Die letzte Stunde - Historischer Roman

von: Minette Walters

Heyne, 2018

ISBN: 9783641224677 , 656 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

Windows PC,Mac OSX geeignet für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 9,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Die letzte Stunde - Historischer Roman


 

EINS

Develish, Dorseteshire

Die Sommerhitze sog alles Leben aus Develish. An den Bäumen welkten die Blätter, die Pferde ließen die Köpfe hängen, zu matt, um das Gras abzuweiden, die Hühner hockten dösend im Staub, und in den Feldern stützten sich die Bauern schwer auf ihre Sensen. Nur die Schmeißfliegen gediehen, schwärmten in Massen um die Misthaufen vor den Viehställen und brummten durch jeden Raum im Herrenhaus.

Es war kein Tag zum Reisen, und entsprechend übellaunig gebärdete sich Sir Richard of Develish. Jedes Mal, wenn seine Diener einer Forderung nicht schnell genug nachkamen, erhob er zornig die Stimme, und da er so unwillig war, die Reise anzutreten, erregte alles seinen Zorn. Nur dem beruhigenden Einfluss seiner Gemahlin, Lady Anne, war es zu verdanken, dass die Reisevorbereitungen nicht zum Erliegen kamen. Seelenruhig setzte sie sich über alle Entscheidungen Sir Richards hinweg und befahl der Dienerschaft, seine Taschen gemäß ihren Weisungen zu packen.

Eleanor, ihre vierzehnjährige Tochter, hörte all das Getöse von der Kemenate ihrer Mutter aus, die eine Treppe höher gelegen war. Sie war der Reise ihres Vaters ebenso abhold wie er und wünschte ihre Mutter zum Teufel, weil sie ihn dazu genötigt hatte. Das Mädchen hätte an einem Kissen für ihre Aussteuer sticken sollen, stattdessen aber stand sie am Fenster und sah zu, wie ein Planwagen mit Truhen beladen wurde, Truhen voller Vorräte, Kleidung und Gold für ihre Mitgift.

Selbst unter guten Umständen war Eleanor verwöhnt und launisch, aber die Hitze machte sie zum Biest. Ihr Blick fiel auf einen Knecht, der Weidenschösslinge in den Obstgartenzaun flocht. Er arbeitete geschickt, bog das grüne Holz mit starken, sonnengebräunten Armen, ehe er es zwischen die alten Zweige aus früheren Jahren einpasste. Nur ein hirnverbrannter Sklave würde bei solcher Hitze so hart arbeiten, sagte sich Eleanor, und ein zufriedenes Lächeln erhellte ihre Miene. Nichts behagte ihr mehr, als diesen Thaddeus Thurkell herabwürdigen zu können.

Wie alle Leibeigenen war er schmutzig und zerlumpt, aber einen Kopf größer als die meisten Männer in Dorset, und mit seiner dunkel getönten Haut, den langen schwarzen Haaren und mandelförmigen Augen wies er keinerlei Ähnlichkeit mit dem Mann auf, den er widerwillig Vater nannte – den kurzbeinigen, wieselgesichtigen Will Thurkell. Man munkelte, Eva Thurkell habe sich einst nach Melcombe abgesetzt und mit einem Matrosen eingelassen; andere meinten, Thaddeus sei die Frucht einer flüchtigen Liebschaft mit einem Zigeuner.

Wie immer die Wahrheit aussehen mochte, sicher war, dass der Vater den Sohn hasste und der Sohn den Vater. Als Kind war er täglich verprügelt worden, doch mittlerweile wagte sich Will mit seinem Stock nicht mehr an ihn heran, denn wie behauptet wurde, konnte Thaddeus eine Eisenstange übers Knie biegen und einen ausgewachsenen Mann mit einem einzigen Faustschlag zu Boden strecken. Dem Anschein nach fügte er sich in seine niedere Stellung in Develish, beugte den Kopf, wenn er musste, aber es war ihm anzumerken, dass er es ohne Ehrfurcht tat. Er sah an den Leuten vorbei, als wären sie gar nicht da, besonders an dem Mann, der ihn als Sohn angenommen hatte.

Will Thurkell war träge und verrichtete nur widerwillig die Fronarbeit, die er dem Gutsherrn als Gegenleistung für seine paar Streifen Ackerland schuldete. Selbst als Kind hatte Thaddeus schon an seines Vaters statt schuften müssen, unter der Androhung, dass seine Mutter andernfalls ausgepeitscht würde. Eine trübsinnige Person ohne jeden Lebensmut, hatte Eva über die Jahre mehr als ihren Teil an Strafe abbekommen. Nur die blassen, schwächlichen Kinder, die nach Thaddeus auf die Welt gekommen waren, blieben von den Wutausbrüchen ihres Mannes verschont.

Was nun aber nicht hieß, dass Eleanor auch nur das geringste Mitgefühl für Eva empfand. Die Hure hatte die Regeln gekannt, als sie sich in den Sündenpfuhl legte, und es war ihre eigene Schuld, dass sie ihren Bastard nicht als Wills Sohn ausgeben konnte. Offenbar hatte sie anfangs noch behauptet, Thaddeus sei aus einer Vergewaltigung hervorgegangen, aber kaum einer glaubte ihr, da sie nichts davon hatte verlauten lassen, bevor das dunkle Baby, das ihrem Mann nicht im Geringsten glich, auf die Welt kam. Der Makel der Illegitimität ließ Thaddeus ebenso sündhaft erscheinen wie seine Mutter, obwohl in seiner Haltung nicht ein Funken davon zu erkennen war. Er trug den Kopf hoch, anstatt den Blick beschämt zu senken.

Eleanor gefiel der Gedanke, Thaddeus in die Knie zu zwingen. Er war sechs Jahre älter als sie, und sie träumte davon, ihn zu demütigen. In der Hitze hatte er seinen Rock abgeworfen und arbeitete nun in kurzer Hose und losem Hemd mit aufgekrempelten Ärmeln. Es machte dem Mädchen Freude, ihn zu beobachten, zumal er sich dessen bewusst war; als er sich einen Fetzen um die Stirn gebunden hatte, damit ihm der Schweiß nicht in die Augen rann, sah er geradewegs zu ihrem Fenster hinauf, und sie lief puterrot an vor schuldbewusstem Verlangen.

Daran war nur ihr Vater schuld, weil er sie dem hässlichen, pockennarbigen Sohn eines benachbarten Gutsherrn versprochen hatte, dessen Anwesen, wesentlich ausgedehnter als Develish, zwei Tagesritte entfernt lag. Eine triste Zukunft war ihr bestimmt als Gemahlin von Peter of Bradmayne, der von so zwergenhafter Statur war, dass er kaum wie ein richtiger Mann auf einem Pferd sitzen konnte. Eleanors eigenes kleines Pony, eine hübsche Fuchsstute mit weißen Strümpfen, weidete jenseits des Burggrabens. Sie war versucht, hinauszugehen und Thaddeus anzuweisen, das Pony zu satteln und ihr hinaufzuhelfen. Falls er es wagte, sie dabei anzusehen, würde sie ihm eins mit der Reitgerte überziehen.

Diese amüsante Fantasterei wurde durch die Schritte ihrer Mutter auf der Treppe unterbrochen. Schnell huschte Eleanor zurück zu ihrem Schemel und Stickrahmen und täuschte Fleiß vor. Ihre Gefühle Lady Anne gegenüber grenzten an Hass, denn Eleanor wusste sehr wohl, dass sie die Auswahl ihres Zukünftigen ihrer Mutter zu verdanken hatte. Lady Anne zog Pflichterfüllung und Disziplin der Liebe vor. Sie war von Nonnen erzogen worden und hätte besser den Schleier nehmen sollen, da es ihr bevorzugter Zeitvertreib war, ihre Tochter wegen ihrer Verfehlungen zu rügen.

Aus ihrem Schweigen schloss Eleanor, dass Lady Anne die Stiche zählte, die dem Muster hinzugefügt worden waren, seit sie das letzte Mal nachgeschaut hatte. »Es ist einfach zu heiß«, erklärte Eleanor trotzig. »Meine Finger rutschen dauernd von der Nadel ab.«

»Du bestickst das Kissen nicht für mich, Tochter, sondern für dich selbst. Wenn du keinen Sinn in der Aufgabe siehst, dann suche dir eine lohnendere Beschäftigung.«

»Es gibt ja nichts.«

Durch das offene Fenster vernahm Lady Anne das Scharren der Pferdehufe auf dem trockenen Lehm unten auf dem Vorplatz, wo Sir Richards Tross sich zur Abreise sammelte. In den Feldern jenseits des Burggrabens konnte sie die Leibeigenen bei der mühseligen Plackerei des Heumachens sehen; weiter vorn schwitzte Thaddeus Thurkell über dem Weidenzaun. Es war nicht schwer zu erraten, womit sich Eleanor die Zeit vertrieben hatte. »Dein Vater lässt dich rufen, um Abschied zu nehmen«, sagte sie. »Er wird zwei Wochen fortbleiben.«

Das Mädchen stand auf. »Aber ich will nicht, dass er wegfährt; und das werde ich ihm auch sagen.«

»Wie du meinst.«

Eleanor stampfte mit dem Fuß auf. »Ihr seid es doch, die ihn wegschickt. Ihr zwingt immer alle dazu, Dinge zu tun, die sie gar nicht tun wollen.«

In Lady Annes Augen flackerte Belustigung. »Nicht deinen Vater, Eleanor. Er mag Wutanfälle bekommen, um uns daran zu erinnern, was er sich unseretwegen alles zumutet, aber er würde nicht nach Bradmayne reisen, wenn es nicht in seinem eigenen Interesse wäre.«

»Was für ein Interesse denn?«

»Es geht das Gerücht, dass Peter of Bradmaynes altes Kindheitsleiden wieder ausgebrochen sei. Dein Vater will mit eigenen Augen sehen, woran er ist, bevor er den Heiratsvertrag unterzeichnet.« Sie schüttelte den Kopf, als sie Hoffnung in den Augen ihrer Tochter aufblitzen sah. »Gib Acht, was du dir wünschst, Eleanor. Wenn Peter stirbt, wirst du womöglich gar keinen Ehemann mehr abbekommen.«

»Na, darum werde ich keine Tränen vergießen.«

»Das wirst du wohl, wenn dein Vetter das Haus erbt. Immer noch besser, Herrin von Bradmayne zu sein, als eine einsame alte Jungfer, die für ihren Unterhalt auf die Großmut eines Verwandten angewiesen ist.«

»Die Welt ist voll von Männern«, gab das Mädchen trotzig zurück. »Es gibt jede Menge sehr viel angenehmere Ehegatten als Peter of Bradmayne.«

»Aber keinen, den dein Vater sich leisten könnte«, erinnerte sie Lady Anne. »Develish ist Sir Richards einziges Gut, ein weiteres ist ihm nie gewährt worden. Glaubst du nicht, er würde eine größere Mitgift anbieten, wenn er nur könnte? Sonst verwöhnt er dich doch in allem. Sei dankbar für Bradmayne und bete, dass Peter stark genug sein möge, dir Söhne zu geben, auf dass einer davon dereinst Lord of Develish werde.«

Eleanor verabscheute diese Predigten, die sie sich unentwegt von ihrer Mutter anhören musste. »Vielleicht werde ich ja mit dem gleichen Fluch geschlagen wie Ihr«, murrte sie gehässig. »Vater sagt, es ist Eure Schuld, dass er keinen Erben hat.«

»Dann steht dir eine traurige Zukunft bevor«, entgegnete Lady Anne. »Ich bedauere jeden Tag, keinen Sohn zu haben, und das solltest du ebenfalls.«

»Ich sehe nicht ein, warum.« Mit einem Rascheln ihrer Schleppe, das beinahe verächtlich klang, wandte das...