Terrorismus und Geschlecht - Politische Gewalt in Europa seit dem 19. Jahrhundert

von: Christine Hikel, Sylvia Schraut

Campus Verlag, 2012

ISBN: 9783593416861 , 326 Seiten

Format: PDF, OL

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 41,99 EUR

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Terrorismus und Geschlecht - Politische Gewalt in Europa seit dem 19. Jahrhundert


 

Terrorismus - Geschlecht - Erinnerung Eine Einführung

Im Anfang war Charlotte Corday. Am 13. Juli 1793, knapp zwei Jahre nach der Verabschiedung einer ersten auf Volkssouveränität beruhenden Verfassung und rund einen Monat nach dem Beginn der Grande Terreur, setzte die Attentäterin dem Leben des berühmt-berüchtigten Jakobiners Jean-Paul Marat ein Ende. Ihren politisch motivierten Anschlag, das erste, auf dem Gedanken politischer Partizipationsrechte beruhende Attentat seit dem Beginn des bürgerlichen Zeitalters, verstand sie als mahnenden Aufruf an das französische Volk, der drohenden revolutionären Diktatur entgegenzutreten und die Spaltung der republikanischen Kräfte zu überwinden. Charlotte Corday hat ihre Ziele nicht erreicht, doch ihr tödlicher Anschlag auf Marat gehörte und gehört zu den 'erfolgreichsten Themen der neueren Kunst- und Literaturgeschichte'. Nicht nur die Frage nach der Legitimität einer solchen Tat beschäftigte Zeitzeugen und Nachwelt. Auch der Umstand, dass eine Frau sich zur politisch motivierten Mordtat berechtigt fühlte, irritierte die Kommentatoren. Das politische Attentat drohte die Grenzen der herrschenden Geschlechterrollen zu beschädigen. Anlässlich der Gedenkfeier für Marat, die wenige Wochen nach dem Attentat stattfand, sprach Marquis de Sade von der Meuchelmörderin als einem jener 'zwitterhaften Wesen, denen man kein Geschlecht zuerkennen kann, sie wurde zur Verzweiflung beider Geschlechter aus der Hölle gespieen und gehört selbst keinem von ihnen an'. 115 Jahre und zahlreiche schriftstellerische Auseinandersetzungen später war der österreichische Psychoanalytiker und Schriftsteller Fritz Wittels überzeugt: 'Die weiblichen Attentäter sind die feuerspeienden Berge der eingeschmiedeten weiblichen Libido.'

Die als Beispiele angeführten Auseinandersetzungen mit Charlotte Corday lassen die enge Verbindung von Geschlechterrollen- und Gewaltdeutung erkennen, welche die Debatten um die Legitimität von politischer Gewalt oder Terrorismus seit der Französischen Revolution begleiten. Diese Vermengung kennzeichnet auch die Bemühungen um die Stiftung einer adäquaten Erinnerung an politisch motivierte Gewalt bzw. Gewaltbekämpfung. Der hier einzuführende Band präsentiert Fallbeispiele solcher Debatten aus der europäischen Geschichte seit dem frühen 19. Jahrhundert. Die Themenfelder Terrorismus, Geschlecht und Erinnerung durchziehen als roter Faden die Beiträge. Es sind Themenkomplexe, die in der Geschichtsforschung nur selten gemeinsam analysiert werden, die jedoch - jeder für sich betrachtet - auf einem breiten interdisziplinären Forschungsstand beruhen.

Politische Gewalt, noch dazu in ihrer terroristischen Form, gehört zu den bislang von der Geschichtswissenschaft vernachlässigten Forschungsgebieten. Zwar beteiligt sich die Zeitgeschichte derzeit zunehmend an der politikwissenschaftlich dominierten Forschung zum bundesdeutschen Terrorismus der 1970er-Jahre. Aber es gibt tatsächlich bislang kaum ernsthafte Versuche, den Terrorismus des 20. und 21. Jahrhunderts in geschichtswissenschaftlicher Perspektive mit seinen historischen Wurzeln zu verbinden und somit zu historisieren. Der Befund hat vielerlei Ursachen. Zunächst ist festzuhalten, dass es sich bei Terrorismus um ein historisches Thema mit Hindernissen handelt. Dies ist zum einen dem schwierigen Zugang zu den Quellen einer per se klandestinen Organisationsform geschuldet. Weitaus schwerer mag der Umstand wiegen, dass sich die Forschung bislang auf keine konsensfähigen Terrorismusdefinitionen geeinigt hat, die über das jeweils behandelte Phänomen hinaus wesentliche Elemente dieser spezifischen Form politischer Gewalt benennen. Der konstatierte Mangel wiegt für die Geschichtswissenschaft umso schwerer, als Vorformen des aktuellen Terrorismus zeitgenössisch in der Regel nicht als solcher etikettiert wurden. Nur wenige historische Studien beschäftigten sich bereits in den 1970er- und 1980er-Jahren mit den historischen Frühformen oder Vorläufern des aktuellen Terrorismus. Wohl angeregt durch den gegenwärtigen politikwissenschaftlichen Boom der RAF-Forschung, wendet sich in den letzten Jahren auch die Geschichtswissenschaft dem Thema verstärkt zu. Mit einem Verständnis von Gewalt als konstituierendem Element, Gegenstand, Impulsgeber und Medium politischer Kommunikationsräume sind insbesondere die neueren zeitgeschichtlichen Arbeiten nicht nur anschlussfähig an die interdisziplinäre aktuelle Terrorismusforschung, sie tragen auch zu einer Historisierung eines zentralen Fragenkomplexes der politikwissenschaftlichen Terrorismusforschung bei. Geschlecht spielt hierbei bislang allerdings so gut wie keine Rolle. Es fehlt auch an Überlegungen, welche Elemente einer historischen Terrorismusdefinition denn konstituierend für diese Erscheinungsform politisch motivierter Gewalt in langer Zeitlinie sind und ab wann folglich von Terrorismus gesprochen werden kann.