Die gute Tochter - Thriller

Die gute Tochter - Thriller

von: Karin Slaughter

HarperCollins, 2017

ISBN: 9783959676700 , 608 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

Windows PC,Mac OSX geeignet für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 9,99 EUR

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Die gute Tochter - Thriller


 

WAS MIT SAMANTHA GESCHAH

Samantha Quinn spürte ein Brennen wie von tausend Hornissen in den Beinen, als sie auf der langen, einsamen Zufahrt in Richtung Farmhaus rannte. Ihre Turnschuhe trommelten im Rhythmus des rasenden Herzschlags über die kahle Erde. Der Schweiß hatte ihren Pferdeschwanz in ein dickes Tau verwandelt, das bei jedem Schritt an ihre Schultern klatschte. Die zarten Knochen in ihren Fußgelenken schienen jeden Moment bersten zu wollen.

Sie lief noch schneller, sog die trockene Luft ein, spurtete, dass es schmerzte.

Ein Stück weiter vorn stand Charlotte im Schatten ihrer Mutter. Sie alle standen im Schatten ihrer Mutter. Gamma Quinn war eine hochgewachsene Frau mit wachen blauen Augen, kurzem dunklem Haar und einer Haut so hell wie ein Briefumschlag. Zudem war sie mit einer scharfen Zunge ausgestattet, die winzige, schmerzhafte Verletzungen gern an Stellen zufügte, wo man sie am wenigsten gebrauchen konnte. Schon aus der Ferne sah Samantha, wie Gamma beim Blick auf die Stoppuhr in ihrer Hand die Lippen missbilligend zu einem schmalen Strich verzog.

Das Ticken des Sekundenzeigers hallte in Samanthas Kopf wider. Sie zwang sich, noch schneller zu rennen. Die Sehnen in ihren Beinen waren zum Reißen gespannt. Die Hornissen schwärmten in ihre Lungen. Der Plastikstab in ihrer Hand fühlte sich glitschig an.

Noch zwanzig Meter. Fünfzehn. Zehn.

Charlotte nahm ihre Position ein, sie drehte Samantha den Rücken zu, blickte geradeaus und lief los. Den rechten Arm streckte sie blind nach hinten aus und wartete darauf, dass ihr der Staffelstab in die Handfläche geklatscht wurde, damit sie das nächste Teilstück laufen konnte.

Das war die blinde Übergabe, sie erforderte Vertrauen und Koordination, und wie bei allen Versuchen in der letzten Stunde, waren sie beide der Herausforderung nicht gewachsen. Charlotte zögerte und warf einen Blick über die Schulter. Samantha machte einen Satz nach vorn. Der Plastikstab knallte oberhalb von Charlottes Handgelenk auf ihren Unterarm, genau auf die roten Striemen, die von den letzten zwanzig Versuchen herrührten.

Charlotte schrie auf. Samantha stolperte. Der Stab fiel zu Boden. Gamma stieß einen lauten Fluch aus.

„So, mir reicht es.“ Gamma steckte die Stoppuhr in die Brusttasche ihres Overalls. Sie stapfte zum Haus, die Sohlen ihrer nackten Füße waren gerötet vom kahlen Boden des Hofs.

Charlotte rieb sich das Handgelenk. „Arschloch.“

„Blöde Kuh.“ Samantha versuchte ihre bebenden Lungen mit Luft zu füllen. „Du sollst doch nicht nach hinten schauen!“

„Und du sollst mir nicht den Arm wund prügeln.“

„Es heißt blinde Übergabe, nicht Hosenscheißer-Übergabe.“

Die Küchentür fiel krachend ins Schloss. Die beiden sahen zu dem hundert Jahre alten Farmhaus hinauf, das ein unförmig wucherndes, tristes Denkmal für die Zeit vor zugelassenen Architekten und Baugenehmigungen war. Das Licht der untergehenden Sonne trug nichts dazu bei, den seltsamen Eindruck abzumildern. Über die Jahre war nicht viel mehr weiße Farbe aufgetragen worden als unbedingt nötig. Schlaffe Spitzenvorhänge hingen in den verschmierten Fenstern. Über ein Jahrhundert von Sonnenaufgängen über dem nördlichen Georgia hatte die Eingangstür zu einem fahlen Treibholzgrau gebleicht. Das Dach hing durch, quasi ein Symbol für die Last, die das Haus nun, nach dem Einzug der Quinns, zu tragen hatte.

Zwei Jahre und eine lebenslange Zwietracht trennten Samantha von ihrer dreizehnjährigen kleinen Schwester, aber sie wusste, dass sie zumindest in diesem Moment beide das Gleiche dachten: Ich will nach Hause.

Zu Hause war eine mit roten Ziegeln verkleidete Ranch, die an der Stadt gelegen war. Zu Hause, das waren ihre Kinderzimmer, die sie mit Postern, Aufklebern und, in Charlottes Fall, mit grünem Magic Marker verziert hatten. Ihr Zuhause hatte eine gepflegte Rasenfläche als Vorgarten, kein kahles, von Hühnern aufgescharrtes Fleckchen Erde mit einer fast siebzig Meter langen Zufahrt, damit man sah, wer sich dem Haus nähert.

Niemand von ihnen hatte gesehen, wer sich dem roten Ziegelhaus genähert hatte.

Erst acht Tage waren vergangen, seit ihr Leben zerstört worden war, aber es fühlte sich an wie eine Ewigkeit. An jenem Abend waren Gamma, Samantha und Charlotte zu einem Leichtathletik-Wettkampf in die Schule gegangen. Ihr Vater war auf der Arbeit gewesen, denn Rusty war immer auf der Arbeit.

Später erinnerte sich ein Nachbar an einen fremden schwarzen Wagen, der langsam die Straße hinauffuhr, aber niemand hatte den Molotow-Cocktail durch das Erkerfenster des roten Ziegelhauses fliegen sehen. Niemand hatte beobachtet, wie der Rauch unter der Traufe hervorquoll und die Flammen am Dach züngelten. Als endlich jemand Alarm schlug, war das rote Ziegelhaus nur mehr eine schwelende schwarze Ruine.

Kleidung. Poster. Tagebücher. Stofftiere. Hausaufgaben. Bücher. Zwei Goldfische. Ausgefallene Milchzähne. Geburtstagsgeld. Geklaute Lippenstifte. Heimlich gebunkerte Zigaretten. Hochzeitfotos. Babyfotos. Die Lederjacke eines Jungen. Ein Liebesbrief desselben Jungen. Mixtapes. CDs und ein Computer und ein Fernseher und ein Zuhause.

„Charlie!“ Gamma stand vor der Küchentür, die Hände in die Hüften gestemmt. „Komm und deck den Tisch.“

Charlotte drehte sich zu Samantha um und sagte: „Letztes Wort!“, bevor sie in Richtung Haus trabte.

„So ein Quatsch“, murmelte Samantha. Man behielt nicht das letzte Wort, indem man einfach „letztes Wort“ sagte.

Dann folgte sie ihrer Schwester langsamer und auf gummiweichen Beinen, denn sie war schließlich nicht der Trottel, der es nicht schaffte, die Hand nach hinten zu strecken und zu warten, bis einem dieser Stab hineingeklatscht wurde. Sie verstand nicht, warum Charlotte diese simple Übergabe einfach nicht lernte.

Samantha ließ ihre Schuhe und Socken neben denen von Charlotte auf dem Absatz vor der Küchentür zurück. Die Luft im Haus war klamm und schien zu stehen. Ungeliebt war das erste Adjektiv, das Samantha in den Sinn kam, als sie durch die Tür ging. Der frühere Bewohner, ein sechsundneunzigjähriger Junggeselle, war letztes Jahr in dem Schlafzimmer im Erdgeschoss gestorben. Ein Freund ihres Vaters ließ sie vorübergehend in dem Farmhaus wohnen, bis mit der Versicherung alles geklärt war. Falls alles geklärt wurde. Offenbar gab es Meinungsverschiedenheiten darüber, inwieweit das Verhalten ihres Vaters die Brandstiftung provoziert hatte.

Im Gerichtssaal der öffentlichen Meinung war das Urteil bereits gefällt worden, und wahrscheinlich hatte der Besitzer des Motels, in dem sie die letzte Woche verbracht hatten, sie aus diesem Grund aufgefordert, sich eine neue Bleibe zu suchen.

Samantha knallte die Küchentür zu, denn nur so konnte man sicher sein, dass sie auch wirklich geschlossen war. Ein Topf mit Wasser stand auf dem olivgrünen Herd. Eine Packung Spaghetti lag ungeöffnet auf der braunen Laminatarbeitsfläche. Die Küche wirkte stickig und feucht, der ungeliebteste Raum im ganzen Haus. Nicht ein Gegenstand harmonierte mit dem anderen. Der altertümliche Kühlschrank furzte jedes Mal, wenn man die Tür aufmachte. Ein Eimer unter der Spüle wackelte ganz von allein. Um den billigen Tisch standen lauter Stühle, die nicht zusammenpassten. Weiße Stellen auf den uneben verputzten Wänden zeigten, wo früher Fotos gehangen hatten.

Charlotte streckte die Zunge heraus, während sie Pappteller auf den Tisch segeln ließ. Samantha nahm eine Plastikgabel und schnippte sie ihrer Schwester ins Gesicht.

Charlotte stieß einen überraschten Laut aus, aber nicht aus Empörung. Die Gabel hatte sich elegant in der Luft überschlagen und war genau zwischen ihren Lippen gelandet. „Wahnsinn, das war ja abgefahren!“ Sie nahm sie aus dem Mund und hielt sie ihrer Schwester hin. „Ich mach den Abwasch, wenn du das noch mal schaffst.“

Samantha konterte: „Wenn du sie mir nur ein einziges Mal in den Mund wirfst, spüle ich eine Woche lang ab.“

Charlotte kniff ein Auge zu und zielte. Samantha versuchte nicht daran zu denken, wie doof es war, sich von ihrer kleinen Schwester eine Gabel ins Gesicht werfen zu lassen, aber im nächsten Moment kam Gamma mit einem großen Pappkarton zur Tür herein.

„Charlie, wirf nicht mit Gegenständen nach deiner Schwester. Sam, hilf mir diese Bratpfanne suchen, die ich neulich gekauft habe.“ Gamma stellte den Karton auf dem Tisch ab. Er war beschriftet mit ALLES FÜR 1 $. Dutzende von nur teilweise ausgepackten Kartons waren über das Haus verteilt. Sie bildeten ein Labyrinth in allen Zimmern und Fluren und waren gefüllt mit Sachen aus dem Secondhand-Laden, die Gamma für einen Apfel und ein Ei gekauft hatte.

„Überlegt mal, wie viel Geld wir sparen“, hatte sie verkündet und ein ausgewaschenes lila T-Shirt in die Höhe gehalten, dessen Aufdruck die Church Lady aus Saturday Night Live zitierte: Na, wenn DAS nichts Besonderes ist!

Jedenfalls glaubte Samantha, dass das auf dem Shirt stand. Sie hatte sich mit Charlotte in der Ecke versteckt und wäre fast gestorben vor Scham, weil sie die Sachen anderer Leute tragen sollte. Die Socken anderer Leute. Sogar die Unterwäsche anderer Leute, ehe ihr Vater zum Glück ein Machtwort gesprochen hatte.

„Herrgott noch mal!“, hatte Rusty Gamma angeschrien. „Warum nähst du uns nicht gleich in Sackleinen ein und fertig?“

Worauf Gamma vor Wut schäumend zurückgeschrien hatte: „Jetzt soll ich also auch noch Nähen...