Die Durchlässigkeit der Zeit - Roman

von: Leonardo Padura

Unionsverlag, 2019

ISBN: 9783293310025 , 448 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 12,99 EUR

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Die Durchlässigkeit der Zeit - Roman


 

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4. September 2014

Das blendend helle Licht des tropischen Morgens fiel wie der Lichtkegel eines Theaterscheinwerfers durchs Fenster auf den kartonierten Jahreskalender an der Wand. Die zwölf Monatsquadrate waren auf vier Farbfelder verteilt, die ursprünglich unterschiedliche Schattierungen vom jugendfrischen Frühlingsgrün zum winterlich angestaubten Grau aufgewiesen hatten. Bei diesem Farbenspiel war offensichtlich ein fantasiebegabter Grafiker am Werk gewesen, denn auf dieser karibischen Insel gab es schlichtweg keine vier Jahreszeiten. Im Laufe der Monate hatte Fliegenschiss den Kalender mit vereinzelten Pünktchen verziert, und die verblassten Farben zeugten davon, dass er täglich dem gleißenden Sonnenlicht ausgesetzt war. Striche und Kringel zeigten, dass er rege benutzt wurde. Bizarre geometrische Figuren an den Rändern und sogar direkt neben bestimmten Daten deuteten darauf hin, dass sich da jemand Erinnerungshilfen notiert hatte, um ja nicht etwas Wichtiges zu vergessen. Lauter Spuren der vergehenden Zeit und Hinweise auf Vergesslichkeit und ein langsam verkalkendes Gedächtnis.

Die Jahreszahl am oberen Kalenderrand war mit besonders vielen kryptischen Zeichen verziert worden, und der neunte Oktober war umwuchert von Zeichen der Verwunderung, mehr noch, der Bestürzung, so wütend unterstrichen mit schwarzer Kugelschreibertinte, dass diese wie Druckerschwärze wirkte und kaum von den Buchstaben und Zahlen auf dem Kalenderblatt zu unterscheiden war. Und neben diesen Zeichen der Verwunderung die magische Zahlenfolge, die ihm jetzt zum ersten Mal auffiel: 9-9-9.

Seit Beginn dieses trägen, trüben, zähflüssigen Jahres – wie überhaupt in seinem bisherigen Leben – hatte der sonst so geschichtsbewusste und erinnerungsbesessene Mario Conde kaum darüber nachgedacht, was solche Zäsuren in der sich beschleunigenden, dahinrasenden Zeit bedeuteten. Waren das Meilensteine seines eigenen Lebens und der Menschen um ihn herum? Geburtstage, Hochzeitstage und Jubiläen von allerlei denkwürdigen Ereignissen, die für andere ein Grund zum Feiern, Trauern oder einfach Innehalten zwischen Lebensabschnitten waren, vergaß er mit peinlicher Regelmäßigkeit. Doch die alarmierende Tatsache, dass zwischen den dreihundertfünfundsechzig auf diesem billigen Kalender verzeichneten Tagen der unvorstellbare, wenn auch bedrohlich endgültige, reale Tag auf der Lauer lag, an dem er sechzig Jahre alt werden würde, versetzte ihm einen bleibenden Schock. Er wurde immer heftiger, je näher der Stichtag kam: 9-9-9. Welch eine erdrückende Menge an Jahren, und dazu der obszöne Klang des Wortes: Sech-zig, sech-zig. Da platzte etwas, aus dem zischend Luft entwich, sechch-zzig! War das nicht eine endgültige Bestätigung dessen, was sein Körper ihm seit einiger Zeit vermeldete: eingerostete Knie, Lenden und Schultern; eine verfettete Leber; ein immer trägerer Penis? Und erst sein Geist: verkümmerte oder für immer verlorene Träume, Pläne, Wünsche. Das obszöne Nahen des Alters …

Sinnend stand er vor dem an die Wand seines Zimmers geschlagenen Jahreskalender, dessen Einzelheiten vor ihm zerflossen wie eine verschwommene Landschaft. War er nun tatsächlich ein alter Mann? Er antwortete sich mit Gegenfragen: War sein Großvater Rufino mit sechzig Jahren nicht alt gewesen, als er ihn auf die Kampfplätze mitgenommen und in die Künste und Tricks des Hahnenkampfs eingeweiht hatte? Hatte man Hemingway nicht schon Jahre, bevor er sich – mit dreiundsechzig – umbrachte, »den Alten« genannt? Und war Trotzki nicht »der Alte« gewesen, als Ramón Mercader ihm in seinem zweiundsechzigsten Lebensjahr mit einem stalinistisch-proletarischen Eispickel den Schädel zertrümmerte? Doch Conde kannte seine Grenzen und wusste, dass ihn vieles von seinem pragmatischen Großvater und erst recht von Berühmtheiten wie Hemingway, Trotzki oder anderen, aus gutem oder falschem Grund prominenten alten Männern unterschied. Und darum spürte er, dass er zwar die schmerzhafte, deprimierende runde Zahl ansteuerte, aber wenig Gründe hatte, sich als »den Alten« zu bezeichnen. Von allen Ausprägungen des Greisenalters, egal ob definiert von der hochoffiziellen geriatrischen Wissenschaft oder der empirischen Weisheit der Straßenphilosophie, galt für ihn nur die eine: Bald war er ein alter Sack.

Dieser Vormittag hatte schon beim Morgengrauen stickig begonnen. Beim Anblick seines Kalenders sann er mit wachsender Beklemmung den Verbindungslinien zwischen Arithmetik, Statistik, Erinnerung und Biologie nach. Schließlich stand ihm bestürzend und kristallklar die Erkenntnis vor Augen: Selbst im besten aller Fälle (was in seinem Fall nur hieß, weiter am Leben zu bleiben, falls Leber und Lungen mitmachten) hatte er bereits drei Viertel (vielleicht mehr, niemand kann das wissen) seiner maximalen Zeit auf Erden verbraucht. Zahlen lügen nicht. Und sicher war, dass der letzte Lebensabschnitt nicht der erfreulichste sein würde. Alt sein war ein schauriger Zustand – selbst wenn man am Ende kein alter Sack wurde. Nicht nur wegen der Begleitumstände, sondern vor allem, weil die letzten Jahre unter der unerbittlichen Drohung des nahenden Todes standen. Dieser Gleichung kann niemand entrinnen. Zwei und zwei sind vier. Oder besser gesagt: Vier minus drei ist eins. Nur eins ist geblieben, Mario Conde, das eine Viertel deines Lebens!

Es lag nicht an den üblichen körperlichen Beschwerden und existenziellen Frustrationen beim Aufwachen, dass er an diesem Morgen vollkommen aus dem Gleichgewicht geraten war. Es lag an diesem Warnsignal am Horizont, das unaufhaltsam näher kam. Auch wenn es vielleicht wieder in die Ferne rückte, würde es sich niemals in nichts auflösen. Er wollte leben, weiterleben, und dieses Bedürfnis paarte sich mit einem heftigen Druck auf der Blase. Also unterdrückte er den Wunsch, mit einem guten Buch in der Hand liegen zu bleiben (so viele Bücher wollte er noch lesen, aber immer weniger Zeit blieb, ihrer Herr zu werden!). Auch das ewige Verlangen, endlich selbst mit dem Schreiben zu beginnen, schob er beiseite und fasste den Entschluss, das Bett zu verlassen.

Nachdem er den reichlichen und streng riechenden Morgenurin ausgeschieden hatte, leitete er den nächsten, schon mühseligeren Prozess ein: Sich mit dem nötigen Lebensmut zu wappnen. Es sollte ja nicht so weit kommen, dass der unausweichliche Tod weit vor der Zeit, womöglich durch bloße Entkräftung, eintrat. Kurz und gut, er musste hinaus in die verdammte Welt, sich dem realen Leben, oder was ihm davon noch blieb, stellen, um dieses letzte Stündchen so lange wie möglich hinauszuzögern. Schluss jetzt mit dieser pseudophilosophischen, pseudoliterarischen Selbstbefriedigung!

Während er seinen Kaffee trank, ruhte sein Blick grimmig auf der verfluchten Zigarettenschachtel. Aufs Rauchen hatte er noch immer nicht verzichten können und wollen, und so genehmigte er sich die erste Nikotindosis des Tages. Derweilen betrachtete er seinen friedlich schlafenden Hund, den einst so stürmischen Basura II., der mit den Jahren ebenfalls träger und auch häuslicher geworden war. In letzter Zeit dehnte der ehemals ständig liebestolle Herumstreuner seinen Mittagsschlaf aus und fraß weniger. Untrügliche Alterserscheinungen, die sich auch an seiner grauen Schnauze, seinen trüben Augen und den schwärzer werdenden Zähnen offenbarten. Was für ein Elend, dachte El Conde. Während er den Hund hinter den Ohren kraulte, versuchte er ohne rechte Begeisterung, seinen Tagesablauf zu planen. Der war allerdings recht übersichtlich. Wie an jedem anderen Vormittag würde er auf der Suche nach alten Büchern durch die Stadt streifen und danach irgendwo ein leicht verdauliches Mittagessen zu sich nehmen. Oder vielleicht – falls er bei Yoyi El Palomo, seinem Geschäftspartner, Station machte – etwas wirklich Nahrhaftes essen. Danach würde er, mit oder ohne Rum, bei seinem Freund, dem dünnen Carlos, vorbeigehen, um dann bei Tamara, wo er durch zwei Tage unentschuldigter Abwesenheit geglänzt hatte, die Nacht zu verbringen. Dies alles bot wenig Überraschung, doch auch keinen Grund zur Klage: Arbeit, Freundschaft, Liebe, alles ein wenig abgenutzt, auch alt geworden, aber immer noch solide und real. Das Beschissene, gestand er sich ein, war seine Geistesverfassung, diese ewige Tristesse und Melancholie. Nicht nur aufgrund dieses bedrohlich runden Geburtstags, der so übel nach nahendem Alter klang und sicher überaus üble Konsequenzen hatte, sondern weil er vom Leben unendlich enttäuscht war. Was konnte er an der Schwelle der sechzig Jahre vorweisen? Nichts. Rein gar nichts! Was erwartete ihn, worauf konnte er hoffen? Dasselbe Nichts, aber im Quadrat. Mehr fiel ihm nicht ein als Antwort auf diese einfachen, bohrenden Fragen. Schlimm war das alles! Und was noch beunruhigender war: So viele Menschen seines Alters, Bekannte oder Fremde, wussten in diesen Zeiten auch keine bessere Antwort.

Inzwischen angekleidet, stellte er Basura II. ein paar Essensreste hin und gewährte ihm ein paar Streicheleinheiten, bei denen er gleich auch einige Zecken aus dem Fell entfernte. Dann gönnte er sich die dritte und letzte Tasse aus seiner italienischen Kaffeekanne, was seine Stimmung ein wenig aufhellte.

Da ließ ihn das Läuten des Telefons hochschrecken. Seit einiger Zeit versetzten ihn Telefonanrufe am frühen Morgen oder späten Abend in Alarmbereitschaft. So viele Leute um ihn herum waren in seinem Alter. Da konnte jeder Anruf eine Todesnachricht oder die Ankündigung eines nahenden Todes bedeuten.

»Ja?«,...