Provenzalischer Rosenkrieg - Ein Fall für Pierre Durand

von: Sophie Bonnet

Blanvalet, 2019

ISBN: 9783641238117 , 336 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Provenzalischer Rosenkrieg - Ein Fall für Pierre Durand


 

1

»Salut, hier bin ich.«

Die Tür zur Wache schob sich auf, und mit der jungen Frau, die einen nach oben geklappten Schirm umklammert hielt, kam auch der Regen in den Raum.

»Moment, ich helfe Ihnen.« Pierre, der sich gerade gemeinsam mit seinem Assistenten Luc Chevallier über eine Akte gebeugt hatte, richtete sich auf und eilte ihr entgegen. Er hielt ihr die Tür auf und verschloss sie rasch wieder, bevor die hineindrängenden Tropfen auf dem Boden zu Pfützen werden konnten.

Die junge Frau schob die Kapuze ihrer Jacke zurück und zupfte eine hellblonde Haarsträhne zurecht, die sie zu einem seitlichen Zopf gebunden hatte.

»Danke.« Mit einem Ruck versuchte sie, den Schirm wieder in seine ursprüngliche Form zu biegen, und gab schließlich mit einem Schulterzucken auf. »Das ist schon der dritte in dieser Woche. Gibt es hier irgendwo einen Mülleimer?«

Pierre nahm ihr den Schirm ab, trug ihn in die Kaffeeküche, die zwischen dem Vorraum und seinem Büro lag, und warf ihn in die Tonne. »Mistwetter!«, murmelte er.

So ging es nun schon seit Wochen. Als Ende April eine Schönwetterfront über die Provence zog, hatten sie alle geglaubt, das Schlimmste sei endlich überstanden. Nur um wenige Tage später festzustellen, dass sie sich geirrt hatten, da es nur eine kurze Atempause gewesen war, bevor die nächste Kältewelle heranrollte. Seither war kaum ein Tag vergangen, an dem es nicht regnete, die Meteorologen sprachen vom schlechtesten Wetter seit gut sechzig Jahren. Selbst in Deutschland, wo ein Teil der Familie seiner Freundin Charlotte lebte, war das Wetter besser, geradezu sommerlich. Während sich die Temperaturen dort bei vollkommener Trockenheit auf irrwitzige dreißig Grad zubewegten, kamen sie im Luberon auf gerade einmal siebzehn. Und das auch nur zur Mittagszeit. Da war es wenig tröstlich, dass der Regen – wie in den Medien unermüdlich betont wurde – nach der historischen Dürreperiode vom Vorjahr ein Segen für die Natur sei und dringend notwendig, um die Grundwasservorräte aufzufüllen. Die Hälfte davon hätte sicherlich auch gereicht.

Brummelnd ging Pierre zurück in den Vorraum, wo sich Luc inzwischen der jungen Dame angenommen hatte.

»Wie kann ich Ihnen weiterhelfen?«

»Ich bin Penelope Brunel. Bin ich zu spät?«

»Penelope … wer?« Luc warf Pierre einen fragenden Blick zu.

»Na, die Neue.« Die junge Frau betrachtete die vielen unbearbeiteten Akten und Zettel, die sich inzwischen nicht nur auf den Schreibtischen und in den Regalen stapelten, sondern auch auf Fußböden und Fensterbänken. »Ach du Schande! Das wird echt höchste Zeit.«

»Mademoiselle Brunel!« Sie war die neue Sekretärin, verdammt, er hatte sie vollkommen vergessen. Pierre streckte ihr die Hand entgegen. »Herzlich willkommen! Mein Name ist Pierre Durand, Chef de police municipale. Und das hier ist Luc Chevallier, mein Assistent.«

Arnaud Rozier hatte sie eingestellt, das war im März gewesen. Eine der letzten Amtshandlungen des alten Bürgermeisters, bevor er sich ins Privatleben zurückgezogen hatte. Mit tränenverschleiertem Blick hatte er die Hände auf Pierres Schultern gelegt und ihm versichert, wie stolz er immer auf seinen Chef de police gewesen sei. Und dass es ihm endlich gelungen sei, den Gemeinderat davon zu überzeugen, die lang ersehnte Sekretariatsstelle zu bewilligen. Der Name der neuen Mitarbeiterin sei Mademoiselle Brunel, und ab Mitte Mai werde sie dafür sorgen, dass endlich wieder Ordnung in die kleine, von der zunehmenden Verwaltungsarbeit überforderten police municipale komme.

Rozier hatte dabei die Arme ausgebreitet, als sei dies ein großzügiges Geschenk und keineswegs dringend notwendig, um den ihm gebührenden Dank entgegenzunehmen, den Pierre ihm schmunzelnd gewährte.

So war er eben, der ehemalige Bürgermeister. Selbstgefällig, jovial, leutselig. Dennoch hatte er sich in den vergangenen Monaten zum Positiven entwickelt. Seit dem letzten Fall war er wie geläutert, wesentlich aufmerksamer und umgänglicher als zuvor, aber es gab Dinge, die würden sich wohl nie ändern, nicht mal in hundert Jahren.

»Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie froh ich bin, dass Sie bei uns anfangen, Mademoiselle Brunel«, sagte Luc in diesem Augenblick und schüttelte der jungen Frau überschwänglich die Hand.

»Nennen Sie mich bitte Penelope. Mademoiselle klingt so furchtbar alt.«

»In Ordnung, Penelope. Ich bin Luc.«

Pierre musterte die Kollegin, die sich sichtbar skeptisch an ihrem zukünftigen Arbeitsplatz umsah. So als überlege sie, die Wache fluchtartig wieder zu verlassen.

Er seufzte.

Tatsächlich hatte er gehofft, die Neue wäre eine gestandene Frau wie Gisèle, die bestens vernetzte Empfangsdame des Bürgermeisteramts. Die Seele des Dorfes kannte jeden und fand trotz ihrer Abneigung gegen technische Neuerungen immer Mittel und Wege, Pierre mit den dringend benötigten Informationen zu versorgen. Korrekt, geordnet und pflichtbewusst.

Penelope Brunel wirkte wie das genaue Gegenteil. Sie mochte Anfang zwanzig sein, vielleicht ein, zwei Jahre älter, so genau konnte er es bei der Frisur nicht sagen. Das hellblond gefärbte Haar mit der hochgebundenen Strähne hatte etwas Mädchenhaftes, die Bluse mit dem Glockenrock erinnerte an eine Schuluniform. Aber ihre großen Augen, und das war ermutigend, waren hellwach und blitzten vor Tatendrang.

Pierre wies ihr den freien Schreibtisch zu, der sich ebenso wie der seines Assistenten im Vorraum befand, zeigte ihr, wo sie ihre persönlichen Sachen verstauen konnte und wie die digitale Zeiterfassung funktionierte, die der neue Bürgermeister Maurice Marechal hatte installieren lassen. Er überließ es Luc, sie mit der täglichen Arbeit vertraut zu machen, zog sich in sein Büro zurück, schloss die Tür und atmete tief durch.

Es setzte ihm zu, dass er den Tag, an dem die Schreibkraft endlich ihren Dienst beginnen sollte, vergessen hatte. Dabei hatte Marechal sie vergangene Woche noch extra angekündigt. Aber die Arbeit hatte sich dermaßen aufgestaut, dass er jeden Morgen in sie eintauchte und sich mit einem Tunnelblick durch die Aktenberge arbeitete, ohne dass diese am Abend kleiner geworden wären, weil ständig neue Anträge hinzukamen.

Mit verschränkten Armen schaute Pierre durch das Fenster auf den Hinterhof, der bei schönem Wetter von Leinen durchzogen war, auf denen bunte Wäsche flatterte. Heute waren nur die Mülltonnen des Chez Albert zu sehen. Ein trostloser Anblick, dachte er, während er sich wieder an seinen Platz setzte, ebenso trostlos wie jeder einzelne Tag, an dem er sich mit den leidigen Auswüchsen der zunehmenden Bürokratie beschäftigte.

Widerwillig rückte er seinen Stuhl zurecht. Vor ihm lag die Akte eines stillgelegten Fahrzeugs, das seit Monaten nicht bewegt worden war und dessen Fahrer nun ausfindig gemacht werden musste. Er öffnete sie, holte das entsprechende Formular hervor und seufzte erneut.

So hatte er es sich nicht vorgestellt, das Leben als Chef de police municipale dieses bezaubernden Bergdorfes mit seinen warmherzigen, skurrilen Bewohnern. Als er den Posten als Commissaire im fernen Paris gegen das Leben eines Dorfpolizisten eingetauscht hatte, war es ihm wie ein Befreiungsschlag erschienen. Auf ihn hatte ein beschaulicher Alltag gewartet, der zuweilen von Kriminalfällen unterbrochen war, bei denen er – aus alter Gewohnheit und nicht immer zur Freude der zuständigen Beamten – ermittelte. Aber seit Einführung des Datenschutzgesetzes hatten die bürokratischen Pflichten dermaßen überhandgenommen, dass er sich immer öfter bei dem Gedanken erwischte, lieber im Bett bleiben zu wollen, statt zur Arbeit zu gehen.

»Das liegt sicher am Wetter«, hatte Charlotte gesagt, als er ihr beim Frühstück gestand, wie sehr ihn seine momentane Arbeitssituation nervte. »Du wirst sehen, sobald die Sonne scheint, sieht die Sache wieder anders aus.«

Er schüttelte zweifelnd den Kopf. Charlotte hatte gut reden. Sie brannte für ihre Arbeit! Innerhalb kürzester Zeit hatte sie aus ihrer Épicerie, in der sie auch Gerichte zum Mitnehmen anbot, jeden Tag frisch zubereitet und mit wechselnder Wochenkarte, einen beliebten Anlaufpunkt für Gäste und Einheimische gemacht. Es gab kaum eine Feier und keinen Empfang, für die sie nicht das Catering übernahm, sodass sie sich noch vor Weihnachten einen gebrauchten Lieferwagen gekauft hatte, um all die Einkäufe zu bewältigen und die Platten und Schüsseln auch zu den Häusern außerhalb des Dorfes zu transportieren.

Pierre sah von dem Formular auf und drehte sich erneut zum Fenster, starrte auf die Regentropfen, die gegen die Scheibe schlugen und in kleinen Rinnsalen hinabglitten.

Anfang April hatte Charlotte neben ihrer Küchenhilfe Jean noch zwei weitere Kräfte eingestellt: die Köchin Marianne, die Charlotte mit tiefer Dankbarkeit zur Seite stand, weil sie sich schon fast damit abgefunden hatte, mit Anfang sechzig keine Anstellung mehr zu finden. Außerdem Isabelle Poncet, eine der beiden Töchter des örtlichen Mechanikers, die sich seit der Teilnahme an Charlottes Kochkurs für die heimische Küche begeisterte und nun als Verkaufskraft hinterm Tresen stand.

Und ganz nebenbei, so als sei es nichts weiter als ein Spaziergang, organisierte Charlotte in regelmäßigen Abständen gemeinsam mit dem Sommelier Martin Cazadieu Genussreisen durch die Provence, die sich größter Beliebtheit erfreuten. Sogar ein Kochbuch hatte sie geschrieben.

Pierre seufzte. Vier Monate waren vergangen, seit Charlotte und er zusammengezogen waren. Es war die beste Entscheidung seines Lebens, und doch führte sie ihm nun täglich vor Augen, welchen Unterschied...