Ashes - Tödliche Schatten

von: Ilsa J. Bick

beBEYOND, 2017

ISBN: 9783732547784 , 576 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

Windows PC,Mac OSX geeignet für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 3,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Ashes - Tödliche Schatten


 

»FUBAR« so nannte es Jed. Damals bei den Marines hatten sie das gesagt, wenn eine Situation aussichtslos oder etwas total vermurkst war. Aber wie er diese Jugendlichen nennen sollte, wusste er nicht. Manche bezeichneten sie als Zombies, aber das traf es nicht, denn Zombies sind lebende Tote, und diese Kids waren das krasse Gegenteil. Jemand hatte das Wort »Chucky« in Umlauf gebracht, wahrscheinlich ein anderer alter Kriegsveteran, dem immer noch Vietnam im Kopf herumspukte. Doch es war was dran an diesem Namen. Diese Jugendlichen tauchten einfach aus dem Nichts auf, wie damals die Vietcong. Und die Chuckies waren genauso ein Albtraum: Monster mit dem Gesicht einer Tochter oder eines Sohnes. Wie in diesen alten Filmen über die verunstaltete psychopathische Mörderpuppe.

An jenem Tag Anfang Oktober, als die Welt FUBAR wurde, lebten er und Grace in einer Einrichtung für betreutes Wohnen in Michigan, unweit von Watersmeet. Eben noch hatte er seiner Frau Grießbrei von der Unterlippe gewischt, und im nächsten Moment, weiß der Himmel wie viel später, kam er in einer Pfütze aus dünnflüssiger Müslipampe zu sich. Blut rann ihm aus den Ohren, ein bohrender Schmerz jagte durch sein Hirn und dann sagte Grace, ohne irgendeine Spur von Verwirrtheit: »Jed, Schatz, ich glaube, ich habe mir in die Hosen gemacht.«

Na gut, sie hatte ihre Inkontinenzwindel eingenässt, aber wen kümmerte das? Seine liebe Grace war wieder da. Ein Wunder war geschehen

Das sich aber in dem Moment verflüchtigte, als sie in den Flur hinaustaumelten und die Leichen sahen: Schwestern, Pfleger und Ärzte lagen kreuz und quer verstreut wie Mikadostäbchen.

Und ihre Enkelin Alice verspeiste in aller Seelenruhe die Augen ihrer Mutter.

Das lag knapp vier Monate zurück. Jetzt war die zweite Januarwoche angebrochen, und sie befanden sich nicht mehr in Michigan, sondern in Wisconsin. So früh am Morgen zeichnete sich das Sonnenlicht nur schwach und fahl am taubenblauen Himmel ab. Die Luft war still und klar und von einer spröden, lähmenden Kälte, die einem durch und durch ging. Jed sehnte sich nach einem ordentlichen Feuer, während er auf Schneeschuhen den Klippenweg entlangstapfte und dann zu dem dichten Gestrüpp aus immergrünen Bäumen am Seeufer hinunterglitt. An der scharfen Linkskurve, die tiefer in den Wald und weiter zum See führte, machte er halt und drehte sich um hundertachtzig Grad. Selbst ohne die verräterische graue Rauchfahne konnte er ihr Blockhaus leicht ausmachen, knapp fünfhundert Meter entfernt auf einer bewaldeten Sandsteinklippe. Um diese Tageszeit war das große Panoramafenster des Hauses nur ein dunkles Rechteck, mit zwei Pferden davor, nicht größer als Schrotkugeln.

Vietnam hatte seine Spuren bei ihm hinterlassen, innerlich und äußerlich, wie auch bei den anderen Kriegsveteranen, die Jed kannte. Er hatte eine Kugel ins linke Auge bekommen, was schon schlimm genug war, aber die Kugel hatte in einer schräg laufenden Geschossbahn den Kopf durchschlagen und war am Hinterkopf wieder ausgetreten. Binnen einer Sekunde war von seinem linken Auge nur noch gallertartige Masse übrig und sein rechter Hinterhauptslappen Matsch. Sein rechtes Auge funktionierte eigentlich noch, aber durch die Hirnschädigung konnte er seit Vietnam nicht mehr lesen und keine Wörter mehr erkennen. Und farbenblind wurde er auch. Seine Umwelt nahm er nur noch in aschfarbenen Grautönen wahr, während seine Träume und Erinnerungen in schönstem Technicolor leuchteten. Außerdem produzierte sein Gehirn gespenstische Schemen, die die Militärpsychiater als Halluzinationen bezeichneten – eine Art visueller Phantomschmerz.

Wie bei Grace Aber in letzter Zeit hatte er sich verändert.

Jetzt stand er da und blickte zu dem fernen Blockhaus hinüber. Sicher, auf dem linken Auge war er immer noch blind, der Augapfel fehlte, die Höhle war mit einem mittlerweile von Haut überwachsenen Kunststoffimplantat gefüllt. Irgendwie hatte er es nie geschafft, sich ein Glasauge anfertigen zu lassen, vielleicht weil es ihm egal war, wenn er andere Leute verstörte. Vietnam saß fest verkeilt in seinem Hirn, hartnäckig eingeklemmt wie ein sehniges Stück Fleisch zwischen den Zähnen, das ums Verrecken nicht rauszubekommen war. Warum also sollten es die anderen vergessen dürfen, wenn er selbst es nicht konnte?

Aber sein gutes Auge tat sehr wohl noch seinen Dienst, inzwischen sogar besser denn je, und mit diesem blickte er nun auf das dunkle Viereck des Fensters. Einen Moment später nahm der dünne Store mit dem Faltenwurf Konturen an. Dann erkannte Jed die Ledercouch und das lebhaft gelborange flackernde Kaminfeuer. Weiter hinten im Raum entdeckte er Grace, und was hatte sie an ? Er konzentrierte sich, fasste sie gewissermaßen in sein mentales Fadenkreuz. Ja, Grace trug diesen flauschigen pinkfarbenen Pullover, sie löffelte gerade Kaffee in eine alte Kanne und rechnete dabei wahrscheinlich aus, wie viel Kaffeesatz von jedem Löffel übrig blieb.

Sie und Zahlen, das war eine vertrackte Sache, genau wie bei ihm mit seinem plötzlichen Adlerblick. Grace war schon immer ein heller Kopf gewesen, die Beste in ihrer Schwesternschule und ein echtes Rechengenie. Schon oft hatte er sich gedacht, wenn sie fünfzehn Jahre später geboren worden wäre, hätte sie Ärztin werden können oder vielleicht sogar eine von diesen großen Raketenwissenschaftlern. Aber nach der Sache mit Michael war sie nicht mehr dieselbe gewesen. Und als die Alzheimerkrankheit begann na ja, da war das beinahe ein Segen. Doch dann passierte FUBAR und sperrte irgendein verborgenes Hinterstübchen in ihrem Kopf auf, in dem sie sämtliche mathematische Gleichungen und Berechnungen seit dem Anbeginn der Zeit gespeichert hatte.

Sie hatte den Jungen gerettet. Dank ihrer mehr als vierzigjährigen Erfahrung als Krankenschwester und der angehäuften Intelligenz, die genau im richtigen Moment zurückgekehrt war. Mit dem Jungen heilte sie auch sich selbst, zumindest so weit, wie man ein gebrochenes Herz aus eigener Kraft wieder zusammenflicken konnte. Sie tat so, als wäre der Junge Michael, und der ließ es geschehen, wofür Jed ihn so inbrünstig liebte, dass es ihm schier den Atem verschlug.

Der Odd Lake lag tief im Nicolet-Nationalpark. Jeds Eisfischerhaus eigentlich ein umgebauter Wohnwagen auf einem Flachbettauflieger stand einen knappen Kilometer vom Seeufer entfernt. Wenn man noch ein Stückchen weiter auf den See hinausging und sich links hielt, veränderte sich das Eis, es wurde matschig und gab dann auf einer Länge von etwa zwanzig Metern die blauschwarze Wasseroberfläche frei, ehe sich dahinter wieder die Eisfläche fortsetzte. Der Grund dafür war, dass der See oberhalb eines Ausläufers der Douglas-Verwerfung lag, einer Erdspalte, die sich von Minnesota bis Ashland zog. Das aus dem Erdinnern hervorquellende Wasser war ein paar Grad wärmer als der Rest und sorgte dafür, dass der See nie komplett zufror. Daher der Name Odd Lake Seltsamer See. Und wenn man sich zu weit auf das dünne Eis hinauswagte, war es ganz schnell um einen geschehen.

Die Bootshütte, gebaut aus solidem, verwittertem Zedernholz, mit einer Tür nach Norden und einem Schiebefenster nach Westen, stand auf einer schneebedeckten Sandbank. Vor fünfundzwanzig Jahren, als Michael sechzehn war und einen Platz für sich allein haben wollte, hatten sie es gemeinsam ausgebaut, Fenster eingesetzt, wärmeisoliert, danach Trockenbauwände eingezogen und Regale angeschraubt. Auf Wasser und Strom hatten sie verzichtet, es sollte ganz schlicht sein. Michael wollte nicht viel mehr als eine eigene Bude und ein bisschen Ruhe. Drei Jahre später meldete er sich zum Militär, seine Bude hatte er da immer noch, aber Ruhe gab es keine für Angehörige der Marines. Siebzehn Jahre später klopften drei ernst dreinschauende Männer in dunkelblauen Uniformen an ihre Tür, und zwei Wochen darauf kam Michael in einer flaggendekorierten Kiste aus Al-Anbar zurück. Jetzt hatte Michael ganz viel Ruhe.

Jed mit seinem Adlerauge bemerkte es sofort, als die Tür an der Nordseite geöffnet wurde, allerdings quietschten auch die Türangeln dermaßen, dass man es wohl noch im Norden von Michigan hören konnte. Zuerst sprang ein Golden Retriever heraus. Einen Augenblick später trat der Junge, eine schlaksige schwarze Silhouette vor weißem Schnee, aus der Tür. Wenn Jed seine Gedanken schweifen ließ, konnte er sich beinahe wie Grace zu der Vorstellung hinreißen lassen, dass der Junge tatsächlich Michael war. Doch als der Hund sein Herrchen bemerkte und bellte und der Junge ihm kurz zuwinkte, war dieser bittersüße Moment auch schon vorüber.

»He, schon zurück? Wie war’s im Baxter’s?«, fragte der Junge, als Jed mit schlurfenden Schritten näherkam.

Das Baxter’s war ein alter Anglertreff gleich westlich der Grenze zu Michigan, eine Viertagesreise entfernt, in neutralem Gebiet, wo die Leute Tauschhandel trieben und einander den neuesten Klatsch erzählten. »War okay. Die Scharniere brauchen mehr Kontaktspray. Ich hab dir doch gesagt, du sollst dich darum kümmern.«

»Tut mir leid. Hab aber den Spitfire in Ordnung gebracht. Musste nur die Zündkabel neu ziehen. Du brauchst bloß an der Leine zu reißen, dann müsste das Ding gleich anspringen. Ich habe es wegen des Lärms noch nicht ausprobiert, aber der Zündfunke ist da.«

»So, so. Gut gemacht.« Jed schien aus dem Konzept gebracht. Er nahm sein Gewehr runter, eine Bravo-51, und lehnte es ans Bootshaus, dann schnallte er seine Schneeschuhe ab. Die Bravo war eine solide...