Polt - Die Klassiker in einem Band

von: Alfred Komarek

Haymon, 2012

ISBN: 9783709974070 , 552 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

Windows PC,Mac OSX geeignet für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 29,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Polt - Die Klassiker in einem Band


 

Die Leiche im Keller

Albert Hahn lag da, als wolle er im Toten Meer den toten Mann spielen. Die Dunkelheit des unbeleuchteten Weinkellers trug sachte den schweren Körper, und nur die Wölbung eines sehr dicken Bauches ragte ins diffuse Licht, das von der Kellerstiege kam.

Gendarmerieinspektor Polt sah auf den ersten Blick, wer da unten lag. Das Tote Meer hingegen kannte er nur vom Hörensagen. In einer Illustrierten hatte er einmal ein Foto gesehen, das einen älteren Mann in schwarzer Badehose zeigte, der sich, auf dem Rücken liegend und offensichtlich schalkhaft aufgelegt, vom salzigen Wasser tragen ließ. Inspektor Polt lächelte unwillkürlich, als er sich an die Bildunterschrift erinnerte: Wahrscheinlich kann er auch mit den Ohren wackeln und andere Dinge, die Enkel erfreuen. Energisch wischte er sich die ungehörige Heiterkeit aus dem Gesicht, ließ die Stablampe aufleuchten und entzauberte die Szene. Plötzlich war der dicke Mann da unten einfach tot, schrecklich tot.

Dr. Eichhorn, der alte Gemeindearzt, war da, zwei Kellernachbarn standen stumm und hölzern neben ihm, und eine Dunstwinde blies surrend durch einen dicken Schlauch die angesaugte Kellerluft ins Freie.

„Gärgas?“ fragte der Inspektor.

Der Gemeindearzt hob ein wenig die kurzen Arme und drehte die fleischigen Handflächen nach oben, dann ließ er sie fallen. „In unserer Gegend der Vierte seit Mitte September“, sagte er verdrossen. „Leichtsinn, verdammter. Es gibt keine Unklarheiten. Habe den Totenschein schon ausgestellt.“ Der Arzt schaute ernst und irgendwie zornig zur Kellertür. „Diesmal hat es allerdings den Richtigen erwischt.“

Inspektor Polt hob den Kopf und warf dem Doktor einen verweisenden Blick zu. Er sagte aber nichts, weil er nur zu gut wußte, was gemeint war.

„Ich habe ihn gefunden“, erzählte der eine Kellernachbar ungefragt, ein langer, dürrer, faltiger Mensch, der irgendwann um die siebzig aufgehört hatte, noch älter zu werden. „Ich bin hinübergegangen, weil ich mich gewundert habe, was er so lange im Keller treibt. Er war ja sonst immer nur ein paar Minuten unten, hat ein paar Flaschen geholt und war auch schon wieder weg.“

„Und heute?“ fragte der Inspektor beiläufig.

Der Nachbar putzte umständlich die Gläser seiner klobigen Krankenkassenbrille. „Vielleicht zehn Minuten“, sagte er dann. „Ich habe erst noch zugewartet, weil ich nichts mit ihm zu tun haben wollte, du weißt ja, Simon.“

Simon Polt, der mit Friedrich Kurzbacher seit Ewigkeiten befreundet war, nickte wortlos.

„Dann bin ich in den Keller, ohne viel aufzupassen, weil ja keine Fässer unten liegen. Da habe ich schon das Gärgas gespürt, bin gerade noch heraufgekommen, bin zum Karl gerannt, mit angehaltener Luft sind wir beide noch einmal hinunter, haben den Albert ein Stück zum Ausgang geschleift und ihn dann liegen lassen, weil wir nicht mehr konnten. Dann habe ich den Dr. Eichhorn angerufen, aus der Telefon­zelle im Dorf, und der Karl hat einstweilen seine Dunstwinde herüber­gebracht, damit man hinunter kann.“

„Ja“, fügte der Angesprochene trocken hinzu, „aber es war alles zu spät.“

„Und das Gärgas? Von einem Nachbarkeller?“ fragte Inspektor Polt.

„Ja, wahrscheinlich“, sagte Karl sachlich und schaute seinem Nachbarn ins Gesicht. „Von einem von uns.“

Der Gendarm, an die zwei Meter groß, doch ein wenig dicklich, als wäre es ihm nie gelungen, den Babyspeck loszuwerden, fühlte ein lästiges, fast schmerzhaftes Unbehagen in sich hochsteigen, obwohl er auch daran dachte, daß dieser Todesfall in Brunndorf, nein, in der ganzen Gegend, tiefe Befriedigung auslösen würde. Schweigend schaute er sich um. An sich mochte er Preßhäuser, und Weinkeller mochte er noch mehr: eine karge, archaische Arbeitswelt und gleichzeitig ein unverschämt sinnliches Männerparadies. Aber dieses Preßhaus war anders. Es roch nicht nach Most, es roch überhaupt nicht, nicht einmal nach Mäusen, was hätten sie hier auch zu suchen. Das Preßhaus war leer. Die alte Weinpresse hatte schon vor Jahren als Brennholz geendet, Bottiche und Arbeitsgerät waren verschwunden. Nur ein schmutziger, grellgelber Plastikstuhl leuchtete aus dem Halbdunkel. Inspektor Polt dachte daran, wie diesem Raum Gewalt angetan worden war, immer wieder, bis er als häßliche, sinnlose Hülle zurückblieb. Die beiden Weinbauern, die mit ausdruckslosen Gesichtern stumm und wie erstarrt dastanden, empfanden das wohl so ähnlich. In ihren eigenen Preßhäusern und Kellern fügten sie sich wie selbstverständlich ins Bild, die Füße waren vertraut mit den abgetretenen Ziegel­böden, die Hände fanden sich auch im Dunkeln zurecht, alles hatte in vielen gemeinsamen Jahren seinen Platz gefunden und seinen Sinn behalten. In diesem Preßhaus hier gab es nichts Vernünftiges mehr zu tun, hier war der Wein nicht mehr zu Hause, nur ein paar gekaufte Flaschen lagen im Keller.

„Ich gehe jetzt“, sagte der Gemeindearzt in die unbehagliche Stille hinein.

„Den Totenschein habe ich ja“, antwortete der Inspektor, und der Arzt, schon halb in der Tür, nickte.

Dann machte sich wieder Schweigen breit. Alle wußten, daß sie hier nicht willkommen waren. Der Hahn, der jetzt als Leiche in seinem Keller lag, war meistens allein hier gewesen. Ganz selten brachte er irgendwelche Leute mit. Ja, und dann, letztes Jahr, an einem Samstag­nachmittag, hatten zwei Buben aus dem Dorf Kirschen vom Baum vor dem Preßhaus gestohlen. Albert Hahn kam dazu, ein Bub konnte davonrennen, aber einer, der Peter Schachinger, war nicht schnell genug gewesen. Hahn dürfte ihn nicht geschlagen haben. Peter erzählte jedenfalls nichts davon, und sein Körper hatte auch keine Spuren gezeigt. Aber Hahn hatte den Buben ins Preßhaus gezerrt und in den Keller. Was dort geschehen war, blieb ungewiß. Aus dem kleinen Peter war nichts herauszukriegen. Er schwieg auf jede noch so geschickt gestellte Frage, seine hellgrauen Knopfaugen schauten hart und gläsern aus dem runden Gesicht, und die Hände waren zu Fäusten geballt. Seitdem hatte er immer wieder Albträume, fast jede Nacht, schreiend wachte er auf und fuhr erschrocken zurück, wenn ihn der Vater tröstend in den Arm nehmen wollte.

„Trinken wir was?“ fragte unvermutet der Kurzbacher.

„Aber …“, Simon Polt wies mit dem Kinn zur Kellerstiege.

„Dr. Eichhorn hat die Bestattung schon angerufen – mit so einem neuartigen Telefon“, beruhigte ihn der Kellernachbar in beiläufigem Tonfall.

„Na, dann prost“, sagte Simon Polt schon wieder heiteren Sinnes.

Das Leben im Keller

Kaum waren die drei Männer aus dem Halbdunkel des leeren Preßhauses in das goldgelbe Licht des späten Nachmittags getreten, fing sie das Leben ein, warm und fast körperlich spürbar. Es roch nach ausgepreßter Maische, die zur Zeit der Lese überall aufgehäuft lag, umtanzt von winzigen Mostfliegen. Bienen summten, von weit her klang das behäbige Tuckern eines Traktors, in das sich für ein paar Sekunden das zornige Dröhnen von Motorrädern mischte.

Friedrich Kurzbachers Preßhaus war nur ein paar Schritte entfernt. Ein mächtiger Nußbaum wurzelte dicht neben der Eingangstür, und die Schatten seiner Blätter bewegten sich spielerisch auf der weißgekalkten Mauer.

Simon Polt trat ein, als käme er nach Hause. Der Kurzbacher ging die paar Stufen zur Kellertür hinunter, öffnete sie und holte eine Doppel­literflasche hervor, die dahinter gestanden war. Er stellte die Flasche auf einen kleinen Tisch, säuberte drei Gläser im fließenden Wasser und griff zum Korkenzieher. Simon Polt fragte sich immer wieder, warum er dieses Geräusch so liebte: ein kurzes, scharf akzentuiertes Schmatzen, gefolgt von einem leisen „Plopp“, das irgendwie spöttisch klang, aber auch aufmunternd und auf eine etwas hinterhältige Weise vertraut. Friedrich Kurzbacher hob flüchtig den Stoppel zur Nase und stellte ihn dann mit achtloser Sorgfalt an den Rand des Tisches. Er füllte die drei Gläser, hielt seines ans Licht und sagte: „Rein ist er. Er spiegelt richtig, was, Simon?“

„Ja“, antwortete der Inspektor schlicht und dachte daran, daß er sich kaum eine schönere Farbe vorstellen konnte als die eines ordent­lichen Grünen Veltliners. Da waren höchstens noch jene filigranen Goldplättchen, die in den Augen der jungen Dorflehrerin tanzten, wenn sie – selten genug – unbeschwert lachte und wohl auch auf eine für Simon Polt nicht nachvollziehbare Weise glücklich war. Der große, schwere Mann ertappte sich bei einem seltsamen Seufzer, einem, der erst einmal melancholisch zu Boden sank, dann aber die Flügel schlug und wie ein übermütiger Vogel den schrägen Strahlen der tiefstehenden Sonne folgte, bis er draußen im Licht verschwand. Der Inspektor strich mit der Hand über seine Augen, als wolle er Bilder wegwischen oder festhalten.

„Kopfweh?“ fragte der Friedrich nicht allzu mitfühlend.

„So etwas Ähnliches“, sagte Simon vage und hob das Glas.

Alle drei senkten kurz, aber andächtig die Nasen, freuten sich über den sauberen, fruchtigen Duft und nahmen den ersten Schluck. Karl und Friedrich...