Das Gold des Meeres - Historischer Roman

von: Daniel Wolf

Goldmann, 2016

ISBN: 9783641166465 , 672 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Das Gold des Meeres - Historischer Roman


 

Prolog

Mai 1256

Balian dankte Gott und allen Heiligen, als er in London von Bord ging. Die Überfahrt von Calais hatte wegen des flauen Windes ewig gedauert, und sein Bruder und er auf einem beengten Schiff – das ging nicht lange gut. Viel hatte nicht gefehlt, dass einer den anderen ins Meer geworfen hätte.

Endlich wieder festen Boden unter den Füßen. Balian atmete tief durch und roch den Gestank der riesigen Stadt, betrachtete das Gewirr aus Gassen und Hütten, das sich jenseits der Kais erstreckte. Ihr Schiff lag am Hafen von Billingsgate, das schmutzige Wasser der Themse umspülte den Rumpf. Es wirkte klein und bescheiden gegen die beiden bauchigen Koggen zu ihrer Rechten, doch für ihre Zwecke genügte es. Die Knechte brachten soeben die Wagen an Land und spannten die Ochsen vor. Hafenarbeiter löschten die Ladung: Tuchballen und Moselweine, vor allem aber das begehrte Salz aus ihrer Heimatstadt Varennes-Saint-Jacques im fernen Lothringen.

Michel dirigierte die Männer mit befehlsgewohnter Stimme. Immer selbstbewusst, niemals unsicher, dachte Balian missmutig und wünschte, er könnte genauso souverän auftreten wie sein älterer Bruder. Auf Michel hörten die Leute, sie hingen geradezu an seinen Lippen. Wenn dagegen Balian etwas sagte, wurde es meist belächelt. Er war das schwarze Schaf der Familie Fleury, ein Versager und Tunichtgut, das ließ man ihn bei jeder Gelegenheit spüren.

»Balian!« Sein Bruder rief nach ihm.

Balian sah, dass soeben Clément Travère von Bord ging. Ihr Schwager, der Gemahl seiner Zwillingsschwester Blanche, war Michels fattore und unternahm normalerweise die Handelsfahrten, während Michel das Familiengeschäft von der heimischen Schreibstube aus leitete. Diesmal war Michel ausnahmsweise mitgekommen, denn wichtige Geschäfte standen an.

Die Hand auf dem Schwertknauf, schritt Balian zu den beiden Männern.

»Ich habe alles überprüft«, berichtete Clément. »Die gesamte Ware ist draußen.«

»Gut«, sagte Michel. »Wir gehen heute nicht auf den Markt, das lohnt sich nicht mehr. Wir bringen die Ware zur Guildhall und gehen morgen in aller Frühe. Einverstanden?«

»Das erscheint mir sinnvoll«, antwortete Clément.

»Da kommt der Büttel des Sheriffs. Wo habe ich denn die Privilegienbriefe …? Ah, hier.« Michel förderte ein Bündel Pergamente zutage.

Balian überließ ihn seinen höchst wichtigen Aufgaben und half den Knechten, die Fässer und Tuchballen auf den Wagen zu verstauen. Körperliche Arbeit zog er stets den lästigen Pflichten eines Kaufmanns vor. Das Schachern mit Vertretern der Obrigkeit war ihm ein Graus, ganz im Gegensatz zu Michel, der beim Verhandeln in seinem Element war.

Balian dachte oft darüber nach, wieso Gott ihre Talente so ungleich verteilt hatte. Michel kam ganz nach ihrem legendären Großvater. Seit er das Familiengeschäft von ihrer greisen Großmutter übernommen hatte, führte er es mit Umsicht und Geschick. Obwohl erst achtundzwanzig Jahre alt, galt er bereits als einer der besten Kaufleute Varennes’. Niemand zweifelte daran, dass er einmal Großes vollbringen würde. Und die Frauen – sie lagen ihm zu Füßen. Trotzdem hatte er bisher nicht geheiratet. Michel schätzte seine Freiheit.

Balian hingegen lag niemand zu Füßen. Alles an ihm war mittelmäßig – seine Intelligenz, seine kaufmännische Befähigung, sogar sein Aussehen, denn Blanche hatte die ganze Schönheit ihrer Mutter geerbt, sodass für ihn nicht allzu viel übrig geblieben war. Kupferfarbenes, kinnlanges Haar, das er meist hinter die Ohren strich; leidlich breite Schultern und ein Allerweltsgesicht, das man rasch vergaß – das war Balian der Gewöhnliche. Manchmal wünschte er, er könnte seinen mit zahllosen Gaben gesegneten Bruder hassen. Aber natürlich tat er das nicht. Er liebte Michel. Jeder liebte Michel.

Oh, er hatte gegen sein Schicksal aufbegehrt, immer wieder – zuletzt im vergangenen Winter, als er mit König Wilhelm von Holland gegen die rebellischen Friesen gezogen war. Die kaufmännische Arbeit langweilte ihn, er träumte davon, Abenteuer zu bestehen und Ritter zu werden wie sein Großonkel mütterlicherseits. Seit seiner Jugend übte er sich an den Waffen. Ein Krieg war die Chance, sich zu bewähren, Ruhm zu ernten … hatte er gedacht. Tatsächlich aber hatte sich der Feldzug als katastrophaler Fehlschlag erwiesen. Bevor der König die Friesen bezwingen konnte, brach er mit seinem Pferd im Eis ein, schwamm hilflos im Wasser und wurde von feindlichen Kriegern erschlagen. Wilhelms Heer löste sich auf, die Männer zogen heim. Ein erbärmliches Ende für einen Krieg. Wenig überraschend wurde Balian in Varennes nicht als Held gefeiert – nein, man lachte über ihn, schmähte ihn als Verlierer und nahm ihn als Kaufmann nicht mehr ernst.

Schluss mit dem Selbstmitleid, schalt er sich. Sein Traum war geplatzt, er würde niemals Ritter werden – höchste Zeit, dass er sich damit abfand. War er eben Kaufmann, na und? Das Leben konnte er trotzdem genießen. Immerhin war er jetzt in London, der großartigsten Stadt, die er kannte. Balian war entschlossen, jeden Moment seines Aufenthaltes auszukosten.

Als er das letzte Fass auf den Wagen wuchtete, hörte er, dass der Wortwechsel zwischen Michel und dem Büttel hitziger wurde.

Balian trat zu ihnen. »Stimmt etwas nicht?«

»Er verwehrt uns unsere Handelsprivilegien«, empörte sich Michel. »Dabei haben wir sie schwarz auf weiß!«

Seit die Lothringer häufiger in England Handel trieben, hatte König Henry sie in den wichtigsten Küstenstädten von den Hafengebühren befreit. Michel besaß eine Abschrift des Privilegs. Leider schützten auch königliche Urkunden nicht immer vor der Willkür der Obrigkeit. Dass man ihnen in der Fremde ihre Rechte verwehrte, geschah wahrlich nicht zum ersten Mal.

Michel wedelte mit dem Pergament. »Er behauptet, der Brief sei eine Fälschung. Ist das zu fassen?«

»Soll ich mit ihm reden?«, schlug Balian vor.

»Sag ihm, dass wir keinen Pfennig bezahlen! Dass wir uns beim König beschweren, wenn er nicht einlenkt!«

Balian nahm die Urkunde an sich und wandte sich an den Büttel. Er konnte wesentlich besser Englisch als Michel und Clément, denn er hatte eine Begabung für Sprachen – eine der wenigen Fähigkeiten, die er seinem Bruder voraushatte. Er hatte Englisch bei ihren vergangenen Reisen nach London gelernt. Da die Sprache mit dem Deutschen verwandt war und viele französische Ausdrücke enthielt, hatte er nicht lange dafür gebraucht.

»Euer König hat uns von den Gebühren am Billingsgate befreit«, erklärte Balian dem Büttel geduldig. »Seht – hier steht es. Es ist keine Fälschung, mein Wort darauf.«

Der städtische Amtmann grinste verschlagen. »Ist mir egal, was da steht, doche. Die Gebühren gelten für alle. Auch für euch.«

Die beiden Bewaffneten hinter ihm stierten Balian an und schienen nur auf einen Anlass zu warten, die Schwerter zu ziehen.

»Das verstößt gegen königliches Recht.«

»Ich bin das königliche Recht am Billingsgate. Ich kann dich einfach so in den Tower werfen lassen, doche – und weißt du auch, warum? Weil mir dein Gesicht nicht gefällt. Jetzt zahlt, oder ihr lernt mich kennen.«

»Und wenn wir uns weigern?«

»Beschlagnahme ich eure Ware und führe euch dem Sheriff vor.«

»Aussichtslos«, wandte sich Balian an seinen Bruder. »Es ist besser, wir zahlen.«

»So schnell gibst du auf?«, schnappte Michel. »Du hast es doch noch gar nicht richtig versucht! Du musst ihm drohen, damit ihm die Frechheit vergeht.«

Natürlich – wenn etwas schiefging, war der Fehler stets bei ihm zu suchen. Doch Balian zwang sich, ruhig zu bleiben. »Es hat keinen Zweck. Schau dir den Kerl doch an. Er ist korrupt. Und ich habe keine Lust, die Nacht im Tower zu verbringen.«

Fluchend zählte Michel die Münzen ab und drückte sie dem Büttel in die Hand. Der verneigte sich spöttisch.

»Habt Dank, Ihr Herren, und herzlich willkommen in London. Ich wünsch Euch gute Geschäfte.« Mit diesen Worten stolzierte er davon.

»Das fängt ja gut an«, murmelte Clément.

Michel starrte dem Büttel finster nach. »Fahren wir zur Guildhall.« Er spuckte aus und kletterte auf den Wagen.

Die Guildhall war ein befestigter Handelshof am Ufer der Themse, nicht weit vom Billingsgate entfernt, jenseits der London Bridge mit ihren stinkenden Fischmärkten. Kaufleute aus Köln, die regelmäßig nach London kamen, hatten das Haus im vergangenen Jahrhundert erworben, als Stützpunkt für ihre Geschäfte auf der Insel. Inzwischen wurde es auch von der mächtigen Gotländischen Genossenschaft und anderen Englandfahrern aus dem Heiligen Römischen Reich genutzt. Ein festes Tor und hohe Mauern schützten die Kaufleute vor dem Stadtvolk, das den Ausländern ihre zahlreichen Privilegien neidete und schon manches Mal versucht hatte, sie aus London zu verjagen.

Zurzeit war in der Guildhall nicht viel los. Einige Kaufleute aus dem Rheinland und aus Bremen weilten gerade in dem Handelshof, doch sie blieben unter sich und wohnten in einem eigenen Gebäude. Nachdem Balian und seine Begleiter die Wagen untergestellt hatten, quartierten sie sich in einem der Häuser ein. Den Schlafsaal hatten sie ganz für sich. Eine Wohltat nach der Enge des Schiffes.

Die Strapazen der langen Reise steckten ihnen in den Gliedern, weshalb sie früh zu Bett gingen. Ehe Clément das Licht löschte, kniete er neben dem Schlaflager nieder und hielt...