Leiser Tod - Kriminalroman. Ein Inspector-Challis-Roman (6)

von: Garry Disher

Unionsverlag, 2018

ISBN: 9783293309838 , 352 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Leiser Tod - Kriminalroman. Ein Inspector-Challis-Roman (6)


 

1


Grace taugte als Name so gut wie jeder andere, und an diesem Morgen war Grace in Hobart, schlenderte durch eine wohlhabende Ecke von Sandy Bay und besah sich die abgelegenen Anwesen. Ein Freitagmorgen im Frühling, der vom Meer hereinkommende Nebel verzog sich in Richtung Storm Bay und Tasmanische See, das Leben war schön, und in ihren weißen Tennissachen über der Trainingshose, mit Sonnenbrille, Nike-Sneakers und keck getragener Cap fiel sie nicht weiter auf. Ein Tennisschlägergriff lugte aus ihrer Sporttasche hervor und wies sie als eine nicht berufstätige junge Ehefrau aus, vielleicht auch eine junge Berufstätige an ihrem freien Tag, oder sogar – wenn man von der misstrauischen Sorte war – eine getarnte Ehebrecherin.

Doch es klingelten keine Alarmglocken. Kein Grund, sie anzuhalten und zu durchsuchen. Sie gehörte hierher.

Tatsächlich aber versteckte sie sich vor aller Augen; Grace verbarg sich hinter Cap und Sonnenbrille, verbarg die Tatsache, dass der Tennisrock am Body mit Klettverschluss festgemacht war und dass sich in der Sporttasche Einbruchswerkzeug befand, Handschuhe und robuste Plastiksäcke. Eine laut gerufene Anschuldigung, eine Nachfrage, und schon wäre sie verschwunden. Sie würde den Rock abmachen, ihn zusammen mit Cap, Tasche und Sonnenbrille wegwerfen und sich in eine Joggerin verwandeln, und wer schaute denn bei einer Joggerin schon zweimal hin?

»Rechne immer mit dem Schlimmsten«, hatte Galt ihr eingebläut, »dann erlebst du auch keine Überraschungen.«

Ein weiterer Punkt, auf den Galt sie hingewiesen hatte, war es, Appartementhäuser zu meiden. Nun, hier gab es keine. In einem Wohnblock ist immer jemand zu Hause, hatte Galt gesagt, immer gibt es eine arme Seele, die den ganzen Tag am Fenster hockt und auf Ablenkung hofft, um die ereignislosen Stunden zu erhellen.

Als Nächstes hielt Grace Ausschau nach Kindern: Spielzeug, Fahrräder, Skateboards, ein kleiner pinkfarbener Gummistiefel, der im Vorgarten lag. Klar, Kinder gingen zur Schule, hatte Galt gesagt; aber nicht, wenn sie noch klein sind oder die Windpocken haben, und auch nicht, wenn sie wegen eines Lehrertages freihaben. Und ein Kind daheim hieß, ein Erwachsener daheim.

Auch Fahrzeuge standen auf Galts Checkliste. Grace wusste, sie war im Land der Haushalte mit zwei Pkw; zwei Erwachsene, die gut bezahlte Jobs hatten und von neun bis fünf arbeiteten. Schichtarbeiter gab es hier keine. Bleib auf der sicheren Seite, hatte Galt immer gesagt. Steht ein Auto in der Einfahrt oder im Carport, geh einfach weiter. Oder die Garage ist geschlossen. Das heißt noch lange nicht, dass die Garage leer ist.

Und schließlich suchte man sich seine Ziele so aus, dass das Problem des neugierigen Nachbarn minimiert wurde. Die Personen, die es zu bestehlen lohnte, zahlten gutes Geld dafür, die Blicke der anderen abzuwehren, hatte Galt gesagt. Sie sollte nach hohen Hecken, abfallendem Gelände, dichtem Baumbewuchs und kurvigen Straßen Ausschau halten.

Alles andere hatte ihr Galt nicht beigebracht. »Ich kann dir zeigen, wie du unter dem Radar durchhuschst«, hatte er gesagt. »Ich kann dir meine Leute vom Hals halten, aber du warst die Einbruchskönigin, lange bevor ich dich gefunden habe.«

Grace durchquerte zügig die nähere Umgebung. Die meisten Häuser waren von Bäumen und Büschen umstanden. Niemand war zu sehen, bis auf einen Arbeiter, der an einem Gartenzaun ein Tor anbrachte, und einen anderen, der einen Rasenmäher vom Pick-up schob. Die Häuser reichten von holzverschalten Sommerhäusern bis hin zu ultramodernen Glas-Beton-Konstruktionen, dazwischen Häuser im Tudor-Stil, toskanische Villen und kleine, geziegelte Anwesen aus den Dreißigern mit steilen Dächern. Grace legte sich im Geiste vier Zielobjekte zurecht und machte sich an die Arbeit.

Das erste war ein albtraumhaftes Gebilde aus miteinander verbundenen Betonwürfeln weit abseits der Straße hinter einer Feldsteinmauer. Entschlossen betrat sie das Grundstück, wie sie es immer tat, so als würde ihre beste Freundin hier wohnen und sie hätten sich zum Tennis verabredet. Auf halbem Weg zur Haustür blies sie in eine Hundepfeife. Sofort erhielt sie wildes Bellen zur Antwort, ein tiefes Blaffen und ein hohes Kläffen.

Grace zog sich zurück.

In der nächsten Straße stand ein flaches Ranchhaus aus den Siebzigern unter Eukalyptusbäumen. Keine Hunde. Grace ging einmal zügig um das Gebäude herum, prüfte Türknäufe und -griffe und linste durch die Fenster. Ab und zu stieß sie auf offene Türen und Fenster, falsche Alarmanlagen oder gar keine Sicherheitsvorrichtungen, aber dort gab es meistens auch nichts, was sich zu stehlen lohnte. Grace ging noch einmal um das Haus herum, doch diesmal fuhr sie mit einem Kompass an den Tür- und Fensterrahmen entlang. Die Kompassnadel schlug an allen Fenstern und Türen aus und verriet so, dass dort Strom floss, nur an der Haustür nicht. Die Menschen hegten falsche Vorstellungen von der Sicherheit ihrer Haustüren, vielleicht weil die meisten davon auf die Straße hinausgingen. Grace prüfte sie erneut. Ein leichter Ausschlag der Kompassnadel nahe dem Türriegel.

Es handelte sich um eine Glastür mit einer einzelnen Scheibe, die von schmalen Holzleisten im Rahmen gehalten wurde. Grace zog eine Eisenstange aus der Sporttasche, hebelte die Leisten ab und legte sie sorgfältig neben sich, bis die ganze Scheibe frei lag. Dann hob sie sie mit zwei Saugnäpfen aus dem Glasereibedarf aus dem Rahmen und stellte sie an die Wand neben dem Hauseingang.

Sie schlüpfte ins Haus, das nur so nach Geld roch. Das Gebäude selbst war hässlich und altmodisch, die Inneneinrichtung aber ultramodern, mit polierten Holzdielen und mit Glas und Leder minimalistisch eingerichtet; an einer Wand hingen zwei Vogelbilder von Brett Whiteley. Die Whiteleys würden ein paar Tausender bringen, aber sie waren zu groß, um sie mitzunehmen. Grace fotografierte sie. Vielleicht kam sie in einem Jahr noch einmal vorbei, wenn die Hausbesitzer sich von dem Schrecken erholt hatten. Sie würde Finch die Fotos zeigen, um herauszufinden, ob es einen möglichen Interessenten gab. Dann schoss sie noch ein paar Fotos von zwei Satsuma-Vasen von Fuzan. Ende 19. Jahrhundert, nahm sie an, Wert etwa fünftausend australische Dollar. Ein paar Hundert Dollar von Finch, aber auch sie waren zu groß, um sie in die Sporttasche zu stecken, ohne Gefahr zu laufen, sie zu beschädigen.

Nachdem sie sich kurz im Haus umgesehen hatte, konzentrierte sie sich auf Schlaf- und Arbeitszimmer. In beiden entschärfte Alltagskram die kühle Ultramoderne ein wenig: Im Schlafzimmer ein Taschenbuch mit gebrochenem Rücken, eine Blisterpackung Schmerztabletten, eine einsame Socke; im Arbeitszimmer ein paar angeknabberte Kugelschreiber, eine Ablage voller Rechnungen und Briefe, ein Satz Golfschläger und eine Wasserpistole. Das alles verriet ihr etwas über das häusliche Leben, über die Familie, doch dafür interessierte sich Grace nicht sonderlich. Sie zog eine Schublade nach der anderen auf.

Fünf Minuten später hatte sie das Haus wieder verlassen. In der Tasche hatte sie ein Paar Smaragdohrringe, eine Uhr von Bulova, ein iPod Classic, einen Toshiba-Laptop und neue, noch verpackte AutoCAD-Software. Allein die Software kostete neu sechstausend Dollar und der Computer dreitausend.

In der nächsten Straße stand ein schlichtes Holzhaus mit einem riesigen, modern luftigen Anbau. Keine Hunde, wieder eine leicht zu knackende Haustür, doch im letzten Augenblick entdeckte sie durch einen Spalt im Wohnzimmervorhang ein in der Zimmerecke angebrachtes rotes Blinklicht. Sie schaute in einem anderen Zimmer nach: auch hier ein rotes Licht. Grace hatte nicht die Absicht, sich mit Bewegungsmeldern anzulegen. Also ging sie zum vierten und letzten Zielobjekt auf ihrer Liste, einem hübschen Lofthouse mit einem steilen Dach und kirchenhohen Decken. Auch hier kein Hund. Keine Bewegungsmelder, soweit sie sehen konnte, und eine Haustür, die nur mit einem Alarm am Riegel versehen war. Die Tür bestand ganz aus Holz: Außenrahmen, eine Querstrebe und Sperrholztafeln, die von schmalen Leisten gehalten wurden. Grace entschied, die untere Tafel zu entfernen und hindurchzukriechen.

Als Erstes aber ein Ablenkungsmanöver. Sie nahm ein Paar Schuhe Größe sechsundvierzig aus der Tasche, zog sie über ihre Laufschuhe an und stapfte über den Lehmboden an der Seitenwand. Damit die Ermittler hier etwas zu tun hatten.

Dann machte sie sich an die Arbeit. Sie löste die Leisten ab und brachte zwei Ösenhaken an der Tafel an, die sie zuvor abgewischt und mit Bleiche besprüht hatte, um ihre DNA-Spur zu vernichten. Als sich die Dämpfe verzogen hatten, riss sie die Tafel aus dem Rahmen und legte sie beiseite.

Sie kroch durch die Öffnung, blieb mit der Hüfte in der schmalen Öffnung hängen und riss sich einen winzigen weißen Faden aus dem Rock. Nach getaner Arbeit verbrannte sie stets Kleidung, Handschuhe, Schuhe, trotzdem entfernte sie den Faden. Wozu der Polizei die Gelegenheit geben, das Täterprofil noch durch »trägt womöglich weiße Tenniskleidung« zu ergänzen?

Das Innere war überladen und wirkte abgewohnt. Teure Teppichböden, aber das Muster änderte sich von Raum zu Raum und passte nie so recht zu den Wänden oder Vorhängen. Zu viel Nippes: Schäferinnen aus Porzellan, Schüsselsets aus Holz, gläserne, bunt durchzogene Briefbeschwerer, Familienfotos in schweren Silberrahmen (nur versilbert, stellte sie...