Die verbotene Zeit - Roman

von: Claire Winter

Diana Verlag, 2015

ISBN: 9783641159627 , 592 Seiten

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Die verbotene Zeit - Roman


 

DORA

6

Berlin, Januar 1922

Draußen herrschte klirrende Kälte. Dora wünschte sich, sie hätten sich nicht einfach ohne Schal und Mütze aus dem Haus gestohlen. Doch der Anblick der schneebedeckten Natur – der weißen Wiesen und Bäume, deren Äste sich unter der schweren Last nach unten bogen, sodass man sie fast greifen konnte – ließ sie die Kälte sofort wieder vergessen. Glitzernd lag der sichelförmige Lietzensee vor ihnen. Eine dünne Eisschicht hatte ihn überzogen. Zarte Flocken fielen vom Himmel und tanzten, hier und da durch einen Windstoß getrieben, übermütig durch die Luft, und Dora kam sich vor wie im Märchen.

Sie rannte und hörte neben sich Ediths helles Lachen. »Oh, ist das nicht wundervoll!«

Dora nickte strahlend. Ihr dunkelblondes Haar wehte hinter ihr her. Später würde ihre Mutter ihr eine Predigt halten, da war sie sicher, aber jetzt war sie hier, zusammen mit Edith. Der Schnee stob zu ihren Füßen hoch, und ein Glücksgefühl durchströmte sie. Im Sommer hatte ihre Mutter eine Anstellung im Hause des Papierfabrikanten Theußenberg angenommen, und seitdem wohnten sie im Dienstbotentrakt des Hauses. Der Unternehmer und seine Frau gehörten in der dritten Generation zur besseren Gesellschaft Berlins und lebten im wohlhabenden Charlottenburg in einem eleganten herrschaftlichen Stadthaus, das sich über drei Stockwerke zog und sogar einen eigenen Garten hatte. Die Familie hatte einen Sohn, Carl, der fast erwachsen war, und eine jüngere Tochter, Edith. Seitdem Dora sie das erste Mal gesehen hatte, hatte sie sich nichts mehr erträumt, als dieses Mädchen zu ihrer Freundin zu haben. Sie waren beide im gleichen Alter. Wie oft hatte sie am Fenster gestanden und die andere sehnsüchtig beobachtet – wenn Edith allein durch den Garten lief, mit ihrem großen Bruder Ball spielte oder sich am Abend lachend in die Arme ihres Vaters warf – sie wirkte so frei und unbeschwert.

Ihre Mutter hatte ihre Blicke sehr wohl mitbekommen. »Sie kann nicht deine Freundin sein!«, hatte sie in einem strengen Tonfall erklärt, der keinen Widerspruch duldete. Dora hatte folgsam genickt. Nie hätte sie es gewagt, die Tochter des Hauses von sich aus anzusprechen. Doch was sollte sie tun, wenn Edith es ihrerseits tat? Das Stadthaus war groß, und sie begegneten sich oft. Meistens grüßten sie sich nur, und Dora, die gerne so viel sagen wollte, brachte kaum mehr als ein scheues Lächeln zustande, aber heute war Edith auf einmal überraschend im Flur des Dienstbotentrakts vor ihr aufgetaucht. »Hast du gesehen, es hat geschneit! Kommst du mit nach draußen?«, hatte sie mit leuchtenden Augen gefragt.

Dora hatte gezögert und unwillkürlich zum Hauswirtschaftsraum geschaut, wo ihre Mutter dabei war, Wäsche zu mangeln.

Edith hatte ihren Blick mitbekommen. »Nur kurz. Es wird niemand mitbekommen«, wisperte sie leise, und eh Dora recht zum Nachdenken kam, hatte sie genickt, ihren Mantel gegriffen, und sie waren beide nach draußen gelaufen.

Nun rannten die beiden Mädchen zum Ufer hinunter. Ihre Wangen hatten sich gerötet, und ihre Mäntel flatterten beim Laufen um ihre Beine, während der feine Schnee wie Puderzucker zu ihren Füßen aufstob. Edith griff ihre Hand.

»Schau, der See ist schon zugefroren!«

Einen Moment hielten die beiden Mädchen atemlos inne und beobachteten, wie eine Katze über den einsamen See spazierte und eine zarte Spur ihrer Pfoten hinterließ.

»Komm!« Edith zog sie weiter mit sich.

Doch Dora blieb stehen. »Das Eis ist bestimmt noch nicht fest genug!«

»Ach wo, es ist schon seit Tagen kalt, und wir sind doch ganz leicht!«, gab Edith mit einem unbekümmerten Lachen zur Antwort.

Dora kam sich feige vor. Ihr Glücksgefühl bekam einen feinen Riss, aber sie blieb stehen, während Edith schon ohne sie weiterrannte, hinaus auf den See.

»Wovor ist dir so bange? Sieh, es ist ganz fest!« Übermütig drehte Edith sich mit ausgebreiteten Armen um die eigene Achse. Wieder und wieder. Ihre dunklen Locken flogen im Wind. Einen Moment lang war Dora voller Neid und Bewunderung, weil Edith so frei war und keine Angst zu kennen schien. Dora wünschte, sie hätte sein können wie sie.

Dann hörte sie ein Geräusch – als würde jemand auf einen riesigen Berg von Glas treten. Ein erschrockenes Gesicht blickte sie vom Eis aus an, und ein lautes, bedrohliches Knirschen ertönte, bevor Dora nur noch voller Entsetzen sah, wie Edith mit einem angsterfüllten Aufschrei einbrach und unter Wasser verschwand.

»Edith!« Doras gellender Schrei hallte über den einsamen Lietzensee.

Eine Hand tauchte aus dem Wasser auf. »Hilfe!« Verzweifelt ruderte Edith mit den Armen, ihr Kopf geriet für einen kurzen Moment erneut unter Wasser, bevor sie nach Luft schnappend wieder auftauchte. Sie versuchte, die Kante des Eises zu fassen, die unter ihrem Gewicht wegbrach und sie ein weiteres Mal untergehen ließ.

Panisch schlug sie im Wasser um sich.

Dora sah sich voller Angst um, nirgends war eine Menschenseele. Hilfe zu holen würde zu lange dauern.

»Warte, ich komme!« Dora entsann sich, dass ihr Bruder nach einem Treffen seiner Pfadfindergruppe einmal erzählt hatte, man könne jemandem, der im Eis eingebrochen war, nur helfen, wenn man sein Körpergewicht verteile, und müsse sich selbst dafür flach auf die Eisfläche legen. Sie brauchte etwas, an dem Edith sich festhalten konnte … Ihr umherirrender Blick blieb an einem langen Ast hängen. Sie griff ihn und war mit schnellen Schritten auf dem See. Dann lag sie auch schon auf dem Eis und robbte sich zu der Einbruchstelle heran, den Ast vor sich. In ihrer Angst spürte sie nicht einmal die Kälte.

Sie sah die Panik in Ediths Gesicht, die immer wieder hustend Wasser schluckte und unterging.

Wie tief mochte der See sein? Ihr Bruder hatte auch gesagt, es sei das Gefährlichste, wenn man unter die Eisfläche geriet. Sie schauderte bei dem Gedanken. »Du musst nach dem Ast greifen!«

Ediths Augen suchten sie, ihre Hand griff nach dem Holz, doch ihre klammen Finger rutschten daran ab.

Eine unbeschreibliche Furcht ergriff Dora. »Versuch es noch mal. Du musst dich ganz doll festhalten. Du schaffst das!«

Endlich bekam Edith den Ast erneut zu fassen, und diesmal gelang es ihr, sich daran zu klammern.

»Ich halte dich fest. Du musst dich weiter hochziehen!«

»Mein Mantel. Er ist so schwer«, stieß Edith hervor, aber es gelang ihr keuchend, ein Stück weiter hochzukommen. Ihre Schultern kamen aus dem Wasser. Dora musste am anderen Ende ihr ganzes Gewicht dagegenstemmen und geriet trotzdem ins Rutschen. Doch schließlich schaffte Edith es, sich mit dem Oberkörper weiter aus dem Eisloch zu ziehen. Sie stützte sich mit der einen Hand an der Eiskante ab, die erneut gefährlich knackte, aber jetzt hielt, weil sie flach lag. Voller Erleichterung sah Dora, dass Edith ihren Rumpf weiter aufs Eis hieven konnte, während sie selbst sich gleichzeitig bemühte, rückwärts zu robben und den Ast mit sich zu ziehen. Es war schwer, aber die Schneedecke kam ihr glücklicherweise zu Hilfe. Edith rutschte in ihre Richtung. Dora zog weiter, und Edith kroch mit letzter Kraft auf sie zu. Ihre Lippen waren ganz blau. Endlich konnte Dora ihre Hand greifen.

»Kannst du laufen?«, fragte sie, als sie Augenblicke später am Ufer waren. Edith nickte mit klappernden Zähnen. Sie sah furchtbar aus. Dora versuchte, sich ihre Sorge nicht anmerken zu lassen, und half ihr, den Mantel auszuziehen. Dann legte sie ihr den ihren um die Schultern. »Komm. Ich bring dich schnell heim.«

7

»Wie kannst du, ohne mich zu fragen, das Haus verlassen? Noch dazu mit dem Fräulein!« Anna Wilmer, Doras Mutter, war außer sich über das Verhalten ihrer Tochter. Ihre Nerven lagen blank. Es war schwierig genug, zwei Kinder allein großzuziehen, wenn man den ganzen Tag arbeiten musste. Der Junge, Wilhelm, hatte Gott sei Dank gerade eine Lehre begonnen, doch Dora war mit ihren elf Jahren nach der Schule oft sich selbst überlassen. Nun sah man, wo das hinführte!

»Wir wollten doch nur kurz raus …«

»Und was ist dabei rausgekommen? Fräulein Edith ist beinah ertrunken!« Eine schallende Ohrfeige traf Doras Wange. Tränen schossen dem Mädchen in die Augen. Ihr Gesicht brannte.

»Frau Wilmer, nicht!«, ertönte eine sanfte Stimme.

Frau Theußenberg war in der Tür zur Küche aufgetaucht. Die Köchin und die Küchenhilfe, die den Streit aus dem Hintergrund unbeeindruckt verfolgt hatten, hielten unwillkürlich in ihrer Arbeit inne. In ihrem eleganten wadenlangen Kleid, den sorgfältig hochgesteckten Haaren und funkelnden Diamanten an ihren Ohren hätte der Gegensatz zwischen der Hausherrin und dem Personal kaum größer sein können. Doras Augen blieben an den schmalen Händen hängen. Frau Theußenberg war Pianistin und hatte vor der Geburt ihrer Kinder sogar Konzerte gegeben, wie ihr Josef, der Chauffeur, erzählt hatte. Wenn sie oben in der Beletage spielte, lauschten selbst die Dienstboten unten gebannt ihrer Musik.

»Dora trifft keine Schuld, Frau Wilmer!«, sagte Frau Theußenberg jetzt freundlich, aber bestimmt. »Edith hat sie überredet, mit ihr hinauszugehen. Wir sind ihr sehr dankbar! Edith hat uns erzählt, was passiert ist. Ohne deine Hilfe wäre sie nie aus dem Eisloch herausgekommen«, sagte sie und wandte bei...