Erst lesen. Dann schreiben - 22 Autoren und ihre Lehrmeister -

von: Olaf Kutzmutz, Stephan Porombka

Luchterhand Literaturverlag, 2009

ISBN: 9783641016883 , 272 Seiten

Format: ePUB, OL

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 8,99 EUR

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Erst lesen. Dann schreiben - 22 Autoren und ihre Lehrmeister -


 

John von Düffel (S. 87-88)

Der magische Realist Joseph Conrad: Herz der Finsternis [1902] Joseph Conrad gehört zu den Autoren, die mir mein Vater empfohlen hat, deswegen habe ich lange Zeit einen Bogen um ihn gemacht. Seine berühmteste Erzählung Herz der Finsternis – Vorbild für so legendäre Filme wie Apocalypse Now von Francis Ford Coppola – habe ich erst vor wenigen Jahren in New York zur Hand genommen. Aus irgendeinem Grund glaubte ich, dass die Zeit reif sei für diese Geschichte, dass sie jetzt in mein Leben passte. Zum größten Teil habe ich sie in der New Yorker U-Bahn gelesen. Vielleicht tut das etwas zur Sache, vielleicht auch nicht.

Was ihre Entstehung angeht, könnte man lange darüber spekulieren, wie viel der Autor von seiner eigenen verhängnisvollen Kongo-Fahrt in dieser Geschichte verarbeitet hat. Joseph Conrad war Seemann, heuerte schon mit achtzehn Jahren bei der französischen Handelsmarine an und wechselte wenig später in die Dienste der Briten. Fast zwanzig Jahre war er auf den Weltmeeren unterwegs, bevor er sich als Schriftsteller in Südengland niederließ.

Wie so viele Autoren wurde auch er oft auf das Autobiographische reduziert. Hier ist einer zur See gefahren und schreibt Seefahrer- Romane. Hier hat jemand an vielen Expeditionen in die entlegensten Winkel des Kolonialismus teilgenommen und erzählt davon. Man glaubt diesem Mann seine Geschich ten. Aber man vergisst darüber leicht den Schriftsteller Joseph Conrad. Dabei ist schon allein dieser Autor eine Fiktion. Joseph Conrad ist Pole, mit wirklichem Namen Józef Teodor Konrad Nalecz Korzeniowski, Sohn eines verarmten polnischen Landadeligen mit musischen Neigungen, der als Gutsverwalter versagte und aufgrund seiner patriotischen Pamphlete von den Russen in die Verbannung geschickt wurde.

Seine Mutter starb früh an Tuberkulose, sein Vater siechte dahin. Vormund und Mentor wurde sein Onkel, Tadeusz Bobrowski, ein Mann mit festen Grundsätzen und viel Übersicht, der den jungen Józef jedoch nicht halten konnte. Mit siebzehn brach er die Schule ab und verließ das Land, um sich zu erfinden. In das Bild des autobiographischen Abenteuerschriftstellers passt nicht, dass Joseph Conrad in einer Fremdsprache schrieb, die er erst spät – im Alter von fast zwanzig Jahren – zu sprechen gelernt hat. Jedes Wort in einer solchen Sprache ist eine bewusste Entscheidung, das Ergebnis einer Suche und Auswahl.

Nichts ist unbefragte Natur, angeborene, unreflektiert übernommene Rede. Selbstverständlich war Englisch die Verkehrssprache auf den Schiffen, auf denen Conrad arbeitete. Viele seine Erfahrungen hat er in und mit dieser Sprache gemacht. Und möglicherweise hat er irgendwann auch angefangen, in dieser Sprache zu träumen. Doch man darf sich keinen Illusionen darüber hingeben, wie damals auf See gesprochen wurde. Die Währung der Verständigung war eine abgegriffene, sparsame. Sie ähnelte in nichts dem Reichtum und der Tiefe der Beschreibungen, für die Conrad berühmt geworden ist.