kann mich nicht mehr daran erinnern.

Das Schlimmste war, dass ich außerdem wusste – auch wenn er mit mir nie darüber gesprochen hat –, dass Jake sich an alles erinnerte.

Zehn Monate später standen in unserer Küche sämtliche Oberflächen mit Tellern, Bechern und Schüsseln voll, und das bisschen noch sichtbare Arbeitsfläche war von Flecken und Bröseln übersät. Überall im Wohnzimmer lag jede Menge Spielzeug herum. Es sah aus, als hätten wir längst unsere Habseligkeiten durchgesehen und beiseitegeräumt, was wir mitnehmen wollten, während der ganze Rest wie Abfall liegen geblieben war. Schon seit Monaten lag über diesem Haus ein Schatten, der mit jedem Tag dunkler wurde. Es fühlte sich an, als hätte unser Zuhause mit Rebeccas Tod angefangen zu zerfallen. Andererseits war sie auch immer das Herzstück gewesen.

»Kann ich mein Bild wiederhaben, Daddy?«

Jake hatte sich auf den Boden gehockt und sammelte die Filzstifte vom Morgen ein.

»Wie heißt das Zauberwort?«

»Bitte.«

»Klar kannst du.« Ich legte es neben ihn. »Schinkenbrot?«

»Kann ich stattdessen Süßigkeiten haben?«

»Hinterher.«

»Okay.«

Ich machte ein bisschen Platz in der Küche und bestrich zwei Scheiben Brot mit Butter, legte dann drei Scheiben Schinken dazwischen und schnitt es in Viertel. Ein Versuch, die Depression zurückzudrängen. Einen Fuß vor den anderen setzen. In Bewegung bleiben.

Widerwillig dachte ich an das zurück, was im 567 Club vorgefallen war: dass Jake dem leeren Tisch zugewinkt hatte. Soweit ich mich erinnern konnte, hatte mein Sohn immer schon imaginäre Freunde gehabt. Er war immer ein Einzelgänger gewesen; er hatte etwas derart Verschlossenes, Introspektives an sich, dass andere Kinder sich lieber von ihm fernhielten. An guten Tagen konnte ich so tun, als wäre er in seiner eigenen Welt mit sich selbst glücklich und zufrieden. Ich konnte mir einreden, dass alles in Ordnung wäre. Doch die meiste Zeit machte ich mir einfach nur Sorgen.

Warum konnte Jake nicht sein wie die anderen Kinder? Irgendwie normaler?

Es war ein hässlicher Gedanke, ich weiß, aber ich wollte ihn doch nur beschützen. Die Welt konnte brutal sein, wenn man so still und in sich gekehrt war wie er, und ich wollte nicht, dass er durchmachen musste, was ich in seinem Alter erlebt hatte.

Bislang hatten sich seine imaginären Freunde nur ganz subtil gezeigt – in Form kurzer Gespräche, die er hier und da mit sich selbst führte –, das vorhin war das erste Mal gewesen, dass er vor anderen Leuten mit einer erfundenen Freundin inter­agiert hatte. Und das machte mir ein bisschen Angst.

Rebecca hatte nie Angst gehabt. »Es geht ihm gut – lass ihn einfach so sein, wie er ist.« Und da sie sich in den meisten Dingen besser auskannte als ich, hatte ich es immer so hingenommen. Aber inzwischen fragte ich mich, ob er nicht ernsthaft Hilfe brauchte.

Das war eine weitere Sache, mit der ich hätte klarkommen müssen, nur wusste ich nicht, wie. Ich wusste einfach nicht, wie ich mich richtig verhalten oder wie ich ihm ein guter Vater sein sollte. Gott, ich wünschte mir, Rebecca wäre noch da.

Du fehlst mir …

Nur dass dieser Gedanke mir die Tränen in die Augen trieb. Also verscheuchte ich ihn und nahm stattdessen den Teller in die Hand. Im selben Moment hörte ich Jake im Wohnzimmer vor sich hin murmeln.

»Ja.« Und dann, wie zur Antwort auf etwas, das ich nicht gehört hatte: »Ja, ich weiß.«

Leise lief ich zur Tür, ging aber nicht hinein – blieb einfach nur stehen und hörte zu. Ich konnte Jake nicht sehen, aber das Licht, das am anderen Ende des Zimmers durchs Fenster fiel, warf seinen Schatten über die Couch: eine amorphe Figur, nicht als menschlich erkennbar, aber beweglich, als würde er auf den Knien vor- und zurückschaukeln.

»Ich denk dran.«

Dann herrschte für ein paar Sekunden Stille, in der ich bloß meinen eigenen Herzschlag hörte. Schlagartig wurde mir bewusst, dass ich die Luft angehalten hatte. Als er wieder redete, klang er verärgert, war laut geworden.

»Ich will es aber nicht sagen!«

In diesem Moment trat ich über die Schwelle.

Jake kauerte noch immer genau an der Stelle am Boden, wo er zuletzt gesessen hatte, nur dass er jetzt zur Seite starrte und sein Bild nicht mehr beachtete. Ich folgte seinem Blick. Natürlich war dort niemand – trotzdem konzentrierte er sich derart auf die leere Stelle, dass man sich dort irgendeine Art Präsenz in der Luft bildhaft vorstellen konnte.

»Jake?«, sagte ich leise.

Er sah mich nicht an.

»Mit wem redest du?«

»Mit niemandem.«

»Ich hab dich aber reden hören.«

Erst jetzt drehte er sich ein Stück um, nahm seinen Stift in die Hand und widmete sich wieder der Zeichnung. Ich machte noch einen Schritt nach vorn.

»Könntest du den mal hinlegen und mir antworten, bitte?«

»Warum?«

»Weil es wichtig ist.«

»Ich hab mit niemandem geredet.«

»Wie wär’s dann, du legst den Stift weg, einfach weil ich es dir gesagt habe?«

Aber er malte weiter, inzwischen geradezu inbrünstig, der Stift zog verzweifelte Kreise um die kleinen Figuren auf dem Papier.

Mein Frust schlug um in Ärger. Jake wirkte auf mich allzu oft wie ein Problem, das ich nicht lösen konnte – und ich verabscheute mich dafür, dass ich so hilf- und erfolglos war. Gleichzeitig nahm ich ihm übel, dass er mir nie auch nur einen Hinweis gab, mir nie irgendwie entgegenkam – ich wollte ihm schließlich helfen, ich wollte sicherstellen, dass es ihm gut ging, hatte aber das Gefühl, dass ich das allein nicht hinbekam.

Ich spürte, wie ich den Teller umklammerte.

»Dein Brot ist fertig.«

Ich stellte es auf dem Sofa ab und wartete nicht, ob er sich von seiner Zeichnung abwandte. Stattdessen lief ich sofort ­zurück in die Küche, lehnte mich an die Arbeitsfläche und schloss die Augen. Aus irgendeinem Grund hatte ich Herz­rasen.

Du fehlst mir so sehr, sagte ich in Gedanken zu Rebecca. Ich wünschte mir, du wärst hier – aus so vielen Gründen, aber im Augenblick, weil ich nicht glaube, dass ich das hier allein schaffe.

Dann fing ich an zu weinen. Es war mir egal. Jake würde entweder weiterzeichnen oder sein Abendbrot essen, aber ganz sicher nicht in die Küche kommen. Warum auch, wenn er hier ohnehin nur mich vorfinden würde? Insofern war es okay. Sollte mein Sohn doch weiter leise mit Leuten reden, die nicht existierten. Solange ich genauso leise war, konnte ich das auch.

Du fehlst mir.

An diesem Abend trug ich Jake wie immer nach oben ins Bett. So ging es seit Rebeccas Tod jeden Tag. Er weigerte sich, an der Stelle vorbeizugehen, wo er sie gefunden hatte, und klammerte sich stattdessen an mir fest, hielt die Luft an und presste sein Gesicht an meine Schulter. Jeden Morgen, jeden Abend und wann immer er ins Bad musste. Ich verstand ihn ja, aber allmählich wurde er zu schwer für mich, und zwar in mehr­facher Hinsicht.

Hoffentlich würde sich das bald ändern.

Sobald er im...