Sexueller Missbrauch

von: Lutz Goldbeck, Marc Allroggen, Annika Münzer, Miriam Rassenhofer, Jörg M. Fegert

Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, 2016

ISBN: 9783844416800 , 156 Seiten

Format: PDF, ePUB, OL

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 21,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Sexueller Missbrauch


 

|V|Einleitung: Begriffe, Grundlagen, Zielsetzung und Aufbau des Buches


Begriffe


Kaum ein Gebiet im Bereich von Beratung und Psychotherapie ist in den letzten Jahrzehnten ideologisch so stark umstritten gewesen wie der Umgang mit Missbrauchsverdacht in der Therapie und der Umgang mit Betroffenen in Beratung und Therapie. Die ursprüngliche Einführung des Begriffs sexueller Missbrauch war eine an sich falsche Übersetzung aus dem Englischen, wo „Abuse“ für Misshandlung (child abuse = Kindesmisshandlung) steht. Im deutschsprachigen Gebrauch hat sich der Begriff sexueller Missbrauch eingebürgert, während wir im Zusammenhang von körperlichen Übergriffen von Misshandlung sprechen. Abweichend davon ist der Sprachgebrauch in der ICD-10-GM, also der regierungsamtlichen Fassung der ICD-10, die in den Codes T 74 alle Misshandlungsformen als Missbrauch bezeichnet. Vergleichbare Formulierungen finden sich auch in deutschen Publikationen, die den Childhood Trauma Questionnaire verwenden (z. B. Häuser et al. 2011), wo auf diese Kategorienbildung Bezug genommen wird.

Während Kavemann und Lohstöter (1999) in ihrem Buch Väter als Täter den Begriff sexueller Missbrauch in Deutschland populär machten und ihn auch in der häufig feministisch orientierten Beratungsszene etablierten, grenzten sich systemisch- oder familienorientierte Beratungsangebote zur damaligen Zeit meist durch den Gebrauch von Begriffen wie Inzestfamilie etc. ab (vgl. Fegert, 1991). Zentral in der Debatte war schon damals die Frage, ob es sich bei diesen Übergriffen primär um Gewaltakte in einem Gewaltverhältnis, um Sexualstraftaten oder um ein Symptom einer dysfunktionalen Familie handelt. Je nach Einstellung der Autorinnen und Autoren weist der jeweilige Sprachgebrauch auf kausale Vorstellungen zur Entstehung hin, je nachdem, ob stärker der Gewaltaspekt, die Abhängigkeit und die strukturelle Gewalt in Institutionen betont wird oder ob – wie z. B. im Zusammenhang mit der Pädophiliedebatte in der Sexualmedizin – stärker sexuelle Neigungen und Persönlichkeitsentwicklungen thematisiert werden. So gab es z. B. lange Zeit in der systemischen Analyse, vor dem Hintergrund von Homöostase-Modellen, keinen Raum für eine Machtanalyse. In der Sicht auf die sogenannte „Inzestfamilie“ gab es deshalb häufig auch keine Verwendung der Begriffe „Täter“ und „Opfer“, sondern es wurde von Symptomträgern und der Funktionalität des Verhaltens im systemischen Zusammenhang gesprochen.

Sowohl der Täterbegriff als auch der Opferbegriff sind ebenfalls belastet und sollten reflektiert verwendet werden. In der Forschungsliteratur wird unter „perpetrator“ häufig die Person beschrieben, welche den Übergriff begangen hat, unabhängig davon, ob der Übergriff nun im strafrechtlichen Sinne als Sexualstraftat eingeordnet werden kann. Sexualstraftäter („sexual offender“) sind also Personen, welche im strafrechtlichen Sinne gegen entsprechende Gesetzesnormen verstoßen haben. Gerade weil falsche Beschuldigungen erhebliche Folgen haben können, halten wir es im klinischen Kontext für wichtig, wenn sich ein Kind anvertraut oder Angehörige bestimmte Be|VI|schuldigungen vorbringen, nicht im Sinne einer Vorverurteilung generell vom Täter zu sprechen, sondern von Angeschuldigten, wenn Berichte oder Stellungnahmen abgefasst werden. Denn nicht alle Personen, die verdächtigt werden, sind im strafrechtlichen Sinne tatverdächtig. Hier muss es sich schon um einen rechtlich substanziierten Vorwurf handeln. Nicht alle von der Polizei als tatverdächtig Betrachteten werden von den Staatsanwaltschaften angeklagt, und nur ein Teil der Angeklagten wird verurteilt. Gerade im Fall von Sexualstraftaten gibt es auch noch andere Aburteilungswege, bei Ersttätern häufig Verfahrenseinstellung gegen Zahlung einer Geldbuße. All dies wird in Alltagsdiskussionen, aber auch in klinischen Supervisionen häufig unter dem Begriff Täter zusammengefasst. Hier sollten sich Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutinnen sowie -therapeuten und alle, die sich um betroffene Kinder kümmern, um eine Präzision in der Sprache bemühen.

Auch der Opferbegriff ist schillernd und problematisch. Betroffene selbst haben argumentiert, dass sie der Opfer-Begriff auf diese passive Sicht im Sinne des Strafrechts reduziert. Der Opfer-Begriff wird im Kontext sogenannter Opferentschädigungsverfahren im sozialen Entschädigungsrecht gebraucht. Er findet sich auch in anderen juristischen Kontexten wie Täter-Opfer-Ausgleich, Opferanwalt, Opferbegleitung im Sinne von Opfer einer Straftat. Wichtig ist, dass Betroffene stets Menschen mit unterschiedlichen Potenzialen und Ressourcen sind, die durchaus nicht alleine nur auf eine Opferrolle reduziert werden möchten. Metaphern wie die zum Teil in der populärpsychologischen Literatur verbreitete „Seelenmord-Metapher“ sind deshalb gefährliche Zuschreibungen. Immer wieder ist in der politischen Debatte um die Angemessenheit von Verjährungsfristen und Strafmaßen sexueller Missbrauch als „Seelenmord“ bezeichnet worden. In dieser Argumentation wurde dann gefordert, da Mord auch nicht verjähre, sexuellen Missbrauch ebenfalls nicht verjähren zu lassen. Manche Betroffene haben damit argumentiert: „Wir haben auch lebenslänglich, soll der Täter doch ebenfalls lebenslänglich bekommen.“ Empirisch wissen wir, dass unter bestimmten Umständen betroffene Kinder und Jugendliche auch relativ resilient selbst auf massive Belastungen wie sexuellen Missbrauch reagieren können. Insofern sind solche reduktionistischen Bilder und Festschreibungen aus therapeutischer Sicht abzulehnen.

Ein weiteres sprachliches Missverständnis hat bei der Übertragung des Begriffs „Disclosure“ aus dem Englischen ins Deutsche in den 1990er Jahren eine erhebliche Rolle gespielt. Unter Disclosure wird der Prozess des sich Anvertrauens, der Offenbarung, z. B. gegenüber einem Helfer, verstanden. In Deutschland wurde in den 1990er Jahren der Begriff „Aufdeckung“ als Übersetzung populär. Dieser implizierte aber im Gegensatz zum englischsprachigen, ursprünglichen Begriff ein aktives, investigatives Vorgehen. Unsere Untersuchung im beraterischen und strafrechtlichen Feld in Köln und Berlin (Fegert et al., 2001) zeigte für das Ende der 1990er Jahre in den damals durchgeführten qualitativen Interviews und quantitativen Erhebungen eine ziemliche Verwirrung der verschiedenen Professionen, wo sich Strafverfolger vor allem als Helfer für die Kinder definierten, während Beratende und Behandelnde häufig über Beweissicherung, Aufdeckung usw. redeten. Besonders exponiert mit zum Teil skurrilen, suggestiven Vorschlägen zur Aufdeckungsarbeit in Gruppen hat sich der |VII|mittlerweile emeritierte Münsteraner Kinder- und Jugendpsychiater Tilmann Fürniss, der zu dieser Zeit systematisch Kurse zur „Aufdeckungsarbeit“ abgehalten hat. Er sprach von einem „Syndrom der Geheimhaltung“ (Fürniss, 1991). Die Auseinandersetzung um suggestive Methoden im Umgang mit dem von Fürniss postulierten „Syndrom der Geheimhaltung“ kulminierte in den Mainz-Wormser Prozessen und der damit verbundenen Debatte um den sogenannten „Missbrauch mit dem Missbrauch“, die letztendlich zum deutschen Sonderweg in der Glaubhaftigkeitsbegutachtung durch die Rechtsprechung des BGH in Strafsachen vom 30. Juli 1999 (1StR618/98) führte (vgl. Fegert 2001). Wir verwenden deshalb in diesem Buch und in unserer praktischen Tätigkeit den Begriff Aufdeckung nicht, sondern verwenden entweder den englischen Fachbegriff Disclosure oder sprechen von sich mitteilen oder sich offenbaren.

In der Sexualwissenschaft wird sexueller Missbrauch sehr stark unter dem Aspekt des Sexualtriebs unter fantasierten oder vollzogenen sexuellen Handlungen betrachtet, wobei es um Neigungstäter, wie Menschen mit einer Pädophilie, also einer fixierten Sexualpräferenz geht, im Unterschied zu „Gelegenheitstätern“, welche unter bestimmten Bedingungen, bei ansonsten unauffälliger sexueller Orientierung auf erwachsene Sexualpartner als Objekte, dann Kinder als Sexualobjekte wählen. Generell im Vordergrund dieser häufig auch auf die Persönlichkeitsentwicklung und die Sexualentwicklung Bezug nehmenden sexualmedizinischen Debatte ist die Betrachtung der Taten in Bezug auf die sexuelle Komponente des Übergriffs. In der soziologischen Analyse, welche von der Betrachtung von Gewalt und Geschlechterverhältnissen ausgeht, wird zur Betonung dieses zentralen Machtgefälles häufig nicht von sexueller Gewalt, sondern von sexualisierter Gewalt gesprochen, um deutlich zu machen, dass es sich um eine Form der Macht- oder Gewaltausübung handelt, welche im scheinbar sexualisierten Gewande daherkommt (vgl. Gerstendörfer, 2007). In der Verhaltensbeschreibung hat durch die frühen Arbeiten von Friedrich das Adjektiv ...