Die letzte Witwe

von: Karin Slaughter

HarperCollins, 2019

ISBN: 9783959678964 , 560 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Die letzte Witwe


 

PROLOG

Michelle Spivey lief durch den hinteren Teil des Ladens und suchte hektisch sämtliche Gänge nach ihrer Tochter ab. Panische Gedanken jagten ihr durch den Kopf: Wie konnte ich sie nur aus den Augen verlieren? Ich bin eine schreckliche Mutter! Mein Baby ist von einem Pädophilen oder einem Mädchenhändler entführt worden! Soll ich den Sicherheitsdienst benachrichtigen oder die Polizei oder …

Ashley.

Michelle blieb so abrupt stehen, dass ihr Schuh auf dem Boden quietschte. Sie holte tief Luft und versuchte, ihren Herzschlag zu beruhigen. Ihre Tochter wurde nicht in die Sklaverei verkauft. Sie stand bei den Make-up-Artikeln und testete Pröbchen.

Die Erleichterung löste sich ebenso schnell in nichts auf wie die vorherige Panik.

Ihre elfjährige Tochter.

Beim Make-up.

Nachdem sie Ashley erklärt hatten, sie dürfe unter gar keinen Umständen vor ihrem zwölften Geburtstag Make-up tragen und auch dann nur Rouge und Lipgloss, egal, was ihre Freundinnen taten, Ende der Diskussion.

Michelle presste die Hand auf die Brust. Sie ging langsam den Gang hinauf, um sich Zeit für die Rückverwandlung in einen vernünftigen, logisch denkenden Menschen zu verschaffen.

Ashley wandte Michelle den Rücken zu, während sie sich Lippenstiftfarben ansah. Sie drehte die Stifte mit einer routinierten Bewegung aus dem Handgelenk auf, denn wenn sie bei ihren Freundinnen war, probierte Michelle natürlich all deren Make-up-Sachen aus, und sie schminkten sich gegenseitig, denn das taten Mädchen nun einmal.

Manche Mädchen jedenfalls. Michelle hatte diesen Drang, sich herauszuputzen, nie verspürt. Sie erinnerte sich noch an das Gekreische ihrer Mutter, als Michelle sich geweigert hatte, sich die Beine zu rasieren. So wirst du nie Strumpfhosen tragen können!

Michelles Antwort: Gott sei Dank!

Das war Jahre her. Ihre Mutter war längst tot. Michelle war eine erwachsene Frau mit einem eigenen Kind, und wie jede Frau hatte sie sich geschworen, nicht die Fehler ihrer Mutter zu wiederholen.

Hatte sie es übertrieben?

Bestrafte sie ihre Tochter etwa mit ihrer burschikosen Haltung? War Ashley in Wirklichkeit alt genug für Make-up? Und nur weil sie selbst kein Interesse hatte an Eyelinern, Bronzern und all dem, was sich Ashley sonst noch stundenlang auf YouTube ansah, verwehrte sie ihrer Tochter den für gewisse Jugendliche typischen Übergang vom Mädchen zur Frau?

Michelle hatte über die Meilensteine in der Entwicklung Heranwachsender geforscht. Elf war ein wichtiges Alter, ein sogenanntes Benchmark-Jahr, der Punkt, an dem Kinder rund fünfzig Prozent ihrer Macht erlangt hatten. Man musste anfangen, mit ihnen zu verhandeln, statt sie einfach nur herumzukommandieren. Was theoretisch betrachtet nachvollziehbar war, in der Praxis jedoch entsetzlich.

»Oh!« Ashley entdeckte ihre Mutter und steckte den Lippenstift hektisch in die Auslage zurück.

»Schon gut.« Michelle strich das lange Haar ihrer Tochter nach hinten. All die Shampooflaschen in der Dusche, Conditioner und Seifen und Feuchtigkeitsgels, während Michelles einzige Schönheitspflege aus wasserfester Sonnencreme bestand.

»Sorry.« Ashley wischte über den Lipgloss auf ihrem Mund.

»Er ist hübsch«, sagte Michelle.

»Wirklich?« Ashley strahlte sie auf eine Weise an, die Michelle in jeder Faser ihres Herzens berührte. »Hast du die hier gesehen?« Sie meinte das Sortiment an Lipgloss. »Sie haben einen, der getönt ist, der hält angeblich länger. Aber der hier ist mit Kirscharoma, und Hailey sagt, die …«

Lautlos ergänzte Michelle: … Jungs mögen ihn lieber.

Die diversen Liam-Hemsworth-Poster an der Wand von Ashleys Zimmer waren ihr nicht entgangen.

»Welcher gefällt dir am besten?«, fragte Michelle.

»Hm …« Ashley zuckte mit den Achseln, aber es gab nicht viel, wozu eine Elfjährige keine Meinung hatte. »Ich schätze, der getönte hält länger, oder?«

»Klingt vernünftig«, sagte Michelle.

Ashley wog die beiden Produkte noch immer gegeneinander ab. »Der mit Kirsch schmeckt nach Chemie. Und ich kaue immer auf der Unterlippe – also, wenn ich ihn trage, würde ich ihn wahrscheinlich ablecken, weil er mich verrückt macht.«

Michelle nickte und verkniff sich die polemische Tirade, die ihr durch den Kopf ging: Du bist wunderschön, du bist klug, du bist so witzig und begabt, und du solltest nur das tun, was dich glücklich macht, denn das und nichts anderes zieht die Jungs an, die es wert sind – die Jungs, die selbstsichere, mit sich zufriedene Mädchen für die interessanteren halten.

Stattdessen sagte sie: »Such dir einen aus, und ich gebe dir einen Vorschuss auf dein Taschengeld.«

»Mom!« Sie schrie so laut, dass Leute sich zu ihnen umdrehten. Der Freudentanz, der folgte, glich eher dem von Tigger als Shakira. »Ist das dein Ernst? Ihr beide habt doch gesagt …«

Ihr beide. Michelle stöhnte innerlich. Wie sollte sie diesen plötzlichen Sinneswandel erklären, nachdem sie sich darauf geeinigt hatten, dass Ashley keinen Lippenstift tragen würde, bis sie zwölf war?

Es ist nur Lipgloss!

In fünf Monaten wird sie zwölf!

Ich weiß, wir haben gesagt, nicht vor ihrem Geburtstag, aber du hast ihr schließlich auch dieses iPhone erlaubt!

Das würde funktionieren. Den Spieß umdrehen und das iPhone zum Thema machen, denn in die Schlacht um den Lipgloss war Michelle schließlich nur durch Zufall geraten.

»Um den Boss kümmere ich mich«, sagte Michelle zu ihrer Tochter. »Aber nur Lipgloss, nichts anderes. Such dir den aus, mit dem du glücklich bist.«

Und sie war weiß Gott glücklich. So glücklich, dass Michelle die Kassiererin anlächeln musste, die sicher verstand, dass der bonbonrosafarbene Glitzerstift im Farbton Sassafras Yo Ass! nicht für die neununddreißigjährige Frau in der kurzen Laufhose und mit der Baseballmütze auf dem verschwitzten Haar gedacht war.

»Das …« Ashley war so glückselig, dass sie kaum ein Wort herausbrachte. »Das ist so toll, Mom. Ich liebe dich so sehr, und ich werde verantwortungsvoll damit umgehen. Total verantwortungsvoll!«

Michelles Lächeln wies wahrscheinlich erste Anzeichen von Totenstarre auf, als sie ihre Einkäufe in Stofftaschen zu packen begann.

Das iPhone. Sie musste es so drehen, dass es um das iPhone ging, zu dem es auch eine Vereinbarung gegeben hatte, ehe sämtliche Freundinnen von Ashley im Ferienlager mit so einem Ding erschienen waren und sich das Auf-gar-keinen-Fall in ein Ich-konnte-sie-doch-nicht-als-einziges-Kind-ohne-iPhone-sein-lassen verwandelt hatte, während Michelle auf einer Konferenz war.

Ashley raffte fröhlich die Taschen zusammen und schlenderte zum Ausgang. Das iPhone hatte sie bereits hervorgezogen, und ihr Daumen glitt über den Schirm, als sie ihren Freundinnen von dem Lipgloss unterrichtete und wahrscheinlich prophezeite, dass sie in einer Woche blauen Lidschatten tragen und sich diese geschwungene Linie um die Augen ziehen würde, die Mädchen wie Katzen aussehen ließ.

Michelle merkte, wie sie sich Katastrophen ausmalte.

Ashley konnte sich eine Bindehautentzündung, ein Gerstenkorn oder eine Lidrandentzündung zuziehen, wenn sie Augen-Make-up mit den Freundinnen teilte. Den Herpes-simplex-Virus oder Hepatitis C von Lipgloss und Liplinern, ganz zu schweigen davon, dass sie sich die Hornhaut verletzen konnte, wenn sie Wimperntusche auftrug. Enthielten manche Lidschatten nicht Blei und andere Schwermetalle? Staphylokokken, Streptokokken, Escherichia coli. Was zum Teufel hatte sich Michelle nur dabei gedacht? Womöglich vergiftete sie ihre eigene Tochter. Es gab hunderttausend bestätigte Studien über Oberflächenverunreinigungen bei Kosmetikartikeln, im Gegensatz zu den paar Dutzend, in denen ein indirekter Zusammenhang zwischen Gehirntumoren und Mobiltelefonen postuliert wurde.

Ein Stück weiter vorn hörte sie Ashley lachen. Ihre Freundinnen schrieben offenbar zurück. Sie schlenkerte wild mit den Taschen, als sie den Parkplatz überquerte. Sie war elf, nicht zwölf, und zwölf war immer noch entsetzlich jung, oder? Denn Make-up sandte ein Signal aus. Es vermittelte ein Interesse daran, dass sich jemand für einen interessierte, was eine furchtbar unfeministische Botschaft war, aber das hier war das echte Leben, und ihre Tochter war noch ein unschuldiges Kind, das nichts darüber wusste, wie man unerwünschte Aufmerksamkeit zurückwies.

Michelle schüttelte den Kopf. Was für ein kruder Gedankengang. Von Lipgloss über Krankenhauskeime zur Frauenbewegung. Sie musste ihr wildes Grübeln einstellen, damit sie bis zu ihrer Ankunft zu Hause eine vernünftige Erklärung dafür präsentieren konnte, warum sie Ashley, ungeachtet des feierlichen Elternschwurs, Make-up gekauft hatte.

Den Elternschwur hatten sie auch beim iPhone gebrochen.

Sie griff in ihre Handtasche, um die Autoschlüssel zu suchen. Draußen war es dunkel. Die Parkplatzbeleuchtung reichte nicht aus, oder vielleicht brauchte sie ihre Brille, weil sie alt wurde – alt genug, um eine Tochter zu haben, die Signale an Jungs aussenden wollte. In ein paar Jahren konnte sie Großmutter sein. Bei dem Gedanken schlug ihr Magen einen Salto. Warum hatte sie keinen Wein gekauft?

Sie blickte auf, um sich zu vergewissern, dass Ashley nicht vor ein Auto gelaufen oder von einer Klippe gestürzt war, während sie auf...