Der Tag, an dem uns Vater erzählte, dass er ein DDR-Spion sei - Eine deutsche Tragödie

von: Thomas Raufeisen

Verlag Herder GmbH, 2011

ISBN: 9783451335549 , 200 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 10,99 EUR

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Der Tag, an dem uns Vater erzählte, dass er ein DDR-Spion sei - Eine deutsche Tragödie


 

Seitenwechsel


22. Januar 1979. Nach höchstens anderthalb Stunden erreichten wir die Grenze an der gespenstischen Grenzübergangsstelle Helmstedt/ Marienborn. Die Kontrolle verlief diesmal zügig, bei diesem kalten Wetter und Schneetreiben war die Autobahn ohnehin recht leer. Wir reisten dann erst mal im Transit in die DDR ein, da wir ja spontan losgefahren waren und kein Einreisevisum besaßen. Mein Vater sagte: „Wir fahren erst mal nach Westberlin und von da aus können wir dann die Einreiseformalitäten erledigen und am nächsten Tag von dort einreisen.“ So erreichten wir ohne Komplikationen das DDR-Gebiet. Jetzt im Winter war hier alles noch grauer, düsterer und dunkler als auf unseren Sommertouren.

Die Fahrt ging also weiter Richtung Berlin; für eine kleine Pause fuhren wir an die Raststätte „Magdeburger Börde“. Mein Vater ging zu einer Telefonzelle, um zu telefonieren. Mit wem auch immer. Danach teilte er uns erfreut mit: „Wir müssen gar nicht mehr nach Westberlin rein. Wir werden bei Berlin eine Unterkunft bekommen, die Einreisepapiere werden über Nacht noch fertig gemacht. Morgen früh können wir gleich weiterfahren nach Ahlbeck!“ So einfach? Uns sollte es recht sein.

Weiter ging es auf der Autobahn. Inzwischen war es schon dunkel geworden. Gegen Abend erreichten wir den Berliner Ring. An der Raststätte „Berlin-Michendorf“ fuhren wir wieder von der Autobahn ab. Offensichtlich hatte mein Vater sich verabredet, denn er ging dort zu einem Auto und unterhielt sich mit den Insassen. Wir sollten im Auto sitzen bleiben und warten. Klar, war in der DDR einiges anders, aber das kam Michael und mir schon komisch vor. Alles war sehr verdächtig, aber was für einen konkreten Verdacht sollten wir denn schöpfen? Unser Vater war Ingenieur bei der Preussag, war ein bisschen schrullig, schaute gern die „Aktuelle Kamera“, war aber letztlich doch ein ganz normaler Westdeutscher. Wahrscheinlich hatte er mit ein paar West-Mark erreicht, dass unsere Reise problemlos weitergehen konnte. Mir war es auch egal. Mit 16 glaubt man noch an das unbegrenzte Organisationstalent seines Vaters.

Als er nun von dem anderen Auto zurückkam, sagte er: „Wir müssen dem Auto dort hinterherfahren, die Leute führen uns in ein Quartier zur Übernachtung!“ Meine Mutter ahnte wohl irgendetwas und fing an, mit meinem Vater leise zu flüstern. Wir folgten dem LADA, der uns zur Unterkunft führen sollte. Von der Autobahn ging es sehr schnell herunter. Es kam mir vor, als würden wir stundenlang über einsame, schlechte Landstraßen fahren, noch dazu in einem halsbrecherischen Tempo. Wir erreichten ein Dorf und hielten an einem Einfamilienhaus, mitten in der Einöde. Dort wurden wir von einem älteren Ehepaar empfangen, „Schwarzer“ hießen die beiden. Sie sagten uns, wir könnten bei ihnen übernachten. Schön, dass alles so klappte. Mein Bruder und ich haben keinen weiteren Gedanken daran verschwendet, wie merkwürdig dies alles war. Vielleicht waren wir ein bisschen unbedarft und naiv in der Hinsicht, aber wer ahnte schon, was hinter allem steckte! Schnell waren wir im Bett; ein Zimmer für meine Eltern, eins für meinen Bruder und mich.

Michael und ich waren am nächsten Morgen eher genervt als misstrauisch: „Was ist denn nun los, wann kriegen wir unsere Papiere?“ „Ja, Geduld, die kommen schon“, vertröstete unser Vater uns immer wieder. Inzwischen waren zwei Männer zu Besuch gekommen. Sie steckten in schlecht sitzenden grauen Anzügen und trugen die dicken, schwarzgeränderten Brillen, die man im Westen nur noch aus den Heinz-Erhardt-Filmen oder von alten Männern kannte.

Sie gingen mit meinem Vater in das Wohnzimmer. Irgendwann rief mein Vater meinen Bruder und mich dazu. Beigebraune Sitzecke mit Kunstleder-Armlehnen, der obligatorische höhenverstellbare Tisch, eine Schrankwand mit dem üblichen Nippes. Alles wirkte billig, eben wie DDR.

„Ich will Euch erst mal ‚Willi‘ und ‚Jürgen‘ vorstellen.“

Nur Vornamen?

Jetzt rückte er mit der Wahrheit über unseren „kleinen Ausflug“ heraus und es kam der Satz, der mit einem Mal unser ganzes Leben ändern sollte, der unsere Familie zerstören und die geplanten Lebenswege von uns allen umleiten sollte.

„Ich muss Euch beiden eine wichtige Mitteilung machen: Dass es Opa schlecht geht, stimmt nicht. Ich musste ganz schnell von Hannover weg. Ich war in Gefahr, dort verhaftet zu werden. Ich habe dort für die DDR gearbeitet!“ Michael und ich verstanden kein Wort.

Für die DDR? Er war doch Geologe bei der Preussag!

„Ich habe als ‚Kundschafter des Friedens‘ gearbeitet …“

Kundschafter des Friedens? Was heißt das denn? Das hässliche Wort „Spion“ nahm er nicht in den Mund.

„Meine Freunde hier haben mich gewarnt, dass meine Tarnung auffliegt. Wir können nicht mehr nach Hannover zurück, wir müssen uns hier in der DDR ein neues Leben aufbauen.“

In der DDR leben? Nicht mehr nach Hannover zurück? Nie mehr? Was soll das heißen? War das ein Witz? Ein übles Schauspiel? Warum saß unsere Mutter nicht bei uns? Und dennoch: Wir glaubten ihm noch nicht ganz.

Nun mischte sich der Ältere, „Willi“, in das Gespräch ein:

„Zu Eurer eigenen Sicherheit könnt Ihr nicht mehr in die BRD fahren, Ihr habt euch damit abzufinden, Hannover niemals mehr wieder zu sehen! Hannover könnt Ihr höchstens wiedersehen, wenn es sozialistisch geworden ist!“

Hannover sozialistisch? Was erzählt der da für einen absurden Blödsinn? Wer ist das überhaupt? Und warum duzt der uns? Was hat der uns zu sagen, dieser Willi? Der kennt uns doch gar nicht! Wir sind doch freie Menschen!

Die Herren seien vom Ministerium für Staatssicherheit, sagte mein Vater. Er sagte nicht „Stasi“, er sagte wirklich „Ministerium für Staatssicherheit“. Keiner im Westen tat das! „Uns wird es auf keinen Fall schlechter gehen als im Westen, sie haben mir versprochen, uns alle Unterstützung zu geben, die wir für das Einleben hier brauchen. Wir werden fast so weiterleben wie bisher.“

Wie soll das denn gehen? In der DDR wie im Westen leben? In diesem grauen Land? Wir kannten doch die DDR ein bisschen. Was passiert hier gerade mit uns? Und warum, verdammt noch mal, war Mutter nicht bei uns?

Ich hatte erst einmal ein Gefühl völliger Leere in mir. Träume ich das Ganze, wache ich gleich auf? Ich stand neben mir und beobachtete mich. Alles war unwirklich. Und dann diese Aussage, „wenn Hannover sozialistisch wird“. Sollte das ein Trost sein oder eine Drohung? Ich habe es jedenfalls eher wie eine Drohung uns gegenüber empfunden: Die waren nicht unsere Freunde. Im Gegenteil. Vielleicht die Freunde meines Vaters. Sie haben es nicht mal hingekriegt, das psychologisch so aufzubauen, dass sie uns Mut machten. Im Gegenteil. Schon in dem Moment war die Sache verloren für die. Aber das haben sie nicht begriffen.

Also, wenn die die Wahrheit sagen, heißt das, dass alles, was ich bisher gelebt habe, nicht mehr da war! Was soll denn jetzt hier passieren? In der DDR leben? In dieser tristen dunklen grauen DDR leben? Wann wache ich endlich auf aus diesem bösartigen Albtraum? Das geht doch alles nicht. Muss ich das hier ernstnehmen? Unmöglich!

Mein Leben war in diesem Moment zu Ende, das Gefühl hatte ich. Ich hörte meinen Vater und die Männer zwar noch auf uns einreden, aber ich verstand nichts mehr. Als ob der Ton im Film abgestellt würde und sich die Münder lautlos bewegten. Ich hatte in diesen Momenten das Gefühl, ich wäre gar nicht mehr körperlich da, würde irgendwie neben mir schweben. Ich bekam gerade noch mit, dass Michael, mein Bruder, anders reagierte, viel impulsiver. Er sprang auf mit „Leckt mich alle am Arsch!“ und rannte raus. Im Weglaufen rief er noch, dass er sich umbringen wolle, vor die S-Bahn werfen oder mit seinem Schal aufhängen. Unsere Mutter, die inzwischen dazu gekommen war, lief hinter ihm her. Ich war erst mal völlig erstarrt, konnte mich gar nicht rühren. Etwas war abgeschnitten. Mein Leben. Ich war nicht tot, aber auch nicht lebendig.

Warum hat uns unser Vater nicht früher aufgeklärt, warum hat er uns mit Hilfe einer Lüge in die DDR gelockt? Konnte er sich nicht denken, was das für uns bedeuten würde? Kannte er uns so schlecht? Er hätte uns den wahren Grund unseres überstürzten Aufbruches noch in Hannover erzählen müssen. Mein Bruder war schließlich schon volljährig und ich selbst mit 16½ Jahren auch kein Kind mehr. Wir hätten dann beratschlagen können: Was machen wir? Wenn überhaupt, wäre er mit Sicherheit alleine gefahren. Und was ist mit Mutter? Hat sie davon gewusst? Seit wann? Schon immer? Hat sie das Spiel mitgespielt? War sie auch Spionin? Sie sind doch damals in den 50ern zusammen aus der DDR in den Westen geflüchtet! Oder war sie so ahnungslos wie Michael und ich? Nein, dann wäre sie jetzt nicht so gefasst.

Je länger diese Geschichte her ist, umso kritischer sehe ich die Rolle meines Vaters. Er hat uns verraten.

Ich weiß nicht mehr, wie ich aus dem Wohnzimmer wieder rausgekommen bin, wie dieser Tag weiter verlief, ob wir etwas gegessen haben. Ich weiß nur noch, dass mein Vater uns sagte, dass dieses Haus für die nächste Zeit unser Quartier werden sollte, bis wir etwas anderes gefunden hätten. Wir befanden uns in Eichwalde am süd-östlichen Rand Berlins.

In den folgenden Tagen und Nächten versuchten meine Eltern erst einmal, uns alle am Leben zu erhalten. Meine Mutter nahm uns oft in den Arm, tröstete, versuchte – gegen ihre eigene Verzweiflung und ihr eigenes Misstrauen – Hoffnung und...