Forderung - Roman

von: John Grisham

Heyne, 2018

ISBN: 9783641174194 , 448 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Forderung - Roman


 

1

Wie immer am Ende eines Jahres bereiteten sich die Fraziers auch diesmal auf die Festtage vor, obwohl im Haus niemandem nach Feiern zumute war. Aus reiner Gewohnheit schmückte Mrs. Frazier ein Bäumchen, wickelte ein paar einfache Geschenke in Papier und backte Kekse, die niemand essen würde. Aus den Lautsprechern der Stereoanlage erklang wie üblich ununterbrochen der Nussknacker, und sie summte in der Küche dazu, als herrschte eitel Sonnenschein.

Dabei waren die Zeiten alles andere als rosig. Vor drei Jahren hatte ihr Mann sie sitzen gelassen. Nicht dass sie ihn vermisste, ganz im Gegenteil. Er hatte es damals gar nicht abwarten können, mit seiner blutjungen und – wie sich herausstellen sollte – von ihm schwangeren Sekretärin zusammenzuziehen. Im Stich gelassen, mittellos und gedemütigt, war Mrs. Frazier in Depressionen verfallen, mit deren Folgen sie noch heute kämpfte.

Louie, ihr jüngerer Sohn, blickte schweren Zeiten entgegen, weil ihm ein Drogenprozess drohte. Er war auf Kaution frei, stand allerdings unter Hausarrest. Ein Geschenk erwartete sie nicht von ihm. Angeblich konnte er das Haus wegen der elektronischen Fußfessel nicht verlassen, doch das war eine billige Ausrede. In den beiden vergangenen Jahren hatte er sich frei bewegen können und trotzdem nie etwas für sie besorgt.

Mark, der ältere Sohn, machte Ferien vom Horror des Jurastudiums in Washington, D. C. Obwohl es ihm finanziell noch schlechter ging als seinem Bruder, hatte er ihr ein Parfüm gekauft. Er würde im Mai seinen Abschluss machen, im Juli die Prüfung zur Zulassung bei der Anwaltskammer und im September bei einer Kanzlei in Washington anfangen. Wie es der Zufall wollte, war Louies Prozess für den gleichen Zeitraum anberaumt. Dabei war fraglich, ob das Verfahren jemals vor Gericht gehen würde, und zwar aus zwei Gründen: Erstens war Louie von zivilen Drogenfahndern in flagranti erwischt worden, wie er zehn Tüten Crack verkaufte – es gab sogar eine Videoaufnahme davon. Zweitens konnten sich weder Louie noch seine Mutter einen anständigen Anwalt leisten. Während der Feiertage deuteten sowohl Mrs. Frazier als auch Louie wiederholt an, dass Mark doch einspringen und die Verteidigung seines Bruders übernehmen könne. Die Angelegenheit lasse sich bestimmt so lange verschleppen, bis Mark zugelassen sei, er stehe ja kurz davor. Anschließend werde er sicher einen dieser Formfehler finden, von denen man immer lese, sodass das Verfahren eingestellt werde.

Ihr bescheidener Wunschtraum wies ein paar grundlegende Denkfehler auf, doch Mark dachte ohnehin nicht im Traum daran, auf die Idee einzugehen. Als sich abzeichnete, dass Louie den Silvesterabend vor dem Fernseher zu verbringen gedachte, um mindestens sieben Football-Play-off-Spiele in Folge zu schauen, verzog er sich klammheimlich, um einen Freund zu besuchen. Auf der Heimfahrt beschloss er unter dem Einfluss des Alkohols, das Weite zu suchen, nach Washington zurückzukehren und sich bei seinem zukünftigen Arbeitgeber die Zeit zu vertreiben. Die Uni würde zwar erst in knapp zwei Wochen wieder anfangen, doch nachdem er sich zehn Tage lang Louies Jammern und Klagen angehört hatte, ganz zu schweigen vom ewigen Nussknacker-Gedudel, hatte Mark die Nase voll von zu Hause und freute sich geradezu auf das letzte Semester.

Er stellte seinen Wecker auf acht Uhr. Beim Frühstück erklärte er seiner Mutter, dass er in Washington gebraucht werde und leider vorzeitig abreisen müsse. Sorry, Mom, dass ich dich mit meinem nichtsnutzigen Bruder allein lasse. Aber es war nicht seine Aufgabe, Louie zu erziehen. Er hatte seine eigenen Probleme.

Zum Beispiel sein Wagen, ein Ford Bronco, den er seit der Highschool fuhr. Irgendwann mitten im Studium war der Tacho bei knapp dreihunderttausend Kilometer stehen geblieben. Das Auto brauchte unbedingt eine neue Benzinpumpe, und das war nicht der einzige Punkt auf der Liste der dringenden Reparaturen. Motor, Getriebe und Bremsen hatte Mark in den letzten zwei Jahren mit Klebeband und Büroklammern notdürftig zusammengeflickt, doch bei der Benzinpumpe hatten seine Künste versagt. Sie lief zwar noch, allerdings nur mit halber Kraft, sodass der Bronco selbst bei durchgedrücktem Gaspedal nicht mehr als achtzig Stundenkilometer schaffte. Um auf den Schnellstraßen nicht von Sattelzügen überrollt zu werden, kreuzte Mark auf Nebenstraßen durch das ländliche Delaware und an der Atlantikküste entlang, sodass er von Dover bis in die Innenstadt von Washington nicht zwei Stunden brauchte, sondern vier.

Immerhin hatte er auf diese Weise Zeit, um über seine anderen Probleme nachzudenken, zum Beispiel die horrenden Schulden aus dem Studienkredit. Das College hatte er mit sechzigtausend Dollar im Minus und ohne Aussicht auf einen Job abgeschlossen. Sein Vater – damals zwar noch glücklich verheiratet, aber hoch verschuldet – hatte ihn davor gewarnt, weiter zu studieren. »Verdammt, Junge«, hatte er gesagt, »nach vier Jahren College bist du mit sechzigtausend in den Miesen. Hör auf, bevor es noch schlimmer wird.« Doch Mark gab nichts auf die Finanzkompetenzen seines Vaters. Er jobbte als Barmann oder fuhr Pizza aus und versuchte unterdessen, seine Kreditgeber zu vertrösten. Im Rückblick konnte er nicht mehr sagen, wie er auf die Idee mit dem Jurastudium gekommen war, doch er erinnerte sich, ein Gespräch zwischen zweien seiner Verbindungsbrüder mitgehört zu haben, die beim Zechen ins Philosophieren geraten waren. Mark hatte hinter der Theke an jenem Abend nicht viel zu tun gehabt, und nach der vierten Runde Wodka und Cranberrysaft hatten sich die beiden so hineingesteigert, dass die ganze Bar mithören konnte. Von den vielen spannenden Dingen, die sie sagten, waren Mark zwei im Gedächtnis geblieben: »Die großen Hauptstadtkanzleien stellen ein wie verrückt.« Und: »Die Anfangsgehälter liegen bei hundertfünfzigtausend im Jahr.«

Kurz darauf hatte er zufällig einen ehemaligen Kommilitonen aus dem College getroffen, der inzwischen im ersten Semester an der Foggy Bottom Law School studierte. Der Freund schwärmte, dass er sein Studium innerhalb von zweieinhalb Jahren durchziehen und anschließend bei einer großen Kanzlei mit üppigem Gehalt unterkommen werde. Die Zentralbank werfe den Studenten die Darlehen förmlich hinterher. Jeder könne sich bewerben. Okay, er werde mit einem Berg Schulden ins Arbeitsleben starten, aber den baue er binnen fünf Jahren wieder ab. Es sei jedenfalls mehr als sinnvoll, »in sich selbst zu investieren«, so der Freund, denn die Schulden von heute seien die Grundlage für die Ertragskraft von morgen.

Das leuchtete Mark ein, und er begann, für die Aufnahmeprüfung zu lernen. Das Resultat war bescheiden, doch darüber sah die Foggy Bottom Law School großzügig hinweg. Ebenso wie über sein College-Diplom mit einem Notendurchschnitt von 2,8 von vier möglichen Punkten. Die FBLS empfing ihn mit offenen Armen. Der Kredit wurde umgehend bewilligt, und fortan überwies das Bildungsministerium jährlich 65000 Dollar für ihn. Ein Semester trennte Mark noch vom Abschluss, und er musste der bitteren Realität ins Auge sehen, dass er die Uni mit einer Belastung von 266000 Dollar inklusive Zinsen verlassen würde, für College und Jurastudium.

Nicht minder problematisch waren seine Jobaussichten. In Wahrheit war der Arbeitsmarkt bei Weitem nicht so reizvoll wie erhofft und auch nicht so dynamisch, wie in den Hochglanzbroschüren und auf der schamlos beschönigenden Website der Foggy Bottom dargestellt. Abgänger von Eliteuniversitäten fanden immer noch beneidenswert gut bezahlte Stellen, doch die Foggy Bottom gehörte nicht in diese Kategorie. Mark war es gelungen, sich von einer mittelgroßen Kanzlei anheuern zu lassen, die als Fachgebiet »Regierungskontakte« angab, was nichts anderes hieß als Lobbyismus. Sein Einstiegsgehalt stand noch nicht fest, weil sich die Kanzleileitung erst Anfang Januar zusammensetzen würde, um anhand des Vorjahresergebnisses die Gehälter zu bestimmen. In ein paar Monaten hatte Mark einen wichtigen Termin...