Der englische Spion - Thriller

Der englische Spion - Thriller

von: Daniel Silva

HarperCollins, 2016

ISBN: 9783959676045 , 512 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: DRM

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Preis: 8,99 EUR

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Der englische Spion - Thriller


 

1


GUSTAVIA, SAINT-BARTHÉLEMY


Nichts von alledem wäre passiert, hätte Spider Barnes sich nicht zwei Abende vor dem Auslaufen der Aurora im Eddy’s betrunken. Spider galt als der beste Schiffskoch der gesamten Karibik, cholerisch, aber unersetzlich, ein verrücktes Genie in weißer Jacke und Schürze. Spider, müssen Sie wissen, hatte eine klassische Ausbildung. Spider hatte einige Zeit in Paris gearbeitet. Spider war in London gewesen. Spider hatte New York, San Francisco und einen unglücklichen Zwischenstopp in Miami absolviert, bevor er endgültig aus dem Restaurantgeschäft ausgestiegen war, um die Freiheit der Meere zu genießen. Jetzt arbeitete er auf den großen Charterjachten, wie sie Filmstars, Rapper, Moguln und Angeber charterten, wenn sie imponieren wollten. Und wenn Spider nicht an seinem Herd stand, war er unweigerlich auf einem der besseren Barhocker an Land anzutreffen. Das Eddy’s gehörte zu seinen Top Five im Karibischen Meer, vielleicht zu seinen Top Five weltweit. Er begann den Abend um sieben Uhr mit ein paar Bieren, zog sich um neun Uhr in dem schattigen Garten einen Joint rein und starrte um zehn Uhr grübelnd in sein erstes Glas Vanille-Rum. Mit der Welt schien alles in Ordnung zu sein. Spider war angetrunken und im Paradies.

Dann entdeckte er jedoch Veronica, und der Abend nahm eine gefährliche Wendung. Sie war neu auf der Insel, eine junge Frau, die sich hierher verirrt hatte, eine Europäerin ungewisser Herkunft, die in der Kneipe nebenan Tagesausflüglern Drinks servierte. Aber sie war hübsch – hübsch wie ein Blumenbouquet, bemerkte Spider seinem unbekannten Saufkumpan gegenüber –, und er verlor sein Herz in nur zehn Sekunden an sie. Er hielt um ihre Hand an, was seine bevorzugte Anmache war, und als sie ihn abwies, schlug er ihr stattdessen vor, mit ihm ins Bett zu gehen. Irgendwie hatte er damit Erfolg, und die beiden wurden gesehen, als sie gegen Mitternacht in einen tropischen Wolkenbruch hinaustorkelten. Und dies war das letzte Mal, dass jemand ihn zu sehen bekam: um 0.03 Uhr in einer regnerischen Nacht in Gustavia, nass bis auf die Haut, betrunken und mal wieder verliebt.

Der Skipper der Aurora, einer 47 Meter langen Jacht aus Nassau auf den Bahamas, war ein Mann namens Ogilvy: Reginald Ogilvy, ehemals Royal Navy, ein gütiger Tyrann, auf dessen Nachttisch ein Exemplar des Betriebshandbuchs neben der King-James-Bibel seines Großvaters lag. Er hatte sich nie viel aus Spider Barnes gemacht – aber nie weniger als am folgenden Morgen, als Spider nicht zu der für neun Uhr angesetzten Besprechung von Besatzung und Kabinenpersonal erschien. Dies war keine Routinebesprechung, denn die Aurora wurde auf einen Törn mit einer prominenten Persönlichkeit vorbereitet, deren Identität nur Ogilvy kannte. Er wusste auch, dass zu ihrem Gefolge zwei Leibwächter gehören würden – und dass sie gelinde ausgedrückt anspruchsvoll war, was seine Besorgnis wegen der Abwesenheit seines berühmten Kochs erklärte.

Kapitän Ogilvy informierte den Hafenmeister in Gustavia über die Situation, und der Hafenmeister informierte pflichtgemäß die örtliche Gendarmerie. Zwei Beamte klopften an die Tür von Veronicas Häuschen in den Hügeln, aber auch sie schien spurlos verschwunden zu sein. Als Nächstes suchten sie die Handvoll Orte auf der Insel ab, an denen Betrunkene oder Verzweifelte nach einer Nacht voller Ausschweifungen gewöhnlich strandeten. Ein rotgesichtiger Schwede in Le Select behauptete, Spider an diesem Morgen ein Heineken gezahlt zu haben. Jemand anderer wollte ihn als Strandläufer in Colombier gesehen haben, und es gab einen Bericht – der allerdings nie bestätigt wurde –, in der Wildnis von Toiny habe eine untröstliche Kreatur den Mond angeheult.

Die Gendarmen gingen pflichtbewusst allen Hinweisen nach. Dann suchten sie die Insel von Nord nach Süd, von der Luv- bis zur Leeseite ab, ohne fündig zu werden. Kurz nach Sonnenuntergang trommelte Reginald Ogilvy die Besatzung der Aurora zusammen und teilte ihr mit, Spider Barnes sei verschwunden und müsse schnellstens durch einen geeigneten Mann ersetzt werden. Die Besatzungsmitglieder schwärmten über die Insel aus, suchten in den Hafenrestaurants von Gustavia und fahndeten in den Strandhütten am Grand Cul-de-Sac. Und um neun Uhr abends entdeckten sie an einem ganz unwahrscheinlichen Ort den richtigen Mann.

Er war mitten in der Hurrikansaison auf die Insel gekommen und hatte in Lorient das kleine Holzhaus am Ende der Bucht bezogen. Sein gesamter Besitz bestand aus einem Seesack, einem Stapel Bücher, einem Kurzwellenempfänger und einem klapprigen Motorroller, den er in Gustavia für ein paar Euro und ein Lächeln erstanden hatte. Die Bücher waren dick, gewichtig und gelehrt; das Radio war von einer Qualität, die heutzutage selten geworden war. Saß er spätabends auf seiner baufälligen Veranda und las im Licht einer Petroleumlampe, übertönte Musik das Rascheln der Palmwedel und den Wellenschlag der harmlosen Brandung. Vor allem Jazz und Klassik, manchmal etwas Reggae von Sendern jenseits des Wassers. Immer zur vollen Stunde ließ er sein Buch sinken und hörte aufmerksam die BBC-Nachrichten. Anschließend durchsuchte er die Ätherwellen wieder nach etwas, das ihm gefiel, und bald pulsierten Palmen und Brandung wieder im Rhythmus seiner Musik.

Anfangs war unklar, ob er hier Urlaub machte, auf der Durchreise war, sich versteckt hielt oder die Absicht hatte, auf der Insel sesshaft zu werden. Geld schien keine Rolle zu spielen. Wenn er morgens in die Boulangerie kam, um Brot zu essen und einen Kaffee zu trinken, gab er den Mädchen immer reichlich Trinkgeld. Und wenn er nachmittags in dem kleinen Supermarkt beim Friedhof deutsches Bier und amerikanische Zigaretten kaufte, machte er sich nie die Mühe, das Kleingeld mitzunehmen, das die Registrierkasse automatisch ausspuckte. Sein Französisch war einigermaßen gut, aber er sprach mit einem Akzent, den niemand recht einordnen konnte. Sprach er mit dem Dominikaner, der im JoJo Burger hinter der Theke stand, war sein Spanisch viel besser, aber der Akzent blieb. Die Mädchen in der Boulangerie hielten ihn für einen Australier, aber die Jungs im JoJo Burger tippten auf einen Südafrikaner. Die waren in der gesamten Karibik anzutreffen. Die meisten waren anständige Leute, aber manche von ihnen hatten geschäftliche Interessen, die nichts weniger als illegal waren.

Seine Tage verbrachte er ohne bestimmten Plan, aber doch mit gewisser Regelmäßigkeit. Er frühstückte in der Boulangerie, kaufte am Kiosk in Saint-Jean einen Tag alte englische und amerikanische Zeitungen, joggte ausdauernd am Strand und las unter einem tief ins Gesicht gezogenen Sonnenhut seine dicken Werke über Literatur und Geschichte. Und einmal charterte er ein Angelboot und verbrachte den Nachmittag damit, vor der kleinen Insel Tortu zu schnorcheln. Aber seine Untätigkeit schien nicht freiwillig, sondern erzwungen zu sein. Er wirkte wie ein verwundeter Soldat, der sich danach sehnt, aufs Schlachtfeld zurückzukehren, wie ein im Exil Lebender, der von seiner verlorenen Heimat träumte, wo immer sie liegen mochte.

Wie Jean-Marc Andrée, Zollbeamter am Flughafen, zu berichten wusste, war er aus Guadeloupe kommend mit einem gültigen venezolanischen Pass eingereist, der auf den seltsamen Namen Colin Hernandez ausgestellt war. Offenbar war er das Produkt einer kurzen Ehe zwischen einer anglo-irischen Mutter und einem spanischen Vater. Die Mutter hatte sich als Dichterin geriert; der Vater war in irgendwelche dunklen Geschäfte verwickelt gewesen. Seinen Alten hatte Colin gehasst, aber von seiner Mutter redete er, als sei ihre Heiligsprechung nur noch eine Formsache. Ihr Foto steckte in seiner Geldbörse. Der schwarz gelockte Junge auf ihren Knien sah Colin nicht sehr ähnlich, aber das war dem Lauf der Zeit geschuldet.

In dem Reisepass war sein Alter mit 38 Jahren angegeben, was ungefähr zu stimmen schien, und sein Beruf als „Geschäftsmann“, was so ziemlich alles heißen konnte. Die Mädchen in der Boulangerie vermuteten, er sei ein Schriftsteller auf der Suche nach einer Inspiration. Wie sollte man sonst die Tatsache erklären, dass er fast nie ohne ein Buch anzutreffen war? Aber die Mädchen im Supermarkt stellten die wilde, durch nichts bewiesene Theorie auf, er habe auf Guadeloupe einen Mann ermordet und warte hier auf Saint-Barthélemy den Sturm ab. Der Dominikaner aus dem JoJo Burger, der sich selbst versteckt hielt, fand diese Hypothese lachhaft. Colin Hernandez, behauptete er, sei nur ein weiterer antriebsloser Tagedieb, der von dem Erbe seines Vaters, den er hasste, recht angenehm lebte. Er würde bleiben, bis er sich zu langweilen begann oder seine finanziellen Reserven dahinschmolzen. Dann würde er anderswo hinfliegen, und sie würden zwei, drei Tage später Mühe haben, sich an seinen Namen zu erinnern.

Eines Tages, exakt einen Monat nach seiner Ankunft, kam es zu einer kleinen Veränderung seiner Routine. Nachdem er im JoJo Burger zu Mittag gegessen hatte, ging er in Saint-Jean zum Friseur, und als er den Salon verließ, war seine zottige schwarze Mähne gekürzt, modisch gestylt und frisiert. Als er am Morgen darauf in der Boulangerie erschien, war er frisch rasiert und trug zu seiner Kakihose ein blütenweißes Hemd. Er aß sein gewohntes Frühstück – zwei Scheiben grobes Landbrot mit Butter zu einer großen Schale Milchkaffee – und studierte dabei die Londoner Times vom Vortag. Statt dann wieder nach Hause zu fahren, setzte er sich auf seinen Motorroller und raste nach Gustavia hinein. Und spätestens gegen Mittag wurde endlich klar, wozu der Mann namens Colin Hernandez nach Saint-Barthélemy gekommen war.

Als Erstes sprach er in dem luxuriösen alten Hotel Carl Gustaf vor, dessen...