Der Herr des Turmes - Rabenschatten 2

von: Anthony Ryan

Klett-Cotta, 2015

ISBN: 9783608108378 , 859 Seiten

5. Auflage

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

Windows PC,Mac OSX geeignet für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones

Preis: 9,99 EUR

Mehr zum Inhalt

Der Herr des Turmes - Rabenschatten 2


 

VERNIERS’ BERICHT


Meine Kindheit und Jugend habe ich in großem Wohlstand verbracht. Entschuldigen werde ich mich dafür nicht, denn schließlich hat man keinen Einfluss darauf, von wem man abstammt. Ich bedaure es auch nicht, im Überfluss gelebt zu haben, umgeben von Dienern und vortrefflichen Hauslehrern, die meine Neugier nährten und meine Begabungen förderten. Aus meiner Jugend weiß ich keine Geschichten von Mühsal und Entbehrung zu erzählen, keine Epen über das Ringen mit der Ungerechtigkeit des Lebens. Ich wurde in eine Familie von edler Abstammung und beträchtlichem Reichtum hineingeboren, habe eine außergewöhnliche Erziehung genossen und wurde schließlich, dank der Verbindungen meines Vaters, bei Hofe in Dienst genommen. Auch wenn treuen Lesern durchaus bekannt sein wird, dass mein Leben nicht völlig frei von Kummer und Leid war, habe ich in den sechsunddreißig Jahren, welche den Ereignissen vorausgingen, die hier geschildert werden, nie auch nur einen Tag körperlicher Strapazen gekannt. Hätte ich allerdings geahnt, dass meine Reise in die Königslande, wo ich meine Arbeit an einer vollständigen und vorurteilsfreien Geschichte dieses schrecklichen, wenngleich faszinierenden Reiches zu beginnen gedachte, mich mit mühevoller Arbeit, Erniedrigung und Folter bekannt machen würde, so wäre ich freudig über Bord gesprungen und hätte mich nach Kräften bemüht, die riesigen Gewässer, in denen es vor Haien nur so wimmelt, schwimmend zu überwinden, um nach Hause zurückzukehren. Mit Anbruch des Tages, an dem ich diese Geschichte zu erzählen beginne, hatte ich erfahren, was Schmerzen sind. Peitsche und Knüppel haben mich ihre Lektion gelehrt, und ich weiß, wie metallisch Blut schmeckt, wenn es einem aus dem Mund hervorschießt und Zähne und jeden Widerstandswillen mit sich fortreißt. Ich habe gelernt, was es heißt, ein Sklave zu sein. Als ein solcher wurde ich gerufen, denn ich war einer, und ungeachtet des ganzen Unfugs, den Ihr gehört oder gelesen haben mögt, war ich nie, zu keinem Zeitpunkt, ein Held.

Der volarianische General war jünger, als ich erwartet hatte, und seine Gattin – meine neue Besitzerin – desgleichen. »Wie ein Gelehrter sieht er nicht aus, mein Herz«, sagte er nachdenklich und musterte mich eingehend. »Dafür ist er ein wenig zu jung.« Er hatte sich, in rote und schwarze Seidengewänder gehüllt, auf einem Diwan niedergelassen, wie es sich für einen hochgeachteten Soldaten ziemte; seine Glieder waren wohlproportioniert, sein Körperbau athletisch. Auffallend war jedoch, dass die blasse Haut an seinen Armen und Beinen keinerlei Narben aufwies. Sogar sein Gesicht war glatt und makellos. Inzwischen bin ich zahllosen Kriegern unterschiedlicher Nationen begegnet, doch dieser war der erste, dem sein Beruf nicht anzusehen war.

»Scharfe Augen scheint er allerdings zu haben«, fuhr der General fort, als er meinen prüfenden Blick bemerkte. Sofort schlug ich die Augen nieder und machte mich auf den unvermeidlichen Schlag oder Peitschenhieb des Aufsehers gefasst. Am ersten Tag meiner Knechtschaft hatte ich miterlebt, wie ein gefangener Soldat des königlichen Heeres bestraft worden war, nur weil er einem untergeordneten Offizier der Freien Reiterei einen wütenden Blick zugeworfen hatte – erst war er bis aufs Blut ausgepeitscht worden, und dann hatte man ihm den Bauch aufgeschlitzt. Dies würde ich so schnell nicht vergessen.

»Hochverehrter Gatte«, sagte die Frau des Generals mit ihrer etwas schrillen, aber kultivierten Stimme. »Darf ich vorstellen? Verniers Alishe Someren, Erster der Gelehrten und kaiserlicher Geschichtsschreiber am Hofe seiner Hoheit Aluran Maxtor Selsus.«

»Ist er das wirklich, mein Herz?« Zum ersten Mal, seit ich diese vornehme Kajüte betreten hatte, schien das Interesse des Generals geweckt. Für eine Schiffskoje war das Gemach ungeheuer groß, ganz abgesehen von den teuren Teppichen und Wandbehängen, den mit Früchten und Wein überladenen Tischen. Wäre das sanfte Schaukeln des Kriegsschiffs nicht gewesen, hätte man sich in einem Palast wähnen können.

Der General erhob sich und kam auf mich zu, wobei er mein Gesicht genauer in Augenschein nahm. »Der Autor der Gesänge von Gold und Staub? Der Chronist des Großen Erlösungskrieges?« Er trat noch etwas näher und schnüffelte an mir. Seine Nasenflügel erbebten angewidert. »Ich finde, er riecht wie jeder andere alpiranische Hund. Und sein Blick ist bei weitem zu unverschämt.«

Er wich einige Schritte zurück und gab dem Aufseher ganz beiläufig ein Zeichen. Dieser versetzte mir den Hieb, den ich schon längst erwartet hatte, einen festen Schlag auf den Rücken, ausgeführt mit dem elfenbeinernen Peitschengriff, eine geübte, kaum wahrnehmbare Bewegung. Ich verbiss mir den Schmerzensschrei – ein Ausruf wurde als Rede gewertet, und wer ohne Aufforderung sprach, hatte den Tod zu gewärtigen.

»Mein Gatte, bitte!«, sagte die Frau des Generals in einer Anwandlung von Verärgerung. »Er war teuer.«

»Ach, das glaube ich wohl.« Der General streckte eine Hand aus, und in Windeseile kam ein Sklave herbei und füllte seinen Weinbecher. »Keine Sorge, verehrte Gattin. Ich werde darauf achten, dass sein Verstand und seine Hände unversehrt bleiben. Ohne sie taugt er nicht viel, oder? Nun denn, Schreiberling, wie kommt es, dass du dich in dieser von uns erst vor kurzem eroberten Provinz aufhältst?«

Ich antwortete schnell, während ich meine Schmerzenstränen fortblinzelte – wer zögerte, wurde umgehend bestraft. »Ich wollte Nachforschungen für ein neues Geschichtswerk anstellen, Herr.«

»Ausgezeichnet! Ich bin ein großer Bewunderer deiner Werke. Nicht wahr, mein Herz?«

»In der Tat, mein Gatte. Ihr seid selbst ein Gelehrter.« In ihrer Stimme schwang, als sie das Wort »Gelehrter« aussprach, ein merklicher Unterton mit. Hohn, wie mir bewusst wurde. Sie hat keinen Respekt vor diesem Mann. Und doch macht sie mich ihm zum Geschenk.

Es dauerte einen Moment, bevor der General weiterredete, und plötzlich klang er ein wenig gereizt. Ihm war die Beleidung nicht entgangen, doch er nahm sie hin. Wer hatte hier das Sagen?

»Und was war das Thema?«, wollte der General wissen. »Deines neuen Geschichtswerks?«

»Die Vereinigten Königslande, Herr.«

»Ah, dann haben wir dir ja einen Dienst erwiesen, nicht wahr?« Er kicherte, ganz entzückt über seinen eigenen Humor. »Schließlich haben wir dafür gesorgt, dass diese Geschichte ein Ende findet.«

Er lachte erneut, trank aus seinem Weinbecher und zog eine Augenbraue hoch. »Nicht übel. Schreib das auf, Sekretär.« Der glatzköpfige Sklave, der in einer Ecke gekauert hatte, trat vor, den Stift über dem Pergament erhoben. »Befehle an die Kundschafter: Die Weingüter sollen unangetastet bleiben und die Sklavenquoten in den Weinregionen halbiert werden. Schließlich wollen wir nicht, dass diese Fertigkeit in …« Er hielt inne und sah mich erwartungsvoll an.

»Cumbrael, Herr«, sagte ich.

»… in Cumbrael in Vergessenheit gerät. Nicht eben ein beeindruckender Name, wenn ich es mir recht überlege. Ich hätte gute Lust, dem Rat nach meiner Rückkehr vorzuschlagen, die Provinz umzubenennen.«

»Man muss dem Rat angehören, um ihm einen Vorschlag unterbreiten zu können, hochverehrter Gatte«, sagte seine Frau, dieses Mal ohne jede Geringschätzung. Mir entging jedoch nicht, wie der General seine wütenden Blicke hinter dem Weinbecher verbarg.

»Wo wäre ich, wenn Ihr mich nicht allzeit darauf hinweisen würdet, Fornella?«, murmelte er. »Nun denn, Geschichtsschreiber, wie geschah es, dass es uns vergönnt wurde, dich in unserer Familie willkommen zu heißen?«

»Ich war mit dem königlichen Heer unterwegs, Herr. König Malcius hatte mir die Erlaubnis erteilt, seine Soldaten bei ihrem Einsatz in Cumbrael zu begleiten.«

»Du warst also dort? Du hast meinen ruhmreichen Sieg miterlebt?«

Es kostete mich große Anstrengung, die Flut höllischer Geräusche und Bilder zu unterdrücken, die seit jenem Tag meine Träume heimsuchten. »Ja, Herr.«

»Mir scheint, Euer Geschenk ist weit wertvoller, als Euch bewusst war, Fornella.« Er schnippte mit dem Finger, und sein Sekretär hob den Kopf. »Gebt dem Geschichtsschreiber Stift, Pergament und eine Kajüte. Aber keine allzu bequeme, damit er mir nicht einnickt, anstatt seinen zweifellos wortgewaltigen und ergreifenden Bericht über meinen ersten großen Triumph während dieses Feldzugs zu verfassen.«

Er trat wieder dicht an mich heran und lächelte das Lächeln eines Kindes beim Anblick eines neuen Spielzeugs. »Ich möchte ihn morgen früh lesen. Wenn nicht, kostet es dich ein Auge.«

? ? ?

Meine Hände schmerzten und mein Rücken war verspannt, denn der Tisch, den sie mir zur Verfügung gestellt hatten, war viel zu niedrig. Die Ärmel meines Sklavengewands waren von Tintenspritzern übersät, und vor Erschöpfung verschwamm mir die Welt vor den Augen. Noch nie zuvor hatte ich in so kurzer Zeit so viele Worte niedergeschrieben. Pergamentbögen lagen überall in der Kabine verstreut, bedeckt von oft ungelenken Versuchen, die Lüge zu verfertigen, die der General von mir verlangt hatte. Ein ruhmreicher Sieg. Auf dem Schlachtfeld war nichts ruhmreich gewesen. Schmerzensschreie und unbändiges Gemetzel. Der Gestank von Scheiße und Tod. Ruhm? Nicht die Spur. Gewiss wusste der General das, schließlich war die Niederlage des königlichen...