Das Lied des Blutes - Rabenschatten 1

von: Anthony Ryan

Klett-Cotta, 2014

ISBN: 9783608107524 , 784 Seiten

6. Auflage

Format: ePUB

Kopierschutz: Wasserzeichen

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Preis: 9,99 EUR

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Das Lied des Blutes - Rabenschatten 1


 

ERSTES KAPITEL


An jenem Morgen, als Vaelins Vater ihn zum Haus des sechsten Ordens brachte, lag der Nebel in dichten Schwaden über dem Land. Vaelin saß vergnügt vorne im Sattel und hielt sich am Knauf fest. Sein Vater nahm ihn nur selten auf einen Ausritt mit.

»Wohin reiten wir, Herr?«, hatte er gefragt, als sein Vater ihn zum Stall führte.

Der hochgewachsene Mann hatte ihm keine Antwort gegeben, doch er hatte einen Augenblick gezögert, bevor er eines seiner Streitrosse sattelte. Dass Vaelins Vater auf eine Frage hin schwieg, war nichts Ungewöhnliches, und der Junge hatte sich nichts weiter dabei gedacht.

Sie ritten fort vom Haus; die Hufeisen des Streitrosses klapperten über das Kopfsteinpflaster. Nach einer Weile durchquerten sie das Nordtor, wo die Leichen in Käfigen von der Stadtmauer herabhingen und üblen Verwesungsgestank verbreiteten. Vaelin hatte gelernt, nicht danach zu fragen, was die nun Toten einst getan hatten, um eine solche Strafe verdient zu haben; es war eine der wenigen Fragen, auf die sein Vater stets bereitwillig antwortete. Und die Geschichten, die er erzählte, ließen Vaelin nachts wach liegen und bei jedem Geräusch vor dem Fenster leise wimmern, aus Furcht vor Dieben, Aufständischen oder Leugnern, die vom Dunklen besessen waren.

Das Kopfsteinpflaster ging alsbald in die Wiesen jenseits der Stadtmauer über. Sein Vater trieb das Streitross zum Trab und schließlich zum Galopp an, und Vaelin lachte vor Aufregung. Einen Moment lang schämte er sich seiner Freude. Seine Mutter war vor zwei Monaten gestorben, und die Trauer seines Vaters lag wie eine dunkle Wolke über dem gesamten Haus, flößte den Dienern Angst ein und hielt Besucher fern. Aber Vaelin war erst zehn Jahre alt und betrachtete den Tod mit den Augen eines Kindes: Natürlich vermisste er seine Mutter, aber ihr Fortgehen war für ihn ein Rätsel, das eigentliche Geheimnis der Erwachsenenwelt. Obwohl auch er manchmal weinte, wusste er im Grunde gar nicht so recht, weshalb, und weiterhin stahl er dem Koch Pasteten und spielte mit seinen Holzschwertern im Hof wie eh und je.

Sie galoppierten ein Stück, bis sein Vater das Pferd zügelte. Vaelin war ein wenig enttäuscht – er hätte noch ewig so weiterreiten können. Sie hielten vor einem großen Eisentor an. Die Gitterstäbe des Tors besaßen dreifache Mannesgröße und endeten in spitzen Zacken. Oben auf dem Torbogen erhob sich eine eiserne Figur, ein Krieger, der das Schwert mit der Spitze nach unten vor der Brust hielt, sein Gesicht war das eines eingefallenen Totenschädels. Die Mauern zu beiden Seiten waren beinahe so hoch wie das Tor. Linker Hand hing an einem hölzernen Balken eine Messingglocke.

Vaelins Vater stieg ab und hob den Jungen aus dem Sattel.

»Was ist das für ein Ort?«, fragte Vaelin. Seine Stimme klang unwirklich laut, obwohl er im Flüsterton sprach. Die Stille und der Nebel waren ihm unheimlich; das Tor und die Figur darauf gefielen ihm nicht. Mit kindlicher Gewissheit wusste er, dass die leeren Augenhöhlen nur eine Täuschung waren. Die Figur beobachtete sie abwartend.

Sein Vater antwortete nicht, sondern ging zu der Glocke, zog seinen Dolch aus dem Gürtel und schlug mit dem Knauf dagegen. Das Läuten der Glocke durchbrach schrill die Stille. Vaelin legte sich die Hände auf die Ohren, bis das Geräusch verklungen war. Als er hochschaute, sah er seinen Vater über sich aufragen.

»Vaelin«, sagte dieser mit der rauhen Stimme eines Kriegers. »Erinnerst du dich noch an den Leitspruch, den ich dich gelehrt habe? Den Grundsatz unserer Familie?«

»Ja, Vater.«

»Wie lautet er?«

»Loyalität ist unsere Stärke.«

»Ja. Loyalität ist unsere Stärke. Denk immer daran, dass du mein Sohn bist und auf meinen Wunsch hier weilst. An diesem Ort wirst du viele Dinge lernen, du wirst ein Bruder des sechsten Ordens werden. Aber du wirst immer mein Sohn bleiben und meinen Weisungen folgen.«

Hinter dem Tor war ein Knirschen zu hören, und Vaelin erschrak, als er auf der anderen Seite des Gitters eine hochgewachsene, in einen Umhang gehüllte Gestalt bemerkte. Der Mann hatte auf sie gewartet. Sein Gesicht blieb im Nebel verborgen, doch Vaelin hatte das unangenehme Gefühl, eingehend gemustert zu werden. Er schaute zu seinem Vater hoch und sah einen großen Mann mit markanten Zügen, einem angegrauten Bart und tiefen Falten im Gesicht. In seiner Miene lag etwas, das Vaelin noch nie zuvor gesehen hatte und das er nicht benennen konnte. In späteren Jahren würde er es in den Gesichtern Tausender Männer sehen, und es würde ihm nur allzu vertraut werden: Furcht. Ihm fiel auf, dass die Augen seines Vaters ungewöhnlich dunkel waren, viel dunkler als die seiner Mutter. Sein ganzes Leben lang sollte er ihn so in Erinnerung behalten. Für andere war er der Kriegsherr, das erste Schwert des Königs, der Held von Beltrian, Retter des Königs und Vater eines berühmten Sohnes. Für Vaelin würde er immer jener von Furcht erfüllte Mann sein, der seinen Sohn am Tor des Hauses des sechsten Ordens abgab.

Er spürte die große Hand seines Vaters in seinem Rücken. »Geh jetzt, Vaelin. Geh zu ihm. Er wird dir nichts tun.«

Lügner!, dachte Vaelin wütend. Seine Füße schlurften über den Boden, während sein Vater ihn auf das Tor zuschob. Das Gesicht der verhüllten Gestalt löste sich aus dem Nebel; sie besaß lange, hagere Züge mit dünnen Lippen und blassblauen Augen. Vaelin konnte den Blick nicht von diesen Augen abwenden. Und der Mann mit dem hageren Gesicht erwiderte seinen Blick, ohne seinen Vater anzusehen.

»Wie lautet dein Name, Junge?« Der Mann sprach leise, wie ein Seufzen im Nebel.

Warum Vaelins eigene Stimme so ruhig klang, sollte ihm auf ewig ein Rätsel bleiben. »Vaelin, Euer Lordschaft. Vaelin Al Sorna.«

Die dünnen Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. »Ich bin kein Lord, Junge. Ich bin Gainyl Arlyn, Aspekt des sechsten Ordens.«

Vaelin entsann sich der vielen Anstandsregeln, die seine Mutter ihm beigebracht hatte. »Verzeihung, Aspekt.«

Hinter sich hörte er ein Schnauben. Vaelin drehte sich um und sah seinen Vater davonreiten; sein Streitross wurde rasch vom Nebel verschluckt, das Trommeln der Hufe auf der weichen Erde verklang.

»Er wird nicht zurückkehren, Vaelin«, sagte der Mann mit dem langen Gesicht, der Aspekt. Sein Lächeln war verschwunden. »Weißt du, warum er dich hierhergebracht hat?«

»Um viele Dinge zu lernen und ein Bruder des sechsten Ordens zu werden.«

»Ja. Aber niemand tritt dem Orden gegen seinen Willen bei, sei er nun ein Junge oder ein erwachsener Mann.«

Vaelin verspürte den plötzlichen Drang zu fliehen, in den Nebel zu entkommen. Er würde davonlaufen und sich einer Bande Gesetzloser anschließen; er würde im Wald wohnen, die tollsten Abenteuer erleben und vorgeben, ein Waisenjunge zu sein Loyalität ist unsere Stärke.

Der Aspekt musterte ihn mit ausdruckslosem Blick, aber Vaelin wusste, dass er jeden Gedanken in seinem Kopf lesen konnte. Später würde er sich fragen, wie viele Jungen, die von verräterischen Vätern hierhergebracht worden waren, tatsächlich weggelaufen waren, und ob sie es jemals bereut hatten. Loyalität ist unsere Stärke.

»Ich möchte beitreten«, sagte er dem Aspekt. In seinen Augen standen Tränen, aber er blinzelte sie fort. »Ich möchte viele Dinge lernen.«

Der Aspekt streckte die Hand aus, um das Tor zu entriegeln. Vaelin bemerkte, dass seine Hände von Narben übersät waren. Als das Tor aufschwang, winkte er Vaelin hinein. »Komm, kleiner Falke. Du bist jetzt unser Bruder.«

? ? ?

Vaelin wurde schnell klar, dass das Haus des sechsten Ordens weniger ein Haus als vielmehr eine Festung war. Granitmauern ragten wie Klippen über ihm auf, während der Aspekt ihn zum Haupttor führte. Dunkle Gestalten patrouillierten, Langbögen in den Händen haltend, auf den Mauerzinnen und blickten mit leeren, nebelverschleierten Augen zu ihm hinab. Der Eingang war ein gewölbter Torbogen. Das Fallgitter war für sie hochgezogen worden, und die beiden Speerträger, die davor Wache hielten – fortgeschrittene Schüler von etwa siebzehn Jahren –, verbeugten sich ehrerbietig, als der Aspekt an ihnen vorbeiging. Er würdigte sie kaum eines Blickes und führte Vaelin über den Innenhof, wo andere Schüler das Stroh von den Pflastersteinen fegten und aus einer Schmiedewerkstatt das Klirren von Hämmern auf Metall ertönte. Burgen waren für Vaelin nichts Neues – seine Eltern hatten ihn einst in den Palast des Königs mitgenommen, wo er, angetan mit seinen besten Kleidern und zappelnd vor Langeweile, einer endlosen Rede des Aspekten des ersten Ordens über die Großherzigkeit des Königs gelauscht hatte. Doch der Palast war ein hell erleuchtetes Labyrinth gewesen, voller Statuen, Wandbehänge, sauber poliertem Marmor und Soldaten mit Brustharnischen, in denen man sich spiegeln konnte. Im Königspalast roch es nicht nach Mist und Rauch. Dort gab es keine schattigen Durchgänge, die dunkle Geheimnisse bargen, von denen ein Junge nichts wissen sollte.

»Erzähle mir, was du über unseren Orden weißt, Vaelin«, wies der Aspekt ihn an, während er ihn zum Burgfried führte.

Vaelin gab wieder, was er von seiner Mutter gelernt hatte: »Der sechste Orden führt das Schwert der Gerechtigkeit und zerschmettert die Feinde des Glaubens und der Königslande.«

»Sehr gut.« Der Aspekt klang überrascht. »Du hast eine ausgezeichnete Bildung genossen. Aber was tun wir, was die...