Das Spiel der Götter (2) - Das Reich der Sieben Städte

von: Steven Erikson, Marie-Luise Bezzenberger

Blanvalet, 2012

ISBN: 9783641089764 , 512 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Das Spiel der Götter (2) - Das Reich der Sieben Städte


 

Prolog


Was siehst du am verwasch’nen Horizont,
das nicht von deiner Hand
ausgelöscht werden kann?

 

Die Brückenverbrenner
Toc der Jüngere

Das 1163ste Jahr von Brands Schlaf
Das neunte Jahr der Herrschaft von Imperatrix Laseen
Das Jahr der Säuberung

 

Er kam aus der Avenue der Seelen auf den Urteils-Ring gewatschelt, eine missgestaltete, von Fliegen bedeckte Gestalt. Die wimmelnde Masse krabbelte wirr und ziellos auf seinem Körper durcheinander, eine sich immerfort in Bewegung befindende schwarze, glänzende Kruste, von der gelegentlich rasende Klumpen herabfielen, die in wild davonschwirrende Einzelteile zerbarsten, sobald sie auf die Pflastersteine prallten.

Die Dürstende Stunde neigte sich ihrem Ende zu, und in ihrem Gefolge wankte der Priester dahin, blind, taub und stumm. Der Diener des Vermummten – des Lords des Todes – ehrte seinen Gott an diesem Tag auf besondere Weise: Wie seine Gefährten hatte er sich nackt ausgezogen und seinen Körper mit dem Blut hingerichteter Mörder beschmiert, mit jenem Blut, das in riesigen Amphoren aufbewahrt wurde, die die Wände des Tempelschiffs säumten. Dann waren die Brüder in einer Prozession hinaus auf die Straße von Unta gezogen, um die Schemen des Gottes willkommen zu heißen und Anweisungen für den Totentanz zu erteilen, der den letzten Tag der Zeit der Fäulnis kennzeichnete.

Die Wachen entlang des Ringes wichen zur Seite, um den Priester durchzulassen, machten dann noch mehr Platz für die wirbelnde, summende Wolke, die ihm folgte. Der Himmel über Unta war noch immer eher grau als blau, als die Fliegen, die mit der Dämmerung in die Hauptstadt des malazanischen Imperiums geschwärmt waren, jetzt aufstiegen und langsam hinaus über die Bucht flogen, den Salzmarschen und den versunkenen Inseln jenseits des Riffes entgegen. Mit der Zeit der Fäulnis kam die Pestilenz, und in den letzten zehn Jahren hatte es dreimal eine Zeit der Fäulnis gegeben – etwas, das zuvor noch nie da gewesen war.

Die Luft über dem Ring summte noch immer, war noch immer voller schwarzer Punkte, als würden unzählige Sandkörner durch die Luft schweben. Irgendwo in den umliegenden Straßen jaulte ein Hund – es klang, als wäre er dem Tode nahe, aber noch nicht nahe genug –, und direkt neben dem zentralen Springbrunnen des Rings zuckte das verlassene Maultier, das früher an diesem Tag zusammengebrochen war, noch immer kläglich mit den Beinen. Fliegen waren durch jede Körperöffnung in das Tier gekrochen, und jetzt war es aufgedunsen von Gasen. Es war ein typisches Maultier, von Natur aus störrisch, und sein Tod zog sich jetzt schon mehr als eine Stunde hin. Als der Priester, ohne etwas zu sehen, an ihm vorbeistolperte, erhoben sich Fliegen von dem Maultier wie ein im Wind wehender Vorhang und gesellten sich zu jenen, die ihn bereits umhüllten.

Von dem Punkt aus, wo Felisin mit den anderen wartete, war es für sie klar, dass der Priester des Vermummten schnurstracks auf sie zukam. Seine Augen waren zehntausend Augen, aber sie war sicher, dass jedes einzelne davon ganz allein auf sie gerichtet war. Doch selbst dieses allmählich aufkeimende Entsetzen reichte noch nicht aus, um die Betäubung zu durchdringen, die sich wie eine erstickende Decke über ihren Geist gelegt hatte; sie nahm wahr, wie dieses Entsetzen in ihrem Inneren erwachte, doch das Gefühl war eher die Erinnerung an Furcht als eine Furcht, die sie wirklich verspürte.

Sie konnte sich kaum an die erste Zeit der Fäulnis erinnern, die sie mitgemacht hatte, doch sie hatte ganz klare Erinnerungen an die zweite. Es war noch nicht einmal drei Jahre her, dass sie diesen Tag vom sicheren Besitz ihrer Familie aus verfolgt hatte, in einem guten, festen Haus mit geschlossenen Fensterläden, die zudem noch mit Stoffbahnen versiegelt worden waren; aus den Kohlepfannen vor den Türen und auf den hohen, mit Glasscherben bestückten Mauern des Hofes waren die stechenden Rauchschwaden schwelender Istaarl-Blätter aufgestiegen. Der letzte Tag dieser besonderen Jahreszeit und die Dürstende Stunde waren eine Zeit des vagen Abscheus für sie gewesen, irritierend und lästig, jedoch nicht mehr. Damals hatte sie kaum einen Gedanken an die unzähligen Bettler und die in der Stadt herumstreunenden Tiere verschwendet, die nicht den geringsten Schutz besaßen, genauso wenig wie an die ärmeren Einwohner, die noch Tage danach scharenweise zwangsverpflichtet worden waren, um die Straßen zu reinigen.

Es war die gleiche Stadt, doch eine völlig andere Welt.

Felisin fragte sich, ob die Wachen auf den Priester zugehen würden, während er sich den Opfern der Säuberung immer mehr näherte. Sie und die anderen in der Reihe waren jetzt die Schützlinge der Imperatrix – unterstanden der Verantwortung Laseens –, und der Weg des Priesters konnte als blind und zufällig betrachtet werden, der drohende Zusammenstoß eher ein Produkt des Zufalls denn der Absicht sein. Tief in ihrem Innern wusste Felisin jedoch, dass es anders war. Würden die behelmten Wachen vortreten und versuchen, den Priester zu einer Seite wegzuführen, ihn sicher über den Ring zu geleiten?

»Ich glaube nicht«, sagte der Mann, der zu ihrer Rechten hockte. In seinen tief in ihren Höhlen liegenden, halb geschlossenen Augen blitzte etwas auf, das Erheiterung sein mochte. »Ich habe gesehen, wie deine Blicke hin und her gehuscht sind – von den Wachen zu dem Priester, von dem Priester zu den Wachen.«

Der große, stumme Mann zu ihrer Linken stand langsam auf, zog die Kette dabei mit. Er verschränkte die Arme vor der nackten, narbenübersäten Brust, und Felisin zuckte zusammen, als die Fesseln schmerzhaft an ihr zerrten. Der Mann starrte den näher kommenden Priester an, sagte jedoch nichts.

»Was will er von mir?«, fragte Felisin flüsternd. »Was habe ich getan, dass ein Priester des Vermummten mir seine Aufmerksamkeit schenkt?«

Der hingekauerte Mann wiegte sich auf den Fersen, reckte dabei sein Gesicht der spätnachmittäglichen Sonne entgegen. »Oh, Königin der Träume, spricht hier etwa die ichbezogene Jugend aus den Worten, die über diese vollen, süßen Lippen kommen? Oder ist es nur die übliche Anmaßung des Adels, um den die ganze Welt sich dreht? Oh, ich bitte dich, antworte, wankelmütige Königin!«

Felisin machte ein finsteres Gesicht. »Ich habe mich besser gefühlt, als ich noch geglaubt habe, du würdest schlafen – oder du wärst tot.«

»Tote hocken nicht da, Mädel, sie liegen lang ausgestreckt auf dem Boden. Und der Priester des Vermummten kommt nicht deinetwegen. Er kommt meinetwegen.«

Sie starrte ihn an; die Kette zwischen ihnen rasselte. Er sah mehr wie eine Kröte mit tief in den Höhlen liegenden Augen denn wie ein Mann aus. Er war kahlköpfig, und sein Gesicht war von einer Tätowierung bedeckt, winzige schwarze rechteckige Symbole, die in einem alles überlagernden Muster verborgen waren, das seine Haut wie eine zerknitterte Schriftrolle überzog. Abgesehen von einem zerlumpten Lendenschurz, dessen ursprüngliche rote Farbe fast völlig verblasst war, war er nackt. Fliegen krabbelten überall auf ihm herum. Sie weigerten sich zu verschwinden, tanzten auf und ab – jedoch nicht, wie Felisin bemerkte, zur freudlosen Musik des Vermummten. Die Tätowierung bedeckte den Mann von Kopf bis Fuß – das Gesicht des Ebers überlagerte sein eigenes Antlitz, das komplizierte Geflecht eines aus unzähligen feinen Schriftzeichen bestehenden, lockigen Fells zog sich über seine Arme, seine bloßen Ober-und Unterschenkel, und in die Haut seiner Füße waren fein herausgearbeitete Hufe geritzt. Bisher war Felisin zu sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen, noch zu sehr vom Schock betäubt, um die, die mit ihr angekettet waren, weiter zu beachten; dieser Mann war ein Priester von Fener, dem Eber des Sommers, und die Fliegen schienen das zu wissen, schienen es hinlänglich zu verstehen, um ihr hektisches Schwirren zu verändern. Mit morbider Faszination sah sie zu, wie die Tiere sich um die Stümpfe sammelten, in denen seine Arme direkt an den Handgelenken endeten; das alte Narbengewebe war das Einzige an ihm, das nicht von Fener beansprucht wurde, doch die Pfade, die die Schemen zu den Stümpfen nahmen, berührten nicht eine einzige Linie der Tätowierung. Die Fliegen tanzten einen Tanz des Vermeidens – doch sie waren trotz allem wild darauf, zu tanzen.

Der Fener-Priester war als letzter Mann der Reihe an seinen Fußknöcheln angekettet worden. Bei allen anderen lagen die engen eisernen Fesseln um die Handgelenke. Die Füße des Mannes waren blutig, und die Fliegen wogten über ihnen auf und ab, ließen sich jedoch nicht nieder. Sie sah, wie er die Augen aufriss, als plötzlich ein Schatten auf ihn fiel.

Der Priester des Vermummten war angekommen. Die Kette spannte sich, als der Mann zur Linken Felisins so weit zurückwich, wie es die Kette erlaubte. Die Mauer in ihrem Rücken war heiß, die mit festlichen Szenen aus dem Leben des Imperiums bemalten Ziegel fühlten sich durch das dünne Gewebe ihrer Sklaventunika glatt an. Felisin starrte die fliegenübersäte Gestalt an, die wortlos vor dem hingekauerten Priester Feners stand. Sie konnte nicht einmal das kleinste Stückchen bloße Haut sehen, konnte nichts von dem Mann selbst erkennen – die Fliegen bedeckten ihn absolut vollständig, und unter ihnen lebte der Mann in einer Dunkelheit, in der ihn nicht einmal die Wärme der Sonne erreichen konnte. Die Wolke um den Priester des Vermummten dehnte sich jetzt nach allen Seiten hin aus, und Felisin zuckte zurück, als unzählige kalte Insektenbeine ihre nackte Haut berührten, blitzschnell ihre Schenkel hinaufkrabbelten; sie zog...