Erhebung - Roman

von: Stephen King

Heyne, 2018

ISBN: 9783641237516 , 144 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Erhebung - Roman


 

Scott Carey klopfte an die Tür der Eigentumswohnung, und Bob Ellis (den alle in Highland Acres immer noch Doctor Bob nannten, obwohl er seit fünf Jahren im Ruhestand war) ließ ihn herein. »Na, Scott, da bist du ja. Pünktlich um zehn. Was kann ich für dich tun?«

Scott war ein stattlicher Mann, eins dreiundneunzig in Socken, mit einer anständigen Wampe. »Das weiß ich auch nicht recht. Wahrscheinlich gar nichts, aber … ich habe ein Problem. Hoffentlich kein großes, aber vielleicht doch.«

»Eines, worüber du mit deinem regulären Arzt nicht sprechen willst, ja?« Mit seinen vierundsiebzig Jahren hatte Ellis schütteres silberweißes Haar und hinkte ein bisschen, was ihn auf dem Tennisplatz allerdings kaum behinderte. Da hatten er und Scott sich kennengelernt und angefreundet. Enge Freunde waren sie wohl nicht, aber Freunde auf jeden Fall.

»Ach, bei dem war ich schon«, sagte Scott. »Zur Vorsorgeuntersuchung, die längst überfällig war. Blutbild, Urin, Prostata, das ganze Programm. Alles in Ordnung. Der Cholesterinspiegel ist ein bisschen hoch, aber noch im grünen Bereich. Ich hatte mir nämlich Sorgen wegen Diabetes gemacht. Im Internet stand, das wäre am wahrscheinlichsten.«

Abgesehen von den Klamotten jedenfalls. Die Sache mit den Klamotten fand sich auf keiner Website, ob medizinisch oder sonst wie ausgerichtet. Mit Diabetes hatte das bestimmt nichts zu tun.

Ellis führte ihn ins Wohnzimmer, von dessen großem Erkerfenster man einen Blick auf das vierzehnte Grün der Wohnanlage in Castle Rock hatte, wo er mit seiner Frau jetzt lebte. Gelegentlich spielte er eine Runde, hielt sich jedoch eher an Tennis. Für Golf begeisterte sich seine Frau, was nach Scotts Vermutung der Grund war, weshalb die beiden hier wohnten, wenn sie nicht gerade den Winter in einer ebenfalls sportlich orientierten Anlage in Florida verbrachten.

»Falls du Myra vermissen solltest, die ist in ihrer methodistischen Frauengruppe«, sagte Ellis. »Glaube ich wenigstens, es kann auch irgendein städtischer Ausschuss sein. Morgen fährt sie jedenfalls nach Portland, wo sich die Mykologische Gesellschaft von Neuengland trifft. Die Frau schwirrt durch die Gegend wie eine wild gewordene Hummel. Zieh deine Jacke aus, setz dich und sag mir, worum es geht.«

Obwohl es erst Anfang Oktober und nicht besonders kalt war, trug Scott seinen North-Face-Parka. Er zog ihn aus und legte ihn neben sich auf das Sofa. In den Taschen klimperte es.

»Wie wär’s mit einem Kaffee? Oder Tee? Außerdem ist vom Frühstück noch Gebäck da, glaube ich, falls …«

»Ich nehme gerade ständig ab«, sagte Scott unvermittelt. »Darum bin ich hier. Die Sache ist irgendwie ziemlich komisch. Früher habe ich mich vor der Waage im Bad immer gedrückt, weil die mir in den letzten zehn Jahren oder so nichts Erfreuliches mitgeteilt hat. Jetzt stelle ich mich gleich morgens früh drauf.«

Ellis nickte. »Ich verstehe.«

Der hat keinen Grund, sich vor der Waage zu drücken, dachte Scott. Meine Großmutter hätte ihn wohl als dürre Bohnenstange bezeichnet. Wenn das Schicksal ihm nicht den Schwarzen Peter zuschiebt, lebt er wahrscheinlich noch zwanzig Jahre. Vielleicht wird er sogar hundert.

»Das Waagenvermeidungssyndrom ist mir durchaus bekannt. Als ich noch die Praxis hatte, ist mir das ständig begegnet. Mit dem Gegenteil – zwanghaftem Wiegen – hatte ich ebenfalls zu tun, normalerweise bei Bulimie und Anorexie. Danach siehst du allerdings kaum aus.« Er beugte sich vor und klemmte die Hände zwischen die dürren Oberschenkel. »Dir ist doch klar, dass ich im Ruhestand bin, oder? Ich kann dir zwar Ratschläge geben, aber was verschreiben geht nicht. Und mein Rat wird wahrscheinlich lauten, dass du noch mal deinen regulären Arzt aufsuchen und ihm alles gestehen solltest.«

Scott lächelte. »Ich befürchte, der würde mich sofort zu irgendwelchen Tests ins Krankenhaus stecken. Dabei habe ich gerade erst letzten Monat einen tollen Auftrag an Land gezogen. Es geht darum, verknüpfte Websites für eine Kaufhauskette zu erstellen. Die Einzelheiten erspare ich dir lieber, aber es ist ein Traumjob. Ich hatte einfach großes Glück, den zu bekommen. Und das Ganze kommt mir sehr zupass, weil ich arbeiten kann, ohne von Castle Rock weggehen zu müssen. Das ist das Gute am Computerzeitalter.«

»Aber wenn du krank wirst, kannst du gar nicht arbeiten«, sagte Ellis. »Du bist ein kluger Kerl, Scott, und du weißt bestimmt, dass Gewichtsverlust nicht nur auf Diabetes hinweisen kann, sondern auch auf Krebs. Unter anderem. Um wie viel Kilo geht es eigentlich?«

»Um dreizehn.« Scott blickte durchs Fenster auf die weißen Golfmobile, die unter dem blauen Himmel über grünes Gras fuhren. Als Foto hätte das gut auf die Website von Highland Acres gepasst. Bestimmt hatten die eine – wie alle heutzutage, selbst Budenbesitzer, die am Straßenrand Maiskolben und Äpfel verkauften –, aber die hatte jedenfalls nicht er erstellt. Er beschäftigte sich jetzt mit größeren Sachen. »Bisher.«

Bob Ellis grinste. Die Zähne, die er dabei zeigte, waren noch alle die eigenen. »Das ist eine ganze Menge, schon klar, aber es schadet dir meiner Meinung nach nicht, sie zu verlieren. Für jemand von deiner Größe bewegst du dich auf dem Tennisplatz ganz gut, und im Fitnesscenter verbringst du bekanntlich allerhand Zeit an den Maschinen. Wenn man zu viele Kilos mit sich herumschleppt, belastet das nicht nur das Herz, sondern den ganzen Organismus. Was du ja bestimmt schon weißt. Aus dem Internet.« Er verdrehte die Augen, worauf Scott lächelte. »Wie viel wiegst du jetzt?«

»Rat mal«, sagte Scott.

Ellis lachte. »Was meinst du, wo wir hier sind, bei einer Quizshow? ’nen Blumentopf gibt es jedenfalls nicht zu gewinnen!«

»Wie lange warst du Hausarzt – so an die fünfunddreißig Jahre, ja?«

»Zweiundvierzig.«

»Dann zier dich nicht so. In der Zeit hast du Tausende Patienten gewogen.« Scott erhob sich, groß und wuchtig in seinen Jeans, seinem Flanellhemd und den abgewetzten Stiefeln. Er sah eher wie ein Waldarbeiter oder Cowboy als wie ein Webdesigner aus. »Rat mal, wie schwer ich bin. Zu meinem Schicksal kommen wir später.«

Dr. Bob Ellis ließ seinen geübten Blick an den hundertdreiundneunzig Zentimetern von Scott Carey – mit Stiefeln waren es eher hundertachtundneunzig – auf und ab wandern. Besondere Aufmerksamkeit schenkte er dem über den Gürtel hängenden Bauch und den langen Oberschenkelmuskeln, aufgebaut durch die Beinpressen und Hackenschmidt-Geräte, auf die er selbst inzwischen verzichtete. »Knöpf das Hemd auf, und zieh es auseinander.«

Als Scott das tat, kam ein graues T-Shirt mit dem Aufdruck UNIVERSITY OF MAINE ATHLETIC DEPARTMENT zum Vorschein. Ellis konnte eine breite, muskulöse Brust sehen, in der sich allerdings jene Fetteinlagerungen entwickelten, die Scherzbolde gern als Männertitten bezeichneten.

»Ich würde sagen …« Er zögerte. Jetzt schien ihn die Herausforderung doch zu reizen. »Ich würde sagen, hundertsieben Kilo. Vielleicht auch hundertzehn. Das heißt, dass du vor dem Gewichtsverlust mehr als hundertzwanzig gewogen hast. Ich muss schon sagen, auf dem Tennisplatz hast du dich damit gut geschlagen. So viel hätte ich nicht erwartet.«

Scott erinnerte sich daran, wie froh er gewesen war, als er am Monatsanfang endlich den Mut aufgebracht hatte, sich auf die Waage zu stellen. Regelrecht begeistert sogar. Dass er seither stetig abgenommen hatte, war besorgniserregend, wohl wahr, aber nur ein bisschen. Es lag an den Klamotten, dass sich seine Sorgen in Furcht verwandelt hatten. Man brauchte kein Gesundheitsportal, um zu wissen, dass das mit den Klamotten nicht nur merkwürdig war; es war verdammt aberwitzig.

Draußen rollte ein Golfmobil vorüber, in dem zwei Männer mittleren Alters saßen, einer in rosa, der andere in grünen Hosen, beide...