Ausgerechnet Sylt - Friesenkrimi (Hannah Lambert ermittelt)

von: Thomas Herzberg

Elaria, 2022

ISBN: 9783964650092 , 292 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

Windows PC,Mac OSX geeignet für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 0,00 EUR

Mehr zum Inhalt

Ausgerechnet Sylt - Friesenkrimi (Hannah Lambert ermittelt)


 

1


 

»Ich hab langsam echt die Schnauze voll! Da steht man extra mitten in der Nacht auf und trotzdem stundenlang hier vor dem Autozug in der Schlange. Wenn es nicht gleich weitergeht, dann ...«

»Hör bitte auf, Jörg!« Martina Weinhold starrte zwar weiter aus dem Seitenfenster, doch ihre Stimme verhieß Kampfbereitschaft. »Die Kinder und ich schwitzen genauso – und wir meckern nicht die ganze Zeit rum.«

»Nächstes Jahr sparen wir uns Sylt einfach!« Jörg Weinhold wollte offensichtlich nicht einlenken, sondern feierte seine spontane Idee mit begeisterter Stimme. »Wenn der Urlaub so anfängt, kann man ihn doch gleich komplett vergessen. Da hock ich lieber zwei Wochen jeden Tag am Baggersee und nachts lieg ich in meinem eigenen Bett. Perfekt!«

»Willst du, Papa?« Die vierjährige Maja lehnte sich zwischen den Sitzen nach vorne und hielt ihrem Vater eine Saftflasche entgegen. »Du magst doch Trauben«, erklärte sie mit kindlichem Charme.

Doch der unverändert aufgebrachte Familienvater schob seine Tochter samt Flasche zurück auf die Sitzbank. »Ich hab doch gesagt, ihr sollt da hinten angeschnallt bleiben! Red ich Chinesisch oder was?«

»Was soll den Kindern denn passieren? Wir haben uns seit zwei Stunden keinen Zentimeter bewegt.« Martina Weinhold zeigte nacheinander in sämtliche Richtungen. »Überall stehen Autos … wenn überhaupt, müsste ein Hubschrauber auf unser Autodach stürzen.«

Ihr Mann wollte etwas erwidern, als am Wagen vor ihm plötzlich die Bremsleuchten aufflammten. Ein klares Anzeichen für unverhoffte Entspannung.

»Es geht weiter!«, jubelte die kleine Maja passend dazu auf der Rückbank.

»Siehst du ...« Martina Weinhold tätschelte ihrem Mann von der Seite die Schulter. »... spätestens in ’ner Stunde fahren wir in Westerland vom Zug runter und liegen nachmittags schon am FFK-Strand in Rantum. Das nenne ich perfekt!«

»Und vielleicht ist es doch ein bisschen schöner als am Baggersee«, lenkte Jörg Weinhold mit leiser Stimme ein. »Ich hab trotzdem das Gefühl, es wird jedes Jahr schlimmer.«

Seine Frau zuckte mit den Schultern und zeigte durch die Frontscheibe nach vorne. »Am besten fährst du einfach«, forderte sie ihn lachend auf. »Erst stehen wir stundenlang und dann kommst du nicht in die Gänge.«

 

Zehn Minuten später war die Autoverladung abgeschlossen. Ein Bahnmitarbeiter, der offensichtlich alle Zeit der Welt hatte, verriegelte hier noch eine Absperrung oder prüfte dort in aller Seelenruhe einen Verschluss. Kurz darauf setzte sich der Zug ruckelnd in Bewegung.

»So ’ne Karre fährt man auch nur, wenn man nicht mehr weiß, wohin mit seinem Geld«, schimpfte Jörg Weinhold und zeigte nach vorne. Direkt vor dem Minivan der Familie stand ein riesiger SUV. Schwarz, und auch die Scheiben waren getönt, sodass vom Innenraum kaum etwas zu erkennen war. »Hast du den Typen gesehen, der drinhockt? Der war doch vorhin zum Pinkeln und hat uns …«

»Ich kann gar nichts sehen«, fuhr seine Frau genervt dazwischen. »Für mich sieht das Teil wie ein Sarg auf Rädern aus. Ich frage mich, ob man durch solche Scheiben wenigstens nach draußen gucken kann – was für ein Auto ist das überhaupt?«

»Keine Ahnung. Wohl irgendein Ami ...«

»Ist mir auch völlig schnuppe«, stöhnte seine Frau. Danach ließ sie sich gegen die Rückenlehne fallen. »Jetzt fängt der Urlaub an«, stellte sie erleichtert fest und ließ neben sich das Seitenfenster herunter. Der Zug hatte ein wenig Fahrt aufgenommen, ihre Haare flatterten im Wind.

»Es zieht, Mama!«, erklang sofort Majas Protest von der Rückbank.

»Ich glaube, es ist ein Yukon, von General Motors«, erklärte der Familienvater, nachdem er eine Weile auf seinem Handy herumgewischt hatte. »Oder es ist ...«

»... mir immer noch völlig wurscht«, unterbrach ihn seine Frau. Sie drehte sich nach hinten zur Rückbank. Neben der vierjährigen Maja saß dort im Kindersitz deren kleine Schwester: Emma, auf den Tag genau elf Monate alt. »Ich glaube, sie hat die Windel voll«, beschwerte sich die Mutter mit gerümpfter Nase. »Am besten verpass ich ihr schnell ’ne neue, bevor wir in Westerland ankommen.«

»Bloß nicht!«, keuchte Jörg Weinhold. »Wenn wir hinterher nicht mal die Fenster aufreißen können, dann überleb ich die Aktion nicht.«

»Stell dich doch nicht so an.« Seine Frau hatte bereits den Sicherheitsverschluss am Kindersitz entriegelt und verfrachtete die winzige Emma direkt auf ihren Schoß. »Ich brauch die Wickeltasche, Maja!«

Auch dieses Utensil wanderte nach vorne. Nachdem sämtliche Reißverschlüsse geöffnet waren, führte das zur logischen Beschwerde. »Wo sind denn die ganzen Feuchttücher geblieben?«

Maja wedelte zwar mit einer durchsichtigen Plastiktüte, sah dabei jedoch aus, als wäre sie den Tränen nahe.

Grund genug für den Familienvater, sich ebenfalls nach hinten umzudrehen. »Das gibt’s doch gar nicht: Sie hat den ganzen Sitz mit ihrem Traubensaft vollgesaut. Die Feuchttücher hat sie benutzt, um die Schweinerei ...«

Majas herzzerreißendes Schluchzen unterbrach diese Feststellung.

Ihre Mutter hatte weiter vorne zwei Klettverschlüsse kurzerhand wieder verschlossen und drückte ihrem Mann die kleine Emma in die Hände. Die gluckste zufällig gerade, schien sich über irgendwas zu freuen. »Ihre Windel hält auch noch bis Westerland«, erklärte Martina Weinhold. »Wir stoppen zuerst vor ’nem Drogeriemarkt, damit sie nicht wieder tagelang schreit, weil ihr Popo wund ist.«

Ein mittlerweile frustrierter Ehemann lieferte sein Fazit mit einiger Verzweiflung in der Stimme: »Weißt du noch damals: unsere ersten Jahre ... ohne Kinder?«

»Als du jedes Wochenende zwei Tage auf dem Fußballplatz gestanden und mich mit den Frauen von deinen dämlichen Kumpels alleingelassen hast? Klar! Davon hab ich heute noch Albträume.«

Jörg Weinhold winkte ab. Er zeigte durch die Windschutzscheibe. »Da vorne fängt der Hindenburgdamm an.«

Maja lehnte sich wieder zwischen den Sitzen hindurch und hatte schon die nächste Beschwerde: »Papa hat gesagt, Sylt wäre eine Insel.«

»Sie hat recht«, stöhnte ausnahmsweise die Mutter. »Früher war hier links und rechts noch Wasser zu sehen. Heute hat man gar nicht mehr das Gefühl, als würde man wirklich auf ’ne Insel fahren.«

 

Nach einer weiteren Viertelstunde mit Zankerei, Gestank und Versöhnung – vorbei an den Orten Morsum, Keitum und Tinnum – erreichte der Autozug den Bahnhof von Westerland. Hier ging alles deutlich schneller. Die Absperrungen waren bereits geöffnet, als der Zug ruckelnd zum Stehen kam.

»Endlich!« Jörg Weinhold klang, als könnte er es gar nicht glauben. »Wir fahren direkt zu unserer Ferienwohnung, laden aus und dann geht’s ab an den Strand. Das nenne ich Urlaub, Kinder!«

Neben ihm wedelte seine Frau mit der leeren Verpackung der Feuchttücher.

»Ach ja.« Es folgte ein Lachen, das trotz eines erforderlichen Umwegs unverändert erleichtert klang. »Vorher sorgen wir noch für ’nen sauberen Pöscher und dann geht’s an den Strand.« Der Familienvater fing die Blicke seiner Familie nacheinander ein. »Alle einverstanden?«

Gemeinschaftliches Nicken.

»Was ist denn mit dem da vorne los?«, beschwerte sich Martina Weinhold. »Vor dem sind alle längst vom Zug runter.« Passend zu dieser Feststellung erklangen bereits mehrere unterschiedliche Hupen von weiter hinten.

An diesem Konzert beteiligte sich jetzt auch Jörg Weinhold. »Wieso fährt der Idiot denn nicht?«

Im schwarzen SUV machte niemand Anstalten, wenigstens den Motor zu starten. Im VW-Bus hinter dem Familien-Van stand offensichtlich jemand auf der Hupe oder die klemmte.

Jörg Weinhold gestikulierte wütend und steckte seinen linken Arm aus dem offenen Seitenfenster, um seinem Hintermann einen freundlichen Gruß mit ausgestrecktem Mittelfinger zu schicken. »Ich steig mal aus und sehe nach, was da vorne los ist.«

»Das lässt du schön bleiben!« Seine Frau hatte ihn an der Schulter gepackt und hielt ihn fest. »Wenn du das zu regeln versuchst, kann ich wahrscheinlich die erste Woche hier auf Sylt alleine mit den Kindern rumhocken. Und das, während irgendein Anwalt versucht, dich aus dem Knast zu holen. Ich erledige das!«, sprach sie und hatte bereits den Türöffner in der Hand.

»Wo willst du denn hin, Mama?« Die kleine Maja klang ängstlich. Ihre kindlichen Instinkte signalisierten offensichtlich Gefahr. »Warte, ich komme mit.«

»Das lässt du schön bleiben!«, fluchte ihr Vater nach hinten. Sein wütender Blick ließ eine Vierjährige glatt erstarren.

Weiter vorne hatte Martina Weinhold bereits die Beifahrerseite des SUV erreicht. Sie schüttelte den Kopf, weil sie durch...